Ein Grundeinkommen könnte für die Würde und Emanzipation des Menschen viel beitragen. Und die neue Logik des Sozialstaats des 21. Jahrhunderts gestalten
Anlässlich einer Tagung an der Evangelischen Akademie Berlin: Geld ohne Gegenleistung: Das Grundeinkommen als Zukunft des Sozialstaates? Der Link zur Prezi-Präsentation steht hier, bitte selbst durchklicken)

Die Szene landete vor Gericht. Sie brannte sich als ein besonders abstoßendes Beispiel von Unmenschlichkeit ein. Ein älterer Herr war in einem Bankvorraum mit Geldautomaten gestürzt oder bewusstlos geworden. Jedenfalls lag er da, im Sterben, wie sich herausstellen sollte – aber die Bankkunden beachteten ihn nicht, sie stiegen sogar über ihn hinüber. Im Prozess, der später gegen die Herzlosen stattfand, wurde der Verlust von Mitgefühl noch auf die Spitze getrieben. Drei der Beklagten argumentierten nämlich, sie hätten den Eindruck gehabt, dass das ein Obdachloser gewesen sei. Um einen Obdachlosen muss man sich nicht kümmern, so lautete die Botschaft. Für den gilt Mitmenschlichkeit nicht.
Neandertal

Was hat die Kälte vor den Geldautomaten mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu tun? Ein so herzloses Argument könnte dann nicht mehr vorgetragen werden – denn mit Grundeinkommen gäbe es wohl keine Obdachlosen mehr. In einer Gesellschaft, die sich für jeden Bürger über 18 Jahren ein Grundeinkommen von 1.000 Euro leistet, müsste kein Mensch mehr auf der Straße schlafen. Damit könnte sich nämlich jeder ein Dach über dem Kopf leisten.
Es wäre nicht der kleinste Beitrag, den das so genannte BGE, das bedingungslose Grundeinkommen, leisten würde. Aber nicht der einzige. Bei allen Vorbehalten gegen ein Grundeinkommen gibt es in meinen Augen bedeutsame Argumente dafür, über ein Grundeinkommen zu diskutieren. Auch wenn es sehr teuer ist – es kostet, je nach Variante zwischen 500 und 800 Milliarden Euro. Auch wenn es die bisherige Logik des Versicherungsstaates durchbricht. Auch wenn es, auf den ersten Blick, das meritokratische Prinzip auflöst – keine Prämie ohne Leistung.
- Würde des Menschen Die Obdachlosigkeit ist der Supergau der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Sie bedeutet, dass es Menschen gibt, die aus dem System so gründlich herausfallen, dass sie das einfachste und fundamentalste Lebensrisiko wieder betrifft: keine warme Unterkunft zu haben, im Freien schlafen müssen. Das ist das Risiko der ersten Menschen, der Neandertaler vor 125.000 Jahren: dass sie in Höhlen, Grotten oder unter Felsvorsprüngen übernachten mussten. Wohnungs- und Obdachlosigkeit aber sind auch heute keine Einzelfälle mehr. Im Jahr 2015 galten über 350.000 Menschen als wohnungslos, also ohne eigene Wohnung, und 40.000 als obdachlos, also tatsächlich auf der Straße lebend. Für 2018 prognostizieren die Experten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe eine halbe Million Wohnungslose.
Menschen zweiter Klasse
Fotos (2): Leroy_Skalstad/Pixabay Skalstad/Pixbay Menschen in diesen Lebensbedingungen sind praktisch Menschen zweiter Klasse. Für sie gelten bestimmte Menschenrechte offenbar nicht mehr – im Verhalten der Menschen wie auch in der öffentlichen Debatte. Erst dieser Tage wieder findet in Berlin eine Diskussion darüber statt, ob man es Obdachlosen gestatten könne, in öffentlichen Parks zu schlafen oder angesagten sichtbaren Plätzen zu hausen. „Wir dürfen das nicht dulden, da die Situation in den Grünanlagen nur noch schlimmer wird“, sagte dazu Franziska Giffey – eine Sozialdemokratin aus Berlin. „Die Grünanlagen und Parks sind für die Erholung der Bürger da. Dafür müssen wir sorgen“. Allein die Möglichkeit, die Plage der Obdachlosigkeit zu überwinden, ist ein Grund, das Grundeinkommen in Erwägung zu ziehen. Die beunruhigende Nachricht dabei ist: der herrschende Sozialstaat ist an bestimmten Stellen dysfunktional geworden. Und der Skandal der Obdachlosigkeit ist nur einer davon. Es geht nicht nur um Würde, es geht auch um Emanzipation.
Lebensbedingungen von Obdachlosen sind ja ein komplexes sozialstaatliches Problem. Es handelt sich um Menschen, welche die Beantragungsprozeduren für staatliche Transferzahlungen nicht leisten können – oder gar nicht leisten wollen. Sie fühlen sich zum Teil auf eine paradoxe Art als Unbevormundete, die zu stolz sind, sich irgendwo für Stütze anzustellen. Das ist ein wichtiger Hinweise auf Emanzipation.
- Emanzipation Nur wer sich sicher ist, dass er einen Konflikt in der Arbeit durchstehen kann, weil er durch ein Grundeinkommen verlässlich und für lange Zeit abgesichert ist, der ist ein freierer Mensch. Der wird sich mehr trauen. Der wird kreativer sein. Der wird kritischer sein. Alles das, was wir im 21. Jahrhundert als wichtige Kompetenzen erachten. Es geht mir hier um das Grundgefühl. Natürlich existiert eine Arbeitslosenversicherung, die jeden auffängt, und zwar unter Umständen mit mehr als 1.000 Euro. Aber alle wissen: die Hartz-Reformen haben an dieser Stelle zu einer deutlichen Verunsicherung geführt. Das Arbeitslosengeld wird nur befristet bezahlt, ein Jahr, und es plumpst danach schnell auf einen unangenehm niedrigen Sockelbetrag. Das ist nicht nur für Arbeitslose hart, es wirkt zurück in die Jobs. Dieses System bietet auch für viele mit Job nicht mehr den selbstverständlichen Halt, den sie spüren würden, wenn sie wüssten: wenn alle Stricke reißen, kriege ich 1.000 Euro. Ohne Angabe von Gründen. Einfach so. So lange ich will. Und ich darf es aufstocken, um so viel, wie ich will.
Ein Grundeinkommen hätte also einen grundlegenden emanzipatorischen Effekt. Und zwar einen, der sich nicht auf das Mitleid und das Caritative bezieht, sondern eine ganz andere Gruppe im Auge hat: Leute, die es eigentlich nicht brauchen. Man kann das am Beispiel der Studierenden und dem so genannten „Bafög für alle“ ganz gut beschreiben. Das Bafög für alle hätte bedeutet, dass auch die – einfach gesagt – Kinder der Schönen und Reichen Anrecht auf die Ausbildungsvergütung haben. Natürlich benötigen diese Studierenden ein Bafög für alle nicht – aber es befreit sie: es macht Schluß mit der fürsorglichen Belagerung ihrer Eltern. Das bedeutet: Das oft gegen das BGE vorgetragene Argument, Wohlhabende hätten darauf keinen Anspruch, verfehlt die Idee. Das Grundeinkommen hat einen egalitären Charakter. Jeder hat Anrecht darauf, wir sind alle gleich. Auch die Kinder von Menschen, die Geld haben, aber möglicherweise Bedingungen von Wohlverhalten daran knüpfen. Diese Kompromittierung wäre im Moment eines BGE außer Kraft gesetzt.
Der digitale Kapitalismus
Das BGE hat aber noch an einer anderen Stelle etwas, das nichts mit Mitleid zu tun hat. Die Gesellschaft befindet sich im Übergang in eine geänderte Form der Beschäftigung. Der digitale Kapitalismus kennt die Normalarbeitsverhältnisse nicht, auf die Marktwirtschaft und ihre Sozialversicherungen zugeschnitten sind. Das heißt, es gibt immer mehr Jobs, die nur phasenweise stattfinden, die machmal auch gut bezahlt sind, aber immer wieder von Nicht-Beschäftigung geprägt sind. Der digitale Kapitalismus braucht also geradezu für seine periodisch Beschäftigten ein Grundeinkommen – als soziales Rückgrat. Und das gilt für die Lebensarbeitszeitphase genau wir für die Rentenphase. Ein Rentensystem, das durch Stop-and-Go-Arbeitsverhältnisse geschwächt ist, muss durch ein Grundeinkommen für Rentner gestützt werden – sonst gibt es massenhaft Altersarmut. Ein Problem, das in der Bundesrepublik unmittelbar bevorsteht. Das heißt aber nicht, dass das Grundeinkommen eine Billigvariante des Sozialstaats werden darf. Die Profiteure des digitalen Kapitalismus, vor allem die unregulierbaren Big Five Apple, Alphabet (Google), Microsoft, Amazone und Facebook, die zu den (sechs) wertvollsten Unternehmen des Planeten zählen. Auch sie werden zahlen müssen – Steuern für ein Grundeinkommen.
- Sozialstaat2.0 Das grundsätzliche Konstruktionsprinzip des herrschenden Sozialstaats geht so: wer Transfers bekommt, mit denen er sich über Wasser hält, der darf nur beschränkt Eigeninitiative entwickeln und eigenes Geld hinzuverdienen. Wenn er etwa hinzuverdient, wird alles über 100 Euro mit 100 Prozent „besteuert“, sprich: muss komplett abgeliefert werden. Man kann das nicht schlankweg kritisieren – denn das ist die verständliche Logik des Sozialstaats: wen das soziale Netz auffängt, der hängt eben erst mal da drin in diesem Netz. Das bedeutet aber eben auch, dass das Netz eine klebrige Angelegenheit ist. Es sichert nicht nur, es lähmt auch, es verleitet zum Hängenbleiben. Wer sich etwas dazu verdient, muss das Geld ab einer Bagatellgrenze wieder abgeben. Das ist kein Anreiz zur Initiative.
Verdammt, nichts zu tun
Davon sind viele Menschen betroffen. Nehmen wir allein die knapp 4,3 Millionen Menschen, die eine Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch beanspruchen können. Man nennt sie „Arbeitslose und nicht Arbeitslose unter den erwerbsfähigen Empfängern der Grundsicherung für Arbeitslose“. Im Jahr 2016 zählten zu ihnen 1,8 Millionen Arbeitslose und 2,5 Millionen nicht Arbeitslose, also Leute, die sich in Ausbildung, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, ungeförderter Erwerbstätigkeit usw. sich befanden. Sie sind dazu verdammt, Stütze zu erhalten und dabei praktisch nichts zu tun, sie sind aus dem sozialen Netz kaum mehr heraus zu holen. Insgesamt befinden sich rund acht Millionen Menschen in den diversen Grundsicherungsmodellen des Staates. Es sind also sehr viele Menschen betroffen.
Ein Grundeinkommen würde ihre Situation schlagartig verändern. Denn es gäbe nun keinen Hinderungsgrund mehr, sich etwas dazu zu verdienen. Sie dürften es behalten. Ihrer Initiative, eigenen Talenten nachzugehen, neue zu erkunden, Experimente zu machen, stünde nichts mehr im Wege. Die narkotische Wirkung der bisherigen Sozialtransfers fiele weg.
Das heißt, dass ein Grundeinkommen nicht nur teuer ist, sondern auch einer völlig neuen Logik folgt. Es sichert die Basis jedes Menschen, ohne seine Initiative zu schmälern. Eine geänderte Konstruktion des Sozialstaats auf der Grundlage einer Grundsicherung ohne Anrechnungsnachweise wäre eine echte Innovation. Es würde anknüpfen an Utopia von Thomas Morus, in dem Arbeit nicht verrichtet wird, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern eine Art kreativer Tätigkeit ist, um etwas zu machen, was einer guten Idee folgt oder um sich selbst zu verwirklichen. Es knüpft an an das Ideal eines Staates, indem es nicht mehr nur zweckgebundene Arbeitsverhältnisse honoriert werden, sondern intrinsisch motivierte.
Bismarck versus Götz Werner
Die beiden sozialstaatlichen Welten „Bismarck“ (dem Erfinder des Sozialstaats) versus „Götz Werner“ (einer der lautesten Befürworter des Grundeinkommens) sind nicht einfach zusammen zu bringen. Es würde zu weit führen, alle Aspekte des Sozialstaats alt gegen den Sozialstaat neu zu vergleichen, zu ersetzen oder kompatibel zu machen. Nur ein Beispiel. Man kann nicht den Sozialstaat alt mit seinen Gesamtbudget von über 900 Milliarden Euro und dem Sozialstaat neu mit Kosten von 500 bis 800 Milliarden nebeneinander setzen und sagen: Ergibt nur noch eine Differenz zwischen 100 und 400 Milliarden Euro. So einfach ist das nicht. Da muss man genauer hinschauen und das heißt: die Differenz ist – rein von den Kosten her gedacht – viel größer: Nur rund 175 Milliarden Euro gehen in die Förder- und Fürsorgesysteme wie die bisherige Grundsicherung. Allein die aus den Sozialversicherungen und den Pensionen, Beihilfen und Arbeitgebersystemen organisierten Beträge belaufen sich auf über 700 Milliarden Euro. Dieses Geld ist beitragsfinanziert – man könnte es nicht einfach für einen staatlichen Grundeinkommensfonds vereinnahmen. Das bedeutet, die Differenz ist viel größer als angenommen.
Aber es geht nicht nur um die Finanzierung, es geht vor allem um eine neue Philosophie. Das heißt, wer das Grundeinkommen mit dem Argument kritisiert, die beiden Logiken von Sozialstaat und BGE passten nicht zusammen, der hat einerseits Recht. Andererseits hat er offenbar nicht verstanden, dass es nötig sein könnte, genau die alte klebrige Logik des Bismark-Sozialstaats zu durchbrechen. Denn sie hat ja etwas Widersinniges. Sie fesselt die Eigeninitiative von Menschen nur deshalb, weil sie einer staatlichen Sicherungs- und Umverteilungsmaschine angehören. Und das kann nicht der Sinn eines Sozialstaats sein, oder?