Wenn das Buch untergeht, sollten die Schulen antizyklisch reagieren: mit einem Analogpakt für Lesen und Schreiben ab Kindergarten. Digitale Bildung ab Klasse 5

+++ Bob Blume loggte zu diesem Text über digitale Befindlichkeiten +++

Diogenes-Verlagschef Philipp Keel hat in einem beeindruckenden Interview den Kollaps des Buchumsatzes um 50 Prozent beklagt. „Man sollte nicht darüber sprechen, warum es so schwierig ist, sondern wie wir es schaffen, dass die Menschen wieder mehr lesen“, sagte Keel, der das Interview (mit Sandra Kegel von der FAZ) so einstufte: „vielleicht das finsterste Gespräch, das ich je geführt habe.“ Auf Twitter reagierte der (sonst so) kluge Dejan wie folgt: der Verlust der Buchkultur sei weder schlecht noch gut. Es sei halt eine Veränderung.

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Ich finde das, pardon, ängstlich. Sich vor ein derartiges Beben wie den Untergang der Gutenberg-Galaxis schulterzuckend hinzustellen, ist unangemessen. Gerade für einen Lehrer, der sich politisch engagiert. Man kann es doch aussprechen: der Kollaps der Kulturtechniken Lesen und Schreiben ist schlecht. Der online-Tsunami schlägt eine tiefe Schneise in das, was eine moderne Gesellschaft ausmacht: sich untereinander verständigen, lernen, auf Berufe vorbereiten und ausüben, nicht zuletzt, intellektuell und politisch an der Gesellschaft teilzuhaben. Das alles fußt auf der Idee von Lesen, Schreiben und einer intellektuellen Buchkultur. Der wichtigste Bildungstest, der unsere Gesellschaften, gerade die deutsche, in den letzten Jahren umgetrieben hat, der Pisa-Test, benutzte Literacy als ultimative Kernkompetenz. Das ist nichts weniger als eine moderne, an Mindeststandards orientierten Lesefähigkeit. Die Zahl der Bücher, die die Familie eines Kindes zuhause hat, gilt dabei als der sicherste und wichtigste Prädiktor für Lesekompetenzen der an Pisa teilnehmenden 15jährigen. Soziale Faktoren, Einkommen, Schule, Region – das ist dazu im Vergleich vernachlässigbar. Mit anderen Worten: Lernen hat auf eine zwar mirakulöse, aber doch sichere Art mit dem Buch zu tun. Nun verschwindet dieses Fundament des Bildungssystems, und ein Lehrer kommentiert: kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist.

Handschrift braucht man eh nicht!

Ich wollte eigentlich ohne Belege aufschreiben, welch´ enorme Bedeutung für Bildung als solches das Lesen und gerade auch das Schreibenlernen hat. Studien und Erfahrungen von LehrerInnen zeigen: das flüssige Schreiben in einer verbundenen Schreibschrift erleidet in der Schule dramatische Einbrüche. Der Grundschulverband reagierte darauf mit einer verstörenden Reform-Initiative: die ABC-Schützen sollten künftig nur noch eine Druckschrift lernen und beim schnellen Schreiben selbst entscheiden, wie sie die Buchstaben verbinden. De facto sollte die Schreibschrift abgeschafft werden. Was daraus folgen würde, ist nicht schwer zu prophezeien: ein Anstieg des Analphabetentums. Interessant ist die Reaktion der Netznaiven. „Schreiben braucht man eh nicht“, winken sie ab, „künftig wischen und tippen Kinder sich durch die digitalisierte Welt.“ So einfach kann man also das wichtigste Fach jedes Lernens wegwischen: Schreiben. 

Absacken der Grundschulergebnisse

Wie bestellt kommen nun aber erste Ergebnisse der neuen Grundschulstudie heraus – mit erschreckenden Zahlen.  Die Kompetenzen der deutschen Grundschüler werden deutlich schlechter. Das gilt besonders für Orthografie. Im Lesen erreichen nur zwei Drittel der Schüler die Regelstandards, im Schreiben nur 50 Prozent. Im Gesamtschnitt nehmen die Leistungen in den Deutsch-Kompetenzen um 5 bis 10 Prozentpunkte ab.

Mit dem iPhone kommt die Zerstreuung

Der Rückgang erfolgt zwischen den Jahren 2011 und 2016. Das ist die Zeit, in der die Smartphone-Abdeckungen bei Kindern und Jugendlichen geradezu explodiert sind. Der nun feststellbare Abstieg der GrundsvhülerInnen beimden Deutsch-Leistungen ist steil. Noch 2004 wurden die deutschen Grundschüler bei der Leseuntersuchung Iglu weit vorne in Europa gesehen. Wenn man so will, hat nach der Erfindung und Verbreitung des iPhones die Zerstreuung begonnen.


(Quelle: Günter Steppich, medien-sicher.de) Es gibt nun Leute, die als Ursachen auf die Schreib- und Lese-Lernmethode von Jürgen Reichen verweisen (Schreiben nach Gehör) oder auf die Flüchtlingssituation. Ich finde das albern. Reichen erfand seine Methode 1970, seit den 1980ern breitete sie sich sukzessive in den Grundschulen aus, warum sollte sie ausgerechnet ab 2011 (also 30 Jahre später) dramatische Verschlechterungen bewirken? Von 2015 sollte man schweigen. Das liegt außerhalb des Untersuchungszeitraums, und es sind die Minister, die das Land danach in einen bespiellosen Lehrermangel getrieben haben. Nein, meines Erachtens sind die Folgen des Online-Tsunamis auf das Lebens- und Lernverhalten von Kindern gar nicht hoch genug einzuschätzen. Es wird Zeit, dass wir uns damit in einer problemorientierten öffentlichen Debatte damit befassen, erste Studien gibt es dazu ja schon.

Untergang des Buchs nicht erleiden

Ich rede hier nicht von Abschaffen, Abschalten oder Verteufeln. Ich muss diesem Vorwurf vorbeugen, weil er so sicher wie das Amen in der Kirche aufgestellt werden wird. (Die Online-Community funktioniert da zuverlässig wie ein HB-Männchen – sagst du „Kritik am Internet“, schimpfen sie dich Zensor, Despot und Internetmörder.) Nein, es geht um einen Diskurs auf Augenhöhe. Man kann das Ende der Gutenberg-Kultur ja nicht aufhalten. Dieses Erdbeben findet statt, da können wir uns auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln. Die Frage ist eben, ob wir den Untergang des Buchs, der Zeitung und des Klassenzimmers – also den Formaten der Aufklärung – schulterzuckend erleiden. Oder ob wir ihn gestalten.

tl;dr

Wer sich dem digitalen Lernen nicht in den Weg stellen will, und das analoge Lernen nicht vernachlässigen möchte, der könnte folgendes machen: einen Digital- und Analogpakt (Siehe Waldorfschulen)

Buchstaben in die Kita, digitale Grundbildung ab Klasse 5

  • Stärkung des kreativen Lesens ab Kindergartenalter von zwei Jahren: Vorlesen, Bilderbücher, Buchstaben, erste Schreibübungen
  • Massive Stärkung des Lese- und Schreibenlernens in der Grundschule (=mehr Stunden ab Klasse 1)
  • Einführen des Digitalen erst nach der Grundschule
  • ab Klasse 5 Schreibmaschinenkurse (10-Finger-Tippen) und digitale Grundfertigkeiten
  • schrittweiser sukzessiver Netzführerschein, um Kindern und Jugendlichen die technischen und sozialen Grundlagen der sozialen Medien, also des Chattens, Gamens etc zu vermitteln
  • schrittweises Ausbreiten digitaler Geräte, Medien und Methoden in allen Fächern

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