Das Problem ist, dass man das folgende naiv bis etwa in den April 2010 so propagieren konnte: Die Regelschule ist ungesund, ungerecht und ineffizient – also holt man sich ein paar reformpädagogische Versatzstücke und poetisiert das ganze. Fertig ist die warme, gerechte und kreative Schule.
Aber so ist das nicht. Die Nähe zum Schüler, seit Ellen Key unter dem Stichwort „Pädagogik vom Kinde aus“ heroisiert, ist im Odenwald derart gnadenlos gegen das Kind instrumentalisiert worden – und das 20 Jahre lang! -, dass man das doch guten Gewissens nicht mehr einfach so propagieren kann.
Die Schule steckt wahrscheinlich in ihrer tiefsten Krise seit der Übernahme durch den preußischen Staat und der Austreibung der frühen, lernspiel-orientierten Reformpädagogen wie Friedrich Fröbel: Sie ist zutiefst ungerecht und oft auch unpädagogisch. Sie tut sich enorm schwer, das social media-basierte Lernen2.0 zu verstehen und einzubauen. Und ihr ist von heute auf morgen die Alternative weggebrochen – obwohl man bei den schratigen Schriften von Montessori, Petersen, Steiner, Geheeb schon früher hätte drauf kommen können, dass da was nicht stimmt. Die Reformpädagogen konnten sich das holzschnitzartige Gegenüber einer Karikatur der Staatsschule und einer rosaroten eingefärbten Reformschule lange leisten – heute geht das nicht mehr.

Man muss die Nähe zum Kind nicht nur propagieren, sondern auch professionalisieren und, vor allem, kontrollieren. Klar, nicht jeder beziehungsfähige Pädagoge ist gleich ein Päderast. Aber nach 130 Opfern im Odenwald, die man 20 Jahre lang unter der Flagge des pädagogischen Eros, missbraucht, bedrängt und vergewaltigt hat, kann man vielleicht nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, oder? Das zutiefst schockierende ist, dass in der Odenwaldschule die angeblich perfekte schulische Demokratie nichts verhindert hat, dass vermeintlich empatische Lehrer die Hilferufe der Opfer systematisch überhört haben.

Da ist kein leichter Ausweg. Man kann von einer dreifachen Krise der Schule sprechen: #Bildungsarmut, die Ent-Täuschung der #Reformpädagogik und die Unfähigkeit, web2.0 apparativ und didaktisch in die Will-II-Schule industrieller Prägung zu bringen. Genauer gesagt sind es vier Krisen: Denn die Politik geht so lapidar mit Schule um, dass man auch im Musterländle Rheinland-Pfalz nach dem Motto verfährt: Kosmetische Reparaturen statt konsequenter Politik gegen Bildungsarmut, digitalem Dornröschenschlaf und reformpädagogischen Missbrauchs.

Mainz: Neue Schule, altes Lernen

In Deggendorf trägt sich gerade folgendes zu: Weil in dem bayerischen Ort nicht mehr genug ausbildungsfähige Schulabgänger zu finden sind, werden jetzt kurzerhand bulgarische Jugendliche importiert.

Im Juli 2011 gab es im Kreis Deggendorf rund 700 offene Lehrstellen, aber nur 320 ausbildungswillige Jugendliche. „Wir müssen jetzt aktiv werden“, sagt CSU-Landrat Bernreiter laut tageszeitung, „von allein passiert da gar nichts.“

Die Presse jubelte. Ich bewerte das etwas anderes: Ich halte das für den öffentlich kundgetanen Offenbarungseid des deutschen Schulsystems.

Was in Deggendorf passiert, ist ein Anschlag auf die Jugend Deggendorfs. Offenbar ist es so, dass es Jugendliche zweiter Klasse gibt, deren Integration in den Arbeitsmarkt von vorneherein nicht mehr infrage kommt. Aus der abstrakten Green-Card-Anwerbe-Methode für Hochqualifizierte ist in Deggendorf die lokale Apartheid gegen Jugendliche geworden: Bestimmte Jugendliche dürfen nicht mehr Lehrlinge werden. Und zwar, weil sie angeblich keinen Ausbildungsplatz wollen.

Wenn dies im angeblich besten Schulsystem Deutschlands geschieht, beim deutschen Dauer-Pisasieger Bayern, dann stimmt etwas nicht.

Deggendorf ist nur eine Episode, aber sie beweist: Deutschlands Bildungssystem, dass sich angeblich vom Pisaschock erholt hat und erste Besserungen in seinen Schule erlebt, steckt in einer tiefen Krise.

Und zwar in einer dreifachen Krise, einer demokratischen, pädagogischen und psychologischen. Mit Margot Käsmann möchte man sagen: Nichts ist besser geworden in den Schulen.

  • Schulen sind immer noch auf einem Niveau ungerecht, dass sie für eine Demokratie nicht tragbar sind
  • Schulen sind nicht in der Lage, alle Jugendlichen so auszubilden, dass sie einen Beruf erlernen und ausüben können
  • Schulen sind architektonisch und pädagogisch so konstruiert, dass sich Schüler (und Lehrer) dort nicht wohl fühlen
  • Kurz gesagt: Deutsche Schulen sind nicht gerecht, nicht gut und nicht gesund

Der Fall Rheinland-Pfalz

Eines der Bundesländer, das scheinbar alles richtig macht, ist nun Rheinland-Pfalz. Bundeskanzler Gerhard Schröder schaute sich seinen Coup für Ganztagsschulen 2002 in Rheinland-Pfalz ab, das das erste Bundesland war, das solche Schulen einführte. Später hatte Mainz die Nase vorne, als es die Kindergartengebühren abschaffte. Und auch die Aufhebung der Hauptschulen begannen die Mainzer früher als andere Bundesländer. Dort hat bereits begonnen, was in Düsseldorf, Stuttgart oder Hannover noch diskutiert wird.

Bei Pisa stand Rheinland-Pfalz zuletzt auf Platz 5 oder 6, je nach Disziplin. Das ist ordentlich. Rheinland-Pfalz ist das westdeutsche Bundesland hinter den Dauer-West-Pisasiegern Baden-Württemberg und Bayern. Auch beim Monitor des Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft liegt das Südwest-Land auf Platz 5 – mit ausdrücklichem Lob, weil das Land sich nämlich weiter verbessert.

Buddha Beck

Was will man also Kritisches sagen über ein Land, in dem Buddha Beck seit über zehn Jahren mit Bildungsreformen punktet?

Mainz ist meines Erachtens ein Musterbeispiel dafür, dass man auch Bildungspolitik betreiben kann, ohne den Kern eines schulreformerischen Anliegens ernsthaft zu verfolgen: Ein anderes Lernen, das versucht, wirklich alle Schüler mitzunehmen. Und zwar nicht rhetorisch, sondern tatsächlich.

Niemand muss vergessen: Rheinland-Pfalz hatte in der letzten erreichbaren Pisa-Studie 20 Prozent Risikoschüler und nur 11 Prozent Spitzenschüler. (Lesen 2006)

Das zu monieren, ist keine intellektuelle Kritikasterei. Man muss sich nur zwei essenzielle Felder ansehen, die heute mit einer demokratischen Bildungspolitik einhergehen: Die Abschaffung der Hauptschulen und das neue Lernen.

Auf beiden Gebieten unternimmt das Land zwar Anstrengungen – aber es tut das derart halbherzig und pomadig, dass man sich fragt: Ist das eigentlich Bildungspolitik oder ist das So-als-ob-Politik.

Als-ob-Politik

Bei den Hauptschulen ist es so, dass von einer echten Auflösung und einer konsequenten Fusion mit den Realschulen keine Rede sein kann. Die neue Schulform erhält keinen eigenständigen neuen Namen, sondern firmiert als Realschule plus. Die Hauptschulen bestehen in den meisten Fällen de facto weiter – unter dem Dach der Realschule plus. Manche Realschullehrer verlangen Garantien, dass sie keine Hauptschüler unterrichten müssen – und sie bekommen diese Garantien auch noch. Man nennt das Bestandsschutz für Realschulklassen. Mit anderen Worten: Hauptschüler dürfen da nicht rein.

Neues Lernen: Man hat den einzelnen Schulen von vorneherein freigestellt, ob sie eine kooperative Realschule plus werden wollen, also eine Schule, die weiter an der konsequenten Trennung von Haupt- und Realschülern fest hält. Oder ob man tatsächlich eine integrierte Realschule plus schafft – und auch dort nach Leistungsniveaus in wichtigen Fächern trennt. Das heißt: Gemeinsames Lernen wird es in diesen Schulen gar nicht geben.

Hauptschulen trotz abgeschaffter Hauptschulen

Was sollen sich eigentlich Hauptschüler denken, die in der Zeitung lesen, dass ihre Schulform aufgelöst wird? Und zwar, was sollen sie denken, wenn sie merken, dass das nur ein Etikettenschwindel ist. Denn tatsächlich dürfen sie den Realschülern nur auf dem Pausenhof, beim Sport und beim Beten begegnen.

Was sagt die zuständige Ministerin Doris Ahnen (SPD) zu dem? Nun, sie ist erstens verantwortlich dafür, denn sie regierte ja in einer reinen SPD-Regierung. Sie kann sich also nicht darauf herausreden, dass sie auf einen Koalitionsparten Rücksicht nehmen musste. Wenn man Frau Ahnen danach fragt – wie es die GEW-Zeitschrift gerade getan hat -, was passieren soll, dann weiß man, wie wenig sie die Menschenrechte der Schüler tangieren, die endlich gleiche Chancen bekommen sollen.

„Wir haben eine Struktur gebaut, ein gutes Gebäude, aber natürlich brauchen wir für die innere Schulreform Zeit. Das ist ein längerer Prozess. Der Stand ist an den einzelnen Schulen auch sehr unterschiedlich. Die Zusammenfassung von Haupt- und Realschule in der Orientierungsstufe 5 und 6 war schon für nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer ein riesiger Schritt. Wir wollen jetzt die Realschulen plus ermutigen, mehr integrative Angebote zu machen. Wir wollen keine neuen Verordnungen schaffen, den Schulen aber Mut machen und sie unterstützen, diesen Weg konsequent zu gehen.“

Es gibt in Rheinland-Pfalz Realschulen, die das Zusammengehen mit den Hauptschulen mehr oder weniger offen blockieren. Aber die zuständige Ministerin sagt nicht etwa: Das geht nicht, die Reform steht im Gesetz, Hauptschüler haben die gleichen Rechte! Sie sagt: Lasst Euch Zeit, wir dürfen die Lehrer nicht überfordern!

Grüne ohne Anspruch

Die Grünen sind in Mainz in die Regierung eingestiegen, ohne jene Forderungen zu stellen, die sie sonst so wichtig finden: Neues Lernen, eine Schule für alle. Während der Koalitionsgespräche waren solche Schulreformen jedenfalls nie ein öffentliches Thema. Sie haben es stillschweigend hingenommen, dass eine echte Fusion von Haupt- und Realschulen in Rheinland-Pfalz nicht eine Frage von Demokratie und neuer Pädagogik  ist, sondern von Muße.

Was wären die Aufgaben einer grundlegende Schulreform?

Es geht darum, gute Schulen zu schaffen, das heißt Schulen, in denen die Kinder so lernen, wie es das 21. Jahrhundert erfordert. Das ist, kurz gesagt, ein anderes Lernen als mit den Lernregimes und den Lehrplänen, die in weiten Teilen aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen. Die industriell-obrigkeitsstaatliche Frontbeladungsmethode sollte einem Lernarrangement weichen, in dem die Kinder möglichst selbständig, möglichst individuell und möglichst spielerisch arbeiten, d.h. forschend, neugierig, explorativ. Um dies möglich zu machen, müsste man (erstens) die Schulformen behutsam, aber doch entschieden vereinfachen und (zweitens) ein anderes Lernen nicht nur propagieren, sondern in den Köpfen und in der Praxis der Lehrer möglich machen.

Wer – wie Rheinland-Pfalz – das eine tut (Schulstrukturreform), ohne auch das andere zu tun (Lernrevolution), der unterminiert seine eigene Schulreform.