Lehrerpräsident Josef Kraus warnt vor Helikoptereltern, die ihre Kinder ständig aus der Luft überwachen. Bekenntnisse eines Vaters, der sich weiter Sorgen um seine Söhne machen will – und muss: Weil das Bildungssystem verantwortungslos ist

VON CHRISTIAN FÜLLER

Letzthin war es wieder soweit. Eine überbesorgte Mama jagte einen Elternabend in die Luft. Zwei Lehrerinnen hatten sich ein fantastisches Projekt für die 6c ausgedacht. Die Kinder sollte Antike nicht aus dem Geschichtsbuch lernen, sondern direkt im Alten Museum. Live, vor Ort, im Original. Sie sollten griechische Skulpturen und Vasen selbst besuchen, anschauen, abmalen, studieren – und darüber ein kleines Buch verfassen. Die Lehrerinnen hatten alle KollegInnen gewonnen, den Stundenplan für eine ganze Woche auszusetzen. Für das große Projekt „Besuch im Alten Museum“.

Ach, Lernen, auch von der Schule organisiert, kann so toll sein!

Könnte so toll sein.

Denn niemand hatte „Mutti-immerbesorgt“ auf dem Zettel. „Ich weiss nicht, ob das geht“, sagte die Frau nervös. „in diesem Museum sind die griechischen Götter ja alle nackt. Ich möchte meine Tochter aber nicht schon als Elfjährige mit Quasi-Pornografie konfrontieren.“

Einen Museumsbesuch wegen Pornografie absagen? Darauf können im Zeitalter von Youporn nur verwirrte Eltern kommen, sehr verwirrte Eltern.

An diese observierende Spezies denkt Josef Kraus wahrscheinlich, wenn er den unstillbaren Drang heutiger Eltern beklagt, ihre Liebsten fürsorglich zu belagern. Und er hat ja Recht. Ich wäre, nach beinahe zehnjähriger Folter auf Elternabenden, der letzte, der überbetüttelnde Muttis und karrieregeile Vatis nicht allzu gerne auf die Couch schicken würde.

Aber, mal ehrlich. Von wie vielen Fälle sprechen wir da eigentlich? Lehrer-Präsident Kraus zitiert gerne jene Mutter, die zuhause allzeit bereit ist. Die wie eine Unfallärztin vor dem Pieper wartet, dass ein Notruf der Tochter eingeht. Die ein bisschen wie Barack Obama und seine NSA das eigene Kind per Handyortung permanent im Auge hat. Und ihrer Tochter – so das Krause Beispiel – eine neue Wasserflasche in die Schule fährt.

Dieses Exempel trifft nicht auf die Mehrheit der Eltern zu, nicht mal auf eine Minderheit. Es ist ein Einzelfall. Auch jene Eltern, die ihre Kinder an einem Nachmittag zum Reiten, Klavierspielen und Chinesisch-Lernen kutschieren, gibt es kaum. Eine Übertreibung der Medien.

Aber es gibt andere Fälle, und das sind viele.

Der 14jährige Pierre etwa ist ein ganz normaler Fall. Er hatte sich in einem Gymnasium im Hessischen ein halbes Jahr lang auf eine drei in Deutsch vorgeschuftet. Dann wechselte der Rektor für die feinfühlige Germanistin einen Grobian von Referendar ein. Der schert sich keine Deut‘ um Pierres Lernfortschritte – und hat ihn mit zwei überstrengen Fünfen beinahe aus der 10. Klasse geprüft. Die armen Eltern sind, weil’s ein staatliche Schule ist, gezwungen tatenlos zuzuschauen, wie ihr Sohnemann untergeht. Klassisches Gymnasium. Alltag in Deutschland.

In der Reformschule läuft es oft nicht besser. Jüngst wollte ich wissen, warum mein Filius eine Lerneinheit, gleichfalls Deutsch, abgebrochen hatte. Wochenlang kasteite ich mich selbst. „Darf ich mich erkundigen, was er nicht lernen mag?“ fragte ich. „Aber wer, wenn nicht ich? Ich bin der Erziehungsberechtigte!“ Also trat ich selbst den Gang in die Schule an. An meiner Seite der fröhliche Sohnemann. Wir trafen auf eine Deutschlehrerin, die sofort ein mitleidheischendes Gesicht machte. „Aber klar, Richard, diese Deutschlektion musst du nicht machen, die ist wirklich unbequem, die können wir doch schieben!“ Sagte es und blickte den Burschen gütig an.

Eltern: eingeklemmt zwischen stinknormaler und Reformschule. Die Lehrer kümmern sich stur um ihren Lehrplan. Oder ihre reformpädagogische Ideologie „Jedes-Kind-WILL-SELBST-lernen“. Um das Kind kümmern sich in beiden Fällen – die Eltern.

Im bayerischen Schweinfurt bombardieren Eltern wochenlang Schulleitung und -behörden mit Warnmails. Niemand kümmert sich – ein ganzer Jahrgang rasselt durchs Abitur. Überall in Deutschlands Dörfern werden Schule geschlossen, weil die Schülerzahlen bröckeln. Die Eltern schimpfen – und verwandeln sich danach in Kinderfahrdienste.

Ich muss meinen Siebtklässler nicht am ersten Tag am Händchen in die neue Schule führen. Aber trotzdem freue ich mich, wenn er mir ein SMS schickt, „Papi, just arrived in Fort Knox!“ Ich werde selbstverständlich die Lehrer nicht anrufen, die den Schulausflug begleiten, nur weil ein Hagelschauer auf Wurfzelte für 20 Kinder nieder geht. Aber ich erlaube mir dennoch Sorgen zu machen. Ich bin eben nicht gerne tatenlos, bis das Radio ein abgesoffenes Klassenzeltlager verkündet.

Man kann als Vater erwarten, dass nach einem schweren Unwetter ein als Kontaktpartner eingeteilter Elternteil ein „Alles-OK-SMS“ zum Rundverteilen bekommt. Wenn die Definition von Helikoptereltern darin besteht, dass man als Vater gegen ein SMS-Verbot vom dreiwöchigen Klassenausflug rebelliert, dann sei´s drum: Dann bin ich der Leibwächter meines Sohnes. Und das ist auch gut so. Denn es ist Teil meines Jobs als Vater.

Das alles sind keine Anekdoten eines Hypernervösen, sondern der ganze normale Schulwahnsinn. Erinnern wir uns an die größten Schrecken Schulpolitik: Nach dem verhauten ersten Pisa-Test schworen die Kultusminister, die Schulformen nicht anzurühren – heute haben wir statt vier weiter führender Schulen sagenhafte 14 an der Zahl. Die deutsche Schule trägt den Namen Babylon. Die beiden höchsten Bildungsminister der Republik, Herr Althusmann und Frau Schavan, taumelten monatelang ohne gültige Doktorarbeit durch die Gegend – aber zweimal eine Zehntel Note über der 4,5 heißt für Schüler unwiderruflich: Sitzenbleiben.

Der Normalfall Schule in Deutschland ist der Ausnahmezustand. Den nehmen Eltern nicht mehr wortlos hin. In Umfragen halten zwei Drittel Schule für ein vollkommen veraltetes System. Neun von zehn Eltern lehnen den Bildungsföderalismus rundweg ab, immerhin der herrschende Verfassungsgrundsatz für das Schulwesen. Mit anderen Worten: Das Vertrauen der Eltern ist zerstört. Restlos.

Sicher, es gibt die pisageschockten Eltern, die „nicht-ohne-meinen-Anwalt“-Väter, die Bereitschafts-Muttis. Aber wenn wir genau hinsehen, dann verstehen wir die Nervosität der Mittelschicht.

Es sind Bürger, die wissen, dass der Status von Beruf und Bankkonto genau wie der Haus- und Autokredit durchaus vergängliche Dinge sind. Was für sie zählt ist ein klassischer Wert, seit das Bürgertum sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erfinden begann: Bildung. Der Staat hat diese Bildungsbürger stets unterstützt. Er hat ihnen mit dem Gymnasium sogar eine eigene exklusive Lehranstalt errichtet. Darauf konnte sich Klein- und Großbürger stets verlassen und ihre Kinder getrost Richtung Hochschule und Beamtenlaufbahn schicken.

Heute können sich Eltern auf gar nichts mehr verlassen. Der Fahrstuhl nach oben klemmt. Pisa und alle Folgestudien zeigen das eindrucksvoll. Der Staat hat mit der sinnfreien Einführung des Turboabiturs sogar die Axt an die Schule des Bürgertums gelegt. Das Gymnasium ist klinisch tot. Also müssen die Eltern selbst Verantwortung übernehmen: Die explosionsartig steigenden Ausgaben für Nachhilfe und Privatschulen sind ein Zeugnis davon.

Wir leben in einer Zeit des Übergangs. Klassenzimmer sehen noch fast genauso aus wie die aus dem 19. Jahrhundert, von Rohrstock und Tintenfässchen abgesehen. Unsere Kinder befragen derweil überall die sündhaft teuren und schnellen Smartfones, die sie in ihren Hosentaschen tragen, nach Informationen aller Art. Nur in der Schule müssen sie die Wissensmaschinen des 21. Jahrhunderts abschalten. Und dazu sollen die – zurecht – nervösen Eltern schweigen?

Josef Kraus nennt die Väter und Mütter, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, Helikoptereltern. In meinen Augen sind sie etwas anderes: Verantwortungsbewusste Erziehungsberechtigte, die bereit sind, ihre Kinder der staatlichen Schule wegzunehmen – notfalls mit dem Rettungshubschrauber.