Tobias Windbrake ist im Vorstand der Elterninitiative „Smarter Start ab 14“ für eine Kindheit möglichst ohne Smartphones. Am Donnerstag überreicht sein Verein Zehntausende Unterschriften an die Bildungsminister-Konferenz

Pisaversteher: Herr Windbrake, die SchulministerInnen befassen sich diese Woche mit einer strengeren Regulierung von Smartphones und Social Media. Was erwarten Sie sich davon?

Tobias Windbrake: Ich bin gespannt. Die Vorzeichen sind gemischt.

Was soll das heißen? 

Das Gespräch war eigentlich für die offizielle Tagesordnung vorgesehen. Nun ist es erneut in den Kaminabend gerutscht. Das ist ein bisschen merkwürdig. Warum muss man über ein so wichtiges Thema zweimal am Kamin verhandeln?Zumal vermutlich eine Mehrheit in der Konferenz für eine strengere Regulierung ist – zuletzt haben sich sogar grüne Ministerinnen wie Julia Hamburg aus Niedersachsen dafür ausgesprochen, so genannte soziale Medien erst ab 14 Jahren zuzulassen. Wissen Sie vielleicht mehr?

Offiziell nichts. Man hält sich bedeckt. Es könnte aber daran liegen, dass die Mehrheit für klare gesetzliche Handygebote eben nicht reicht. Wenn nur eine einzige Schulministerin Nein sagt, kommt kein Beschluss zustande. Deswegen will man sich offenbar in Ruhe austauschen – diesmal unter Einbeziehung von ExpertInnen. Wie finden Sie das als Aktivist einer Elterninitiative für eine smartphonefreie Kindheit bis zum 14. Geburtstag? 

Ich finde, das passt ganz gut zu der schlimmen Situation. Es gibt in Deutschland praktisch keinen digitalen Kinder- und Jugendmedienschutz. 

TikTok: wie ein Wimmelbild voller traumatisierender Gewalt – für Kinder 

Wie kommen Sie darauf? Immerhin gibt es eine eigens dafür eingerichtete Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. 

Ja, Sie haben Recht. Natürlich gibt es offiziell einen Kinder- und Jugendmedienschutz – aber der gilt nicht in der Online-Welt. Seit über 30 Jahren gibt es das World Wide Web, also den bunten, interaktiven Teil des Internets. Und trotz der langen Zeit haben wir nach wie vor keine funktionierende Altersverifikationen. Sie können sich beispielsweise bei Pornographie-Plattformen durch einfaches Klicken anmelden. Jedes Kind kann behaupten, 18 oder älter zu sein und hat dann vollen Zugriff auf Dinge, für deren Verkauf an Kinder man Kioskbesitzer wahrscheinlich verhaften würde. Genauso sieht es bei den Social-Media-Plattformen aus. Solange keine Verifikation existiert, kann es natürlich gar keinen Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Online-Welt geben. 

In Deutschland kommt das Thema Social Media-Risiken nicht mal ohne Stolpern in die Konferenz der SchulministerInnen – obwohl deren Schulen unter der Situation leiden. 

Wie erklären Sie sich das? Warum muss ein Jugendlicher in einem Supermarkt die peinliche Situation fürchten, dass er eine Flasche Bier nicht bekommt – aber gleichzeitig hat er online Zugang zu traumatisierenden Erfahrungswelten, ohne dass es irgendjemanden juckt? 

Erklären Sie es mir. Für mich ist das ein Rätsel. Da herrscht ein Paralleluniversum. Sehr viele Eltern leiden unter der exzessiven Nutzung von sozialen Medien durch ihre Kinder. Aber niemand in der Politik kommt auf die Idee, dagegen etwas Grundlegendes zu tun. 80 bis 90 Prozent der Bürgerinnen geben, je nach Umfrage, an, dass sie für strengere Altersgrenzen für soziale Medien sind. Aber der Politik ist das bisher egal. In Australien, in Frankreich, in Spanien, in Dänemark und so weiter werden Maßnahmen ergriffen. Aber in Deutschland kommt das Thema nicht mal ohne Stolpern in die Konferenz der SchulministerInnen, deren Schulen unter dieser Situation leiden. 

Hier geht’s zur Petition für Schulen ohne Smartphones: Macht mit

Smarter Start ab 14

In der Medienpädagogik gilt der Dreiklang von Schutz, Befähigung und Teilhabe. Das ist doch ein schönes Konzept. 

Ja, aber man muss leider konstatieren, dass dieses Dreieck nur sehr unvollkommen verwirklicht ist. Im Bereich Schutz kommt man maximal auf 1 Prozent Wirkungsgrad. Auch bei der Befähigung mit dem Ziel, echte digitale  Kompetenzen in Medienkunde, Informatik, Sozialkunde usw. zu vermitteln, erreichen wir vielleicht 1 Prozent Wirkung. Aber die digitale Teilhabe ist bereits zu 98 Prozent verwirklicht. Wenn man sich die aktuelle Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf im Auftrag der Angestelltenkasse anschaut, könnte man auch sagen, dieses Ziel ist übererfüllt.

Ein Fünftel der Kinder nutzt soziale Medien in riskanter Art. 4,7 Prozent nutzen sie pathologisch – sie sind abhängig.

Warum so ein großer Wert für die Teilhabe?

Die Bedienung der Tools ist sehr sehr einfach. Das können Zweijährige, das könnten auch Primaten, dazu braucht man keinerlei Kompetenzen. Nicht umsonst haben die beiden letzten wissenschaftlichen Studien (ICILS, Pisa) zu dem Thema ergeben, dass deutsche Schülerinnen vor allen Dingen im Wischen Spitze sind. Kinder haben ihre Smartphones häufig 24/7 im Besitz. Man weiß aus entsprechenden Umfragen, dass die Mehrheit der Eltern keinen technischen Jugendschutz installiert hat. Das heißt, Kinder können auch wirklich auf alles zugreifen, was online verfügbar ist – insbesondere eben auch auf die jugendgefährdenden Inhalte.

Hier geht’s zur Petition „Social Media ab 16“: Macht mit

Smarter Start

Was sagen Sie zu den Menschen, die Ihnen Kulturpessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit vorwerfen?

Dass exzessive Mediennutzung bis hin zu Mediensucht ein Riesenproblem ist. Für die mentale Gesundheit der Kinder, für das Lernen und auch für unser politisches System. Warum viele Medienpädagogen die digitale Teilhabe immer noch als zentrales Ziel verstehen, ist mir ein Rätsel. Ist das nicht ein Problem, dass es gar nicht mehr gibt? Vielleicht kommt das noch aus der Zeit, als der Internetzugang nicht flächendeckend verfügbar und obendrein teuer war. Heute sollte es doch um Regulierung und eine deutliche Reduzierung der Nutzung gehen. Darum sollte man überlegen, ob das Dreiklang-Konzept noch zeitgemäß ist.

Westermann erklärt Neunjährigen, wie man eine Plattform für 13-jährige nutzt. 

Der Westermann Verlag hat ein Buch im Sortiment, das 8- bis 9-Jährigen erklärt, wie man mit Social Media am besten umgeht. Ist diese Form von Medienbildung richtig oder falsch?

Es normalisiert eine Situation, die es eigentlich zu ändern gilt. Wir haben ein Mindestalter für die Nutzung solcher Plattformen von 13 Jahren. Und wenn man jünger ist als 16 Jahre, benötigt man für die Nutzung kommerzieller Social Media-Plattformen die Zustimmung seiner Eltern. Warum sollte man dann als pädagogischer Verlag Kindern schon mit acht oder neun Jahren beibringen, wie man Selfies oder Videos in eine Welt hochlädt, die laut AGB der Plattformen erst ab 13 erlaubt ist?

Sie haben keine hohe Meinung von der Medienpädagogik. 

Doch! Es ist notwendig, dass die Kinder bereits in der Schule neben dem Elternhaus auch Medien- und Digitalkompetenz vermittelt bekommen. Deswegen fordern wir als Verein auch, dass es ein eigenes Schulfach „digitale Grundbildung“ gibt – ab der 1. Klasse. Das muss anfangs gar nicht zwingend an Endgeräten stattfinden. Da geht’s viel um Hintergrundwissen, um einen Blick unter die Motorhaube. Das kann man im Zweifel auch an der Kreidetafel machen oder in Heft oder Schulbuch. Da geht’s wirklich um die grundlegenden Dinge, die man wissen muss, um sich eben sicher in der digitalen Welt zurechtzufinden. Kinderfotos hochladen gehört dazu garantiert nicht. Jedenfalls nicht in einer Welt, in der Pädokriminelle diese Fotos aus dem Netz fischen.

Je nach Plattformtyp, je nach ausgespielten Inhalten müsste es ein Mindestalter geben und natürlich eine Altersverifikation. Wir haben weder das eine noch das andere. Das ist unterlassene Hilfeleistung – und Verrat an den Kindern.

In der Öffentlichkeit wird Ihre Initiative als eine für ein Handyverbot wahrgenommen. Wollen Sie ein Handyverbot?

Nein, wir sind natürlich nicht für ein Smartphone-Verbot. Es geht, wie generell beim Kinder- und Jugendschutz, um ein angemessenes Mindestalter für verschiedene Funktionen und für verschiedene Inhalte. Das bedeutet, dass wir an Eltern und Staat appellieren, Kindern erst ab 14 Jahren Smartphones zu geben. Und kommerzielle Social Media-Plattformen erst ab 16 Jahren zugänglich zu machen. Genau wie sie im Kiosk als Zehnjähriger kein Rubellos kaufen können, weil Glücksspiel süchtig machen kann; und genau wie sie als Zwölfjährige nicht in einen Film für 18 reinkommen können, weil das eben nicht für Zwölfjährige geeignet ist – genauso müsste es in der digitalen Welt auch entsprechende Mindestalter geben für diese verschiedenen Plattformen. Je nach Plattformtyp, je nach ausgespielten Inhalten müsste es ein Mindestalter geben und natürlich eine Altersverifikation. Wir haben weder das eine noch das andere. Sehr viele jammern, aber kaum einer handelt. Das ist unterlassene Hilfeleistung – und Verrat an den Kindern.

Was schlagen Sie vor, diese paradoxe Situation aufzulösen?

Wir müssten das machen, was andere Staaten gemacht haben: eine Experten-Kommission einsetzen, die der Politik Handlungsempfehlungen unterbreitet. Das gab es beispielsweise in Spanien und Frankreich. Und in Spanien ist man eben zu dem Ergebnis gekommen, dass man Social Media frühestens ab 16 haben sollte. Die Franzosen sind sogar sogar noch ein Schritt weiter gegangen, das kommerzielle Medienplattformen wie TikTok, Snapchat etc. erst ab 18 Jahren geeignet sind. 

Vier von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen wollen soziale Medien erst ab 16 Jahren freigeben.

Aber ist denn die Bildungsminister-Konferenz mit ihrer kleinen Expertenanhörung da nicht auf dem richtigen Weg? 

Ja und nein. Ich finde richtig, die beeindruckende Menge an wissenschaftlicher Expertise über die Risiken frühen und exzessiven Social-Media-Konsums zur Kenntnis zu nehmen. Aber ich verstehe nicht, warum die Bildungsminister hinter verschlossenen Türen Experten anhören. Im Bundestag sind Anhörungen grundsätzlich öffentlich. Deswegen bräuchten wir eine Experten-Kommission, die sich austauscht und entsprechende Vorschläge erarbeitet. Und die sollte nicht nur zu Social Media-Plattformen, sondern idealerweise auch für Online-Games, für Streaming-Dienste und so weiter arbeiten.

Das heißt, Sie gehen einen anderen Weg als der institutionalisierte Kinder- und Jugendmedienschutz, der eine so genannte Zukunftswerkstatt mit 130 Leuten als Geheimsache einstuft? 

Wir möchten Eltern helfen, ihre Kinder vor den negativen Folgen der exzessiven und verfrühten Mediennutzung zu schützen, indem wir aufklären, vernetzen, und Eltern zu einem gemeinsamen Handeln ermutigen. Es ist doch verrückt, dass einen das gar nicht mehr überrascht: die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz veranstaltet Konferenzen, zu denen die prominenten deutschen Kindermedienschützer nicht eingeladen sind, aber Unternehmen wie YouTube und Snap Inc. wie selbstverständlich vortragen. 

„Smarter Start ab 14“ vernetzt bundesweit Tausende von Eltern, um die katastrophale Situation zu beenden.

Müsste man nicht die Kritik an solchen Kinder- und Jugendschützern verstärken?

Anders als die meisten anderen Stakeholder, die nur lamentieren, werden wir aktiv. Gerade weil es bis dato keinen funktionierenden Kinder- und Jugendschutz in der Online-Welt gibt, vernetzen sich jetzt bei „Smarter Start ab 14“ bundesweit Tausende von Eltern, um die katastrophale Situation zu beenden. Diese Eltern treten als eine Art Lobbygruppe für die eigenen Kinder auf, da diese ansonsten weder eine Lobby noch ein Wahlrecht haben.

Wer macht bei Ihnen alles mit? 

Wir vernetzen Eltern an Hunderten von Schulen im gesamten Bundesgebiet. Zu unseren Unterstützern zählen viele namhafte Experten aus dem Präventionsbereich. Unsere Webinare, etwa mit der Kinderärztin Dr. Claudia Haupt, erreichen regelmäßig über 2.000 Teilnehmer. Wir sind auch Teil der weltweiten Smartphonefree-Childhood-Bewegung. Unsere Petition zu „Smartphonefreien Schulen“ übergeben wir diese Woche an den Generalsekretär der Bundesbildungsministerkonferenz. Die Petition zu „Social Media ab 16“ wird im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages diskutiert, wenn sie mehr als 30.000 Unterzeichner bekommt. Kurz: Wir sind das Gegenteil des meckernden Stakeholders, der sonst nichts macht. Als Eltern wollen wir schnelle pragmatische und wirksame Schadensvermeidung — primäre Prävention.