Seit Semesterbeginn pilgern Lehramtsstudierende freitags in die Klassenzimmer der Lausitz – um Lehrkräfte zu entlasten. Die für die Region entworfene Praxisphase soll jetzt ganz Sachsen erobern. Ohne die drei MacherInnen aus Görlitz hätte das nicht geklappt
Die Lausitz war jahrhundertelang Exporteur von Produkten (Textil) und Energie (Kohle, Strom). Nun wird erstmals eine Innovation über die Grenzen getragen. Die neuartige Lausitzer Lehrprobe ist so erfolgreich, dass jetzt Schulen in ganz Sachsen die angehenden Lehrkräfte in ihre Klassenzimmer holen wollen. Dabei lernen immer freitags Gruppen von Studierenden mit SchülerInnen. Zu verdanken ist dies drei Veränderern: dem Antreiber, der Fachfrau und dem Regelbruch-Ermöglicher.
Die Fachfrau
Dass Anke Langner eine umtriebige Pädagogin ist wusste man. Die Professorin für Inklusions- Pädagogik hat die Dresdner Universitäts-Schule erfunden, wo Noten Nebensache sind. Sie wird dort bald KI-gestütztes Online-Lernen testen. Ihre Schule gilt als Reallabor für Lernreformen. Seit Schuljahresbeginn schickt Langner 45 Studierende aus Dresden einmal pro Woche in Lausitzer Schulen. Sie sollen dort schon früh im Studium auf Schüler treffen – und Unterrichtsausfall bekämpfen.
Der Antreiber
Die Idee für frühe Lehrerfahrung kommt allerdings nicht von Langner, sondern direkt aus der Region. Ein Apotheker aus einer Lehrerfamilie ließ einfach nicht locker. „Ich hatte nicht die Intention, das Lehramtsstudium zu verändern, sondern ich wollte ein Problem lösen“, sagt er der Neuen Lausitz. Das Problem ist der dramatische Lehrermangel, der in Lausitzer Klassenzimmern größer als in Dresden, Leipzig oder dem Rest der Bildungsrepublik ist. Und er, das ist Ronald Lindecke, ein Apotheker aus Görlitz, der so kreativ wie energisch den Kreiselternrat führt. Der 55jährige ist ein Typ, dem Zuständigkeiten egal sind. „Wir verlieren in den nächsten zehn Jahren zwei von drei LehrerInnen in die Rente“, warnt Lindecke.
„Wir wollten nicht mehr jammern und klagen, sondern Lösungen anbieten.“
Roland Lindecke
Einen Teil der Lösung hat er mit Anke Langner vorbereitet: jeden Freitag fahren Studierende der TU Dresden in die Schulen nach Görlitz, Zittau, Neusalza-Spremberg und Löbau. Die künftigen Lehrkräfte stehen zu viert in einem Klassenraum und betreuen SchülerInnen: sie fördern sie individuell – und lernen dabei, was es heißt, verantwortliche Lehrkraft zu sein.
Die Studierenden
Marla Arndt ist eine von ihnen. Sie wird einmal Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Sie war in der Pilot-Gruppe, die im Sommer in Weißwasser und in Zittau an der Richard-von-Schlieben-Oberschule das Junglehrer-Projekt testete. „Es ist nicht so, dass wir Studierende der Lehrkraft nur über die Schulter schauen“, erzählt die 21jährige. „Wir leiten wirklich den ganzen Tag mit unseren Schülern.“ Gleichzeitig sollen die Studierenden nicht überfordert werden.

Das ist nämlich bundesweit die Kritik daran, Studenten zu früh ans Pult zu stellen. Im Lausitzer „alternativen Lehramtspraktikum“ geht das schrittweise – und begleitet von Lehrbeauftragten. Zuerst betreuen die Studierenden die Schüler ihrer Lerngruppe. Dabei werden sie von Professorin Langner und Lehrkräften der Schule kollegial beraten. Und dann kommt der große Augenblick.
„Ich würde mir das zutrauen“
Studentin im Klassenzimmer
„Ich habe im Moment noch nicht das Fachwissen, um eine ganze Schulstunde alleine zu halten“, sagt Dritt-Semestlerin Arndt. Wenn sie im Laufe des Projekts Erfahrungen gesammelt habe, dann wäre es sicherlich möglich, allein vor der Klasse zu stehen. „Ich würde mir das dann auch zutrauen.“ Die neue Lausitzer Lehrprobe unterscheidet sich damit deutlich von den Praxis-Irrungen-und-Wirrungen im Rest der Republik: in manchen Bundesländern kommen Studierende viel zu spät ins Klassenzimmer – und erkennen häufig erst dann, dass sie vielleicht gar nicht zum Lehrer taugen. In anderen Ländern wiederum werden Lehramts-Studierende zu schnell ins kalte Wasser geworfen – und stehen allein vor der Klasse. Langners Lausitzer Lehrproben gehen den Mittelweg: so schnell wie möglich Kontakt zu Schülern, aber eng von Seminarlehrern begleitet.
Die Transformation
Die Entstehung der Lausitzer Lehrprobe ist zugleich ein Lehrstück über die verschlungenen Wege der Transformation. Apotheker Lindecke hat wie Sisyphos alle Beteiligten herbeigeschafft. Er sprach die Schulleiter aus der Region an. Er warb den TÜV Süd und eines der Wissenschafts-Schwergewichte der Region, das Görlitzer Casus-Institut für komplexe Systemforschung, als Unterstützer. Der Apotheker verfasste sogar eigenhändig ein zehn Seiten langes Curriculum. Schließlich sorgte er dafür, dass Michael Kretschmer dem Projekt den entscheidenden Schubs gab; die beteiligten Verwaltungen drohten im Dienst nach Vorschrift stecken zu bleiben.
Der MP öffnet die Tür zum Hörsaal für uns
Ohne Ronald Lindecke als Mutter der Kompanie wäre das Projekt nie zustande gekommen. „Wir wollen künftige Lehrer schon früh im Studium in unsere Region holen“, nennt er sein Motiv. „Und wir hoffen natürlich, dass sie mittelfristig mithelfen, die Region über Wasser zu halten“. Sabrina Hälschke, Schulleiterin der Zittauer Schlieben-Oberschule weiß, dass das so einfach nicht gehen wird.

Hälschke ist schon froh, dass sie mit den Studierenden wenigstens in ihren fünften Klassen die größten Löcher stopfen kann. Sonst müsste sie die ganze Jahrgangsstufe freitags nach Hause schicken. Die Schulleiterin will für die Praktikanten freitags stets ansprechbar sein. „Ich möchte, dass diese Studierenden wissen: hier an der Schlieben-Schule habe ich einen Anker, hier kann ich mein Referendariat machen – und vielleicht bleiben“, sagt sie Neue Lausitz.
Der Regelbruch-Ermöglicher
Lindeckes Bewunderung für die Staatsregierung ist solala. „Wenn das Ministerium seinen Job in den letzten zehn Jahren besser gemacht hätte, dann hätten wir das Problem Lehrermangel heute nicht“, sagt er einerseits. Andererseits ahnte er, dass er auf den immer auch unkonventionellen Kretschmer zählen konnte. „Der Ministerpräsident hat praktisch den Hörsaal für uns geöffnet“, schwärmt Lindecke. „Seine Intervention vier Wochen vor Semesterende hat uns sehr geholfen.“ Auf Deutsch: ohne den Kick und den Segen des Landesfürsten hätte das Projekt gar nicht begonnen. Wenn man so will, haben sich mit Lindecke, Langner und Kretschmer drei vorschriftenmüde Macher getroffen. Dass sie alle drei gebürtig aus Görlitz kommen, ist ein hübscher Zufall.
„Man muss SchülerInnen begeistern“
Thomas D. Kühne, CASUS
Vor Ort, in Görlitz, steigt nun auch das „Center for Advanced Systems Understanding“ mit ein. Bisher boten seine Mitarbeiter Hackerevents für Görlitzer Schulen an. Jetzt unterstützt das Casus den wöchentlichen fliegenden Wechsel Dresdner Studis in die Lausitz. „Unsere Angestellten kommen aus mehr als 20 Ländern. Dieses internationale Flair macht das Casus aus“, betont Direktor Thomas D. Kühne. Seine aus der Lausitz stammenden Doktoranden seien stolz auf die Perspektiven, die das 100-Mitarbeiter-Institut in die Region trägt. „Dazu muss man zunächst für das Thema begeistern und damit kann man eigentlich nicht früh genug anfangen.“
Roland Lindecke gibt natürlich immer noch keine Ruhe. Er will nicht nur das mehr als vier Schulen in der Lausitz von den Studierenden profitieren. Er hat sich als Landeselternrats-Vorsitzender auch mit den Schulen im Rest Sachsens zusammen getan. Und so wollen die nun erreichen, was seit 20 Jahren im komplexen deutschen Zuständigkeitswesen für Lehrerbildung nicht gelingt: Studierende sehr früh im Studium erste Erfahrungen im Direktkontakt mit Schülerinnen und Schülern machen können. Und sie dabei eng zu begleiten.
