Die größte und beste Moodle-Lernwolke Deutschlands stürzt ab – und lässt Hunderttausende Schüler im Bildungsmusterland Bayern im Stich. Microsoft reibt sich die Hände
Von Christian Füller (aktualisierter Beitrag, erschien zunächst in gekürzter Form in Tagesspiegel Background Digitalisierung und KI)
Als Anfang Dezember Millionen von Schülern nach Hause geschickt wurden, war das die Bewährungsprobe für die Lernmanagementsysteme (LMS) der Bildungsrepublik. Sie mussten nun den digitalen Kontakt zwischen Schülern und Lehrern herstellen – also das, was im März so furchtbar in die Hose gegangen war. Es kam, wie erwartet, auch im Dezember wieder zu Ausfällen. Überall im Land wackelten die Leitungen – aber Witz weniger als im Frühjahr. Im Norden des Landes kriselte das Lernmanagementsystem „itslearning“. Im Osten verweigerten Berlins „Lernraum“ und „Lernsax“ in Sachsen kurzzeitig den Dienst, auch Thüringens „Schulcloud“ flimmerte. In Bayern allerdings zeigte die Plattform „Mebis“ den Nutzern gleich tagelang die Fehlermeldung: „Aktuell sind alle vorhandenen Ressourcen ausgelastet.“ Meistens zwischen acht und zehn Uhr war die Plafform nicht erreichbar – und das obwohl Mebis’ Serverkapazitäten deutlich erhöht worden waren. Es kam zum Koalitionskrach. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hätte am liebsten seinen irrlichternden Kultusminister Michael Piazolo entlassen – der aber den Freien Wählern angehört.
Mebis oder offiziell „Medien-Bildung-Service“ ist die zentrale bayerische Lernplattform inklusive Online-Mediathek – und die beste Moodle-Plattform deutscher Schulen. Nur stürzt ihr tagelanger Kollaps den Pisa-Primus in eine Krise: Bayerns Schulen stehen plötzlich ohne digitale Perspektive da. Das temporär zugelassene Videokonferenzsystem „Microsoft Teams“ hat der Kultusminister „bis maximal 30. April 2021 verlängert.“ Gleichzeitig offenbart Mebis gravierende Schwächen. Dabei soll aus der Plattform noch viel mehr werden: der Kern der Bayerncloud, einem zig Millionen teuren Online-Bildungsportal für den Freistaat. Corona-Streber Söder steht, nach den vergeigten Corona-Massentests, vor seiner zweiten digitalpolitischen Niederlage. Die Ursachen für den Schwächeanfall der open-source-Plattform konnte sein Kultusminister bislang nicht stichhaltig erklären. Und das starke Mebis-Team selbst darf sich nur über Piazolos Pressestelle äußern – was Teil des Problems ist.
Tagesspiegel Background Digitalisierung hat mit Mebis-Moderatoren, Abgeordneten und Digitalexperten gesprochen, um Aufstieg und Fall von Mebis zu verstehen, das mit über einer Million Nutzern immerhin eines der größten Moodle-Netzwerke der Welt ist. Ergebnis: Die Plattform ist Opfer ihres eigenes Erfolges. Kein anderes Bundesland versammelt so viele Schüler in einem LMS. Den KO versetzte Mebis wohl eine pädagogisch auf den ersten Blick sinnvolle Anweisung. Zum so genannten „Startschuss“ sollen Lehrer morgens um acht Uhr ihre Schüler im digitalen Klassenzimmer begrüßen. So wollte man verhindern, dass die Lerner im Homeschooling verloren gehen. Tatsächlich setzte man ID-Management und Kapazität von Mebis einem gewaltigen Druck aus – den ein einziges Rechenzentrum aushalten muss. Bayern rüstete zwar die Serverkapazität für Mebis um mehr als 400 Prozent auf. Statt sechs gibt es seit März 28 Server, inzwischen sind es sogar 36. Weitere Kapazitäten sollen zugeschaltet werden, teilte das bayerische Kultusministerium am 23. Dezember mit – nachdem erneut tagelang eine Anfrage an das IT-Dienstleistungszentrum hin- und hergeschoben worden war. Die Server gehören alle zum zentralen „IT-Dienstleistungszentrum“ des Freistaates Bayern.
Selbst die an vorausschauende Fortbildungspolitik wurde plötzlich zum Bumerang. Der Freistaat hat bereits lange vor der Coronakrise eine umfassende Weiterbildung für seine Lehrer begonnen. Jeder Lehrer sollte einmal in Mebis eingeloggt sein, um sich mit dem digitalen Klassenzimmer vertraut zu machen. Mebis häufte so einen Nutzerkreis von über einer Million an. Der war eher passiv – bis das Kommando Fernunterricht kam. Dann aktivierten Hunderttausende Mebis-Schläfer ihre Accounts, riefen ihre Schüler zum Startschuss auf und überforderten so offenbar das System.
Es zeigt sich auch, dass die Hinhaltetaktik der Kultusminister eine fatale Situation provoziert hat. Sie erhöhten zwar zunächst bundesweit die Zugänge zu LMS und Schulclouds – entwöhnten aber mit ihrem Festhalten am Präsenzunterricht die Lehrerschaft wieder von den digitalen Lernportalen. Im März hatte sich die tägliche Zahl der Zugriffe allein bei Mebis auf 750.000 verzehnfacht. 40 Mal so viele Nutzer beanspruchten Mebis. Genaue Zahlen für Dezember liegen derzeit nicht vor. Das dem Kultusministerium unterstellte Mebis-Team darf nicht kommunizieren. Der Ausfall, warnte Minister Piazolo, „ist für mich nicht akzeptabel“.
Die paradoxe Stärke Bayerns, wo 90 Prozent der über 6.000 Schulen Mebis nutzen, offenbart sich im Vergleich zu den Moodle-Systemen anderer Bundesländer. Nordrhein-Westfalen, das erst im Sommer begann, ein Moodle-basiertes LMS auszurollen, wies jeder einzelnen Schule eine Instanz zu. Sie baute also lokale Lernmanagementsysteme auf – allerdings bislang nur an 800 Schulen. In der Folge trat keine tagelange Blockade auf, sondern nur verstreute Lähmungen. Nicht anders Baden-Württemberg, wo ebenfalls Schulen eigene Instanzen erhalten, auch dort gab es eher sporadische Ausfälle. Berlin, das ein viel kleineres System hat, geht einen Mittelweg: es verteilt seine Nutzer auf drei Instanzen – dementsprechend kam es nur zu vereinzelten Ausfällen.
Alle Länder verzeichnen Zuwächse – die aber mit der Verzehnfachung in Bayern nicht zu vergleichen sind. Berlin verzeichnete in den letzten Tagen 50.000 Nutzer, ein Plus von 50 Prozent. „Die Nachfrage ist riesig“, beschreibt Lehrerbilderin Saskia Ebel, die in Baden-Württemberg den Moodle-Fortbildungstag organisiert, der im Dezember und wieder im Januar stattfinden soll. „Wir hatten vor einer Woche 900 Lehrer an einem Online-Fortbildungstag“. In Bayern aber wollten allein am Montag und Dienstag [21. und 22. Dezember] 30.000 Lehrer an einer Online-Fortbildung der „Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung“ in Dillingen teil. Dazu gehört eine Moodle-Einheit – die gleich morgens beginnt.
In der Politik herrscht über die Mebis-Malaise Ratlosigkeit – und Wut. „Es ist ein Total-Versagen, wenn man das nicht in Griff bekommt“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Simone Strohmayr. „Bayern ist ein reiches Bundesland. ‚Laptop und Lederhose‘ plakatierte die CSU im Wahlkampf – und steht jetzt im Distanzunterricht nur noch in Lederhosen da.“ Strohmayr fragte den Kultusminister bereits im November detailliert nach der Weiterentwicklung von Mebis – und bekam keine Antwort. Auch die Grünen, die stark genug wären, um mit der CSU eine Regierung zu bilden, sind genervt. „Mich ärgert der Mebis-Ausfall besonders, weil sich so immer mehr Schulen von dieser datenschutzkonformen Lernplattform abwenden“, sagte der grüne Digital- und Schulpolitiker Max Deisenhofer. „Die Rufe nach kommerziellen – oft weniger datenschutzkonformen – Alternativen an den Schulen werden immer lauter werden.“
Da liegt Deisenhofer wohl richtig. Denn es gibt einen lachenden Dritten, der vom Mebis-Kollaps profitiert – Microsoft. Nun schaffen sich auch Schulen Zugänge zu MS Teams an, bei denen die Lehrerschaft in Mebis Kurse und ganze digitale Bibliotheken angelegt hat. Bislang nutzten in Bayern nur 350 Schulen MS Teams über die Lizenz der Landesregierung. Diese Zahl dürfte sich über den Jahreswechsel deutlich erhöhen. Beispiel München: dort hat ein städtischer IT-Dienstleister gerade alle über 200 Schulen der Stadt bei MS Teams angemeldet. Dass sich da jemand Gedanken darüber gemacht h#tte, was geschieht, wenn 140.000 TeilnehmerInnen auf einer Plattform sich gegenseitig erreichen können, hat offenbar niemand bedacht. Die Süddeutsche schrieb daher richtig von einer Art SchulWhatsapp, in die der lokale IT-Dienstleister der Stadt die Schulen verwandelt habe.
Aber selbst Kultusminister Piazolo treibt die Schulen Bayerns Richtung Microsoft. „Bitte morgens MS Teams und nicht Mebis“, habe er den Schulen geraten, sagte Piazolo im Bayerischen Rundfunk. „Wir haben uns natürlich in den letzten Wochen und Monaten genau darauf vorbereitet.“ Man habe Mebis aufgemotzt, meint er – und überraschte dann mit dem Satz: „Mebis ist ein System, das für den Distanzunterricht nicht konzipiert ist.“ Wenn das so ist, fragt sich: Warum hat er Mebis dann aufgemotzt? Und wie will er darauf eine Bayerncloud bauen, für die allein kommendes Jahr 46 Millionen Euro ausgegeben werden sollen?
Was der Kultusminister nicht sagt: er hat Bayerns Schulen in eine Sackgasse manövriert. Piazolo hat gerade eine Ausschreibung vorgenommen, um MS Teams zu ersetzen. Darin steht als Anforderung, dass keine Daten von Schülern mehr an Drittstaaten übermittelt werden dürfen. „Damit wäre MS Teams raus“, sagte der Landesdatenschutzbeauftragte Thomas Petri zu Tagesspiegel Background. Bis zum Schulbeginn am 11. Januar muss der Freistaat nun warten. Vielleicht hat Bayern dann zwei Lernportale: eines, das nicht geht. Und ein zweites, dessen Zulassung im April ausläuft.