Wenn das Buch untergeht, sollten die Schulen antizyklisch reagieren: mit einem Analogpakt für Lesen und Schreiben ab Kindergarten. Digitale Bildung ab Klasse 5
+++ Bob Blume loggte zu diesem Text über digitale Befindlichkeiten +++
Diogenes-Verlagschef Philipp Keel hat in einem beeindruckenden Interview den Kollaps des Buchumsatzes um 50 Prozent beklagt. „Man sollte nicht darüber sprechen, warum es so schwierig ist, sondern wie wir es schaffen, dass die Menschen wieder mehr lesen“, sagte Keel, der das Interview (mit Sandra Kegel von der FAZ) so einstufte: „vielleicht das finsterste Gespräch, das ich je geführt habe.“ Auf Twitter reagierte der (sonst so) kluge Dejan wie folgt: der Verlust der Buchkultur sei weder schlecht noch gut. Es sei halt eine Veränderung.
(Das Leseverhalten hat sich verändert. Das ist weder gut noch schlecht. Es ist anders. Dass die Buch-Branche darunter leidet, bedauere ich.)
— Dejan Mihajlović (@DejanFreiburg) October 12, 2017
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Ich finde das, pardon, ängstlich. Sich vor ein derartiges Beben wie den Untergang der Gutenberg-Galaxis schulterzuckend hinzustellen, ist unangemessen. Gerade für einen Lehrer, der sich politisch engagiert. Man kann es doch aussprechen: der Kollaps der Kulturtechniken Lesen und Schreiben ist schlecht. Der online-Tsunami schlägt eine tiefe Schneise in das, was eine moderne Gesellschaft ausmacht: sich untereinander verständigen, lernen, auf Berufe vorbereiten und ausüben, nicht zuletzt, intellektuell und politisch an der Gesellschaft teilzuhaben. Das alles fußt auf der Idee von Lesen, Schreiben und einer intellektuellen Buchkultur. Der wichtigste Bildungstest, der unsere Gesellschaften, gerade die deutsche, in den letzten Jahren umgetrieben hat, der Pisa-Test, benutzte Literacy als ultimative Kernkompetenz. Das ist nichts weniger als eine moderne, an Mindeststandards orientierten Lesefähigkeit. Die Zahl der Bücher, die die Familie eines Kindes zuhause hat, gilt dabei als der sicherste und wichtigste Prädiktor für Lesekompetenzen der an Pisa teilnehmenden 15jährigen. Soziale Faktoren, Einkommen, Schule, Region – das ist dazu im Vergleich vernachlässigbar. Mit anderen Worten: Lernen hat auf eine zwar mirakulöse, aber doch sichere Art mit dem Buch zu tun. Nun verschwindet dieses Fundament des Bildungssystems, und ein Lehrer kommentiert: kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist.
Handschrift braucht man eh nicht!
Ich wollte eigentlich ohne Belege aufschreiben, welch´ enorme Bedeutung für Bildung als solches das Lesen und gerade auch das Schreibenlernen hat. Studien und Erfahrungen von LehrerInnen zeigen: das flüssige Schreiben in einer verbundenen Schreibschrift erleidet in der Schule dramatische Einbrüche. Der Grundschulverband reagierte darauf mit einer verstörenden Reform-Initiative: die ABC-Schützen sollten künftig nur noch eine Druckschrift lernen und beim schnellen Schreiben selbst entscheiden, wie sie die Buchstaben verbinden. De facto sollte die Schreibschrift abgeschafft werden. Was daraus folgen würde, ist nicht schwer zu prophezeien: ein Anstieg des Analphabetentums. Interessant ist die Reaktion der Netznaiven. „Schreiben braucht man eh nicht“, winken sie ab, „künftig wischen und tippen Kinder sich durch die digitalisierte Welt.“ So einfach kann man also das wichtigste Fach jedes Lernens wegwischen: Schreiben.
Absacken der Grundschulergebnisse
Wie bestellt kommen nun aber erste Ergebnisse der neuen Grundschulstudie heraus – mit erschreckenden Zahlen. Die Kompetenzen der deutschen Grundschüler werden deutlich schlechter. Das gilt besonders für Orthografie. Im Lesen erreichen nur zwei Drittel der Schüler die Regelstandards, im Schreiben nur 50 Prozent. Im Gesamtschnitt nehmen die Leistungen in den Deutsch-Kompetenzen um 5 bis 10 Prozentpunkte ab.
Mit dem iPhone kommt die Zerstreuung
Der Rückgang erfolgt zwischen den Jahren 2011 und 2016. Das ist die Zeit, in der die Smartphone-Abdeckungen bei Kindern und Jugendlichen geradezu explodiert sind. Der nun feststellbare Abstieg der GrundsvhülerInnen beimden Deutsch-Leistungen ist steil. Noch 2004 wurden die deutschen Grundschüler bei der Leseuntersuchung Iglu weit vorne in Europa gesehen. Wenn man so will, hat nach der Erfindung und Verbreitung des iPhones die Zerstreuung begonnen.
(Quelle: Günter Steppich, medien-sicher.de) Es gibt nun Leute, die als Ursachen auf die Schreib- und Lese-Lernmethode von Jürgen Reichen verweisen (Schreiben nach Gehör) oder auf die Flüchtlingssituation. Ich finde das albern. Reichen erfand seine Methode 1970, seit den 1980ern breitete sie sich sukzessive in den Grundschulen aus, warum sollte sie ausgerechnet ab 2011 (also 30 Jahre später) dramatische Verschlechterungen bewirken? Von 2015 sollte man schweigen. Das liegt außerhalb des Untersuchungszeitraums, und es sind die Minister, die das Land danach in einen bespiellosen Lehrermangel getrieben haben. Nein, meines Erachtens sind die Folgen des Online-Tsunamis auf das Lebens- und Lernverhalten von Kindern gar nicht hoch genug einzuschätzen. Es wird Zeit, dass wir uns damit in einer problemorientierten öffentlichen Debatte damit befassen, erste Studien gibt es dazu ja schon.
Untergang des Buchs nicht erleiden
Ich rede hier nicht von Abschaffen, Abschalten oder Verteufeln. Ich muss diesem Vorwurf vorbeugen, weil er so sicher wie das Amen in der Kirche aufgestellt werden wird. (Die Online-Community funktioniert da zuverlässig wie ein HB-Männchen – sagst du „Kritik am Internet“, schimpfen sie dich Zensor, Despot und Internetmörder.) Nein, es geht um einen Diskurs auf Augenhöhe. Man kann das Ende der Gutenberg-Kultur ja nicht aufhalten. Dieses Erdbeben findet statt, da können wir uns auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln. Die Frage ist eben, ob wir den Untergang des Buchs, der Zeitung und des Klassenzimmers – also den Formaten der Aufklärung – schulterzuckend erleiden. Oder ob wir ihn gestalten.
tl;dr
Wer sich dem digitalen Lernen nicht in den Weg stellen will, und das analoge Lernen nicht vernachlässigen möchte, der könnte folgendes machen: einen Digital- und Analogpakt (Siehe Waldorfschulen)
Buchstaben in die Kita, digitale Grundbildung ab Klasse 5
- Stärkung des kreativen Lesens ab Kindergartenalter von zwei Jahren: Vorlesen, Bilderbücher, Buchstaben, erste Schreibübungen
- Massive Stärkung des Lese- und Schreibenlernens in der Grundschule (=mehr Stunden ab Klasse 1)
- Einführen des Digitalen erst nach der Grundschule
- ab Klasse 5 Schreibmaschinenkurse (10-Finger-Tippen) und digitale Grundfertigkeiten
- schrittweiser sukzessiver Netzführerschein, um Kindern und Jugendlichen die technischen und sozialen Grundlagen der sozialen Medien, also des Chattens, Gamens etc zu vermitteln
- schrittweises Ausbreiten digitaler Geräte, Medien und Methoden in allen Fächern
(„online“ ist mir zu einfach. Denke, dass es auch gesellschaftliche oder strukturelle Veränderungen gibt, die berücksichtigt werden müssen.)
— Dejan Mihajlović (@DejanFreiburg) October 13, 2017
Ich stimme Ihnen zu!
Auch ich bin betroffen!
Betroffen aus persönlicher Hinsicht: wer unterstützt meine altersbedingt abnehmende Lesefähigkeit? Wer ist später in der Lage, komplexe Texte für mich sinnentnehmend zusammenzufassen (Verträge für mein Zimmer im Altenheim)?
Betroffen aus beruflicher Hinsicht: ich unterrichte an einem SBBZ Esent, also in meiner Klasse sind 7 Kinder mit einem Bildungsanspruch für sozial-emotionale Entwicklung. Mein Klientel kommt nicht nur aus bildungsfernen Schichten. Ich stelle fest, dass Kinder zunehmend Probleme haben zuzuhören, Informationen aufzunehmen und ihr Handeln und Denken darauf sinnvoll abzustimmen! Ihre Merkfähigkeit und das Abstraktionsvermögen sind herabgesetzt. Ihre Frustrationstoleranz deutlich sinkend. Die Gründe sind vielfältig: Digitalisierung, erhöhter Konsum nicht altersentsprechender Medien, überlastete Erziehende, partnerschaftliche Erziehungsstile auch in betreuenden Kindereinrichtungen (Schule, Kita…).
Ich denke, dass Schule Lern- und Lebensort sein muss. Dazu gehört vor allem eine ausreichende personelle Ausstattung mit Fachleuten und kein Löcherstopfen mit Zivis und Hausfrauen. Die räumliche Ausstattung muss den Bedürfnissen der Kinder angemessen sein, Lern- und Lehrmittel müssen frei und zum Lernen auffordernd sein. Und damit meine ich nicht luxuriös.
Ich fragte neulich meine Jungs „Was braucht eine gute Schule?“ Antworten waren für mich ergreifend: Lehrer, die Zeit und Geduld haben, einen Bleistift, der nicht dauernd abbricht, einen Pausenhof mit Dach, wo man im Regen draußen sein kann.
Das zeigt mir, dass die Kinder sehr wohl wissen, was sie für einen erfolgreichen Lerntag brauchen.
Und: Ich lese vor, täglich, Otfried Preusler, wir lernen seine altmodische Sprache kennen und überlegen uns, was die kleine Hexe noch anstellen könnte, um eine gute Hexe zu sein.
Hallo und herzlichen Dank für den Beitrag.
Nicht nur, dass er sehr schön geschrieben ist, Sie haben auch absolut Recht mit den Punkten die Sie aufzählen.
Ich kann auch Ihren Satz nur unterstreichen, wir müssen den Untergang des Buches nicht erleiden. Und ich wäre sogar dafür den Computer und das Internet noch später einzuführen. Wenn man genau überlegt wie Lernen funktioniert, wie das Gehirn lernt, aber auch was man als Mensch braucht um glücklich zu werden und in einer Gesellschaft leben zu können, dann fragt man sich wieso man das so früh ein führen soll.
Jedenfalls bin ich gerade dabei mich hier ein wenig einzulesen und freue mich schon darauf.
Und darf ich den Beitrag auch in meiner fb Gruppe teilen?
Liebe Grüße,
Thomas Stiegler.
https://www.der-leiermann.com/
Vielen Dank, sehr nett. Klar, können Sie das teilen. Grüße, Christian Füller
Guten Morgen Herr Füller!
Die These, dass mit dem Aufkommen der Smartphones die Leistungen schwächer werden ist durchaus interessant … allerdings gibt es aus meiner Sicht bei der Begründung anhand der Daten aus dem IQB-Bericht einen kleinen Schönheitsfehler. Es gibt derzeit 2 IQB-Studien. Eine aus dem Jahr 2011 und nun diese aus dem Jahr 2016, die Veränderungen aufzeigt. In dieser Zeit hat sich zweifelsohne auch der Smartphonebesitz der Kinder deutlich verändert. Leider haben wir aber keine IQB-Studien aus den Jahren 2006, 2001 und 1996, anhand derer man prüfen könnte, ob es auch schon vorher eine Veränderung der Leistungen gegeben hat. Vielleicht war man auch schon vorher auf einem absteigenden Ast? Und vielleicht wären wir mit den derzeitigen Ergebnissen bei IGLU noch immer vorne mit dabei?
Man könnte jetzt auch noch hinterfragen, wieso es in einigen Bundesländern sogar bergauf ging (Hamburg, S-H, Berlin) …. haben die vielleicht eine schlechtere Netzabdeckung?
Wir haben bestenfalls eine Korrelation zwischen Abfall der gemessenen Leistungen und Smartphonebesitz … aber eine Kausalität womöglich nicht.
Vielleicht lohnte sich auch einmal ein Blick in die Kitas. Denn auch da gab es in den letzten Jahren massive strukturelle Veränderung (teils radikale Öffnung bei immer längere Betreuungszeit), die leider immer häufiger dazu führt, dass die Kinder schlechter vorbereitet in der Grundschule ankommen.
Zu guter Letzt: Sie plädieren für die Stärkung des analogen Lernens in der Grundschule. Ich kann Ihnen versichern, dass das Lernen in der Grundschule noch äußerst analog ist. Wir „verplämpern“ die Unterrichtszeit nicht mit digitalem Lernen, denn dafür bräuchte man ja erstmal eine Ausstattung.
Grüße aus dem sonnigen Rheinland!
Vielen Dank für Ihre Antwort und ihre Einwände, zB. dass es keine IQB-Studie von 2001 gebe. Deswegen habe ich ja die Iglu-Studie zitiert, und wissen Sie: ob das jetzt eine Korrelation zwischen Smartphone-Nutzung und Leistungen oder eine Kausalität ist, das sollen die Forscher gerne im Laufe der Zeit klären. Ich bin mir sehr sicher – aus eigenen Beobachtungen, aus Mikroanalysen von Lehrern, aus Studien (Kammerl!) –, dass es da einen ursächlichen Zusammenhang gibt. Ich finde es übrigens grundsätzlich wichtiger, zur Sache beizutragen, wenn sie derart evident ist (gerne, unbedingt auch kritisch), als Metaeinwände vorzutragen, die es geben könnte, aber eben auch nicht geben könnte. Grüße aus Berlin!
Cool, sie haben selber empirische Erfahrungen, „dass die Stifthaltung und die graphomotorischen Fähigkeiten bei den Kindern immer weiter nachlassen.“ Herbstliche Grüße zurück
Ich habe ja auch nie behauptet, dass es eine Verschlechterung nicht gibt. Ich würde aber bei den Gründen nicht nur beim Onlinetsunami suchen.
Ich hätte sogar noch mehr Meta-Einwände:
– die Grafik bezieht sich auf die 12-19-jährigen. Grundschüler sind in der Regel jünger.
– nimmt man statt der IQB-Erhebung die Zahlen der Vera-Tests für NRW aus 2013 und 2017, dann ergibt sich sogar eine Steigerung der Lesekompetenz. Die Zahlen aus den früheren Jahren habe ich nur in der Schule, daher kann ich auf das Jahr 2011 noch keinen Bezug nehmen.
In diesem Sinne kann ich @DejanFreiburg nur zustimmen. „Nur online“ ist zu einfach.