Die Leopoldina greift als höchste deutsche Gelehrtenakademie mit radikalen Vorschlägen in die Debatte um die psychischen Folgen von unbeschränkter Social Media-Nutzung ein. Ein Gespräch mit dem Sprecher der Fokusgruppe Digitalisierung der Leopoldina, Johannes Buchmann, über Handyverbote bis zur elften Klasse, die Regulation von Social Media – und die Eltern

Herr Buchmann, wie fühlt man sich als jemand, der zu einer Revolution gegen Smartphones und soziale Medien aufruft?
Johannes Buchmann:
Ich denke nicht, dass die Ideen einer Leopoldina-Kommission zur Revolution führen. Wir analysieren, was die wissenschaftliche Evidenz für die Folgen intensiven Social Media-Konsums bei Kindern ist. Und dann machen wir einen abgewogenen Vorschlag, wie Politik und Gesellschaft damit umgehen sollten.

Sie schlagen vor, soziale Medien für unter 13-jährige zu sperren – und Smartphones in den Schulen erst ab der 11. Klasse freizugeben. Das ist das radikalste, was es in der Diskussion über Social Media gibt.
Auch die Landesregierung in Hessen setzt dieses Smartphone-Verbot gerade durch.

Ihre Vorschläge werden die Gesellschaft verändern – und vorher großen Widerstand hervorrufen.

Wir haben uns die Studien angeschaut – und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Voraussetzungen für das Anwenden des Vorsorgeprinzips erfüllt sind. Wir müssen Kinder und Jugendliche vor den negativen Folgen sozialer Medien bewahren – und Smartphones bilden den Zugang zu sozialen Medien.

Wie einig waren Sie sich in Ihrer Kommission?
Wir stehen alle dahinter diesem Papier. Es ist das Konsenspapier einer multidisziplinären Gruppe, in der insbesondere Kolleg*innen aus der Psychologie mitgearbeitet haben.

Ein Risiko ist, dass Kinder ein suchtartiges Verhalten in sozialen Medien entwickeln – und damit die Gefahr einer dauerhaften psychischen Erkrankung entsteht. Davon sind in Deutschland zwischen 300.000 und 600.000 Kinder und Jugendliche betroffen.

Leopoldina

Wie würden Sie Eltern erklären, wie es um ihre Kinder bei TikTok&Co bestellt ist?
Ich würde ihnen zeigen, wie viel Zeit schon kleine Kinder in sozialen Medien zubringen. Wenn das Kind 13, 14 oder 15 alt wird, ist die Wahrscheinlichkeit nicht klein, dass es täglich viele Stunden täglich im Netz zubringt. Dabei entstehen zwei große Risiken.

Welche sind das?
Ein Risiko ist, dass Kinder ein suchtartiges Verhalten in sozialen Medien entwickeln – und damit die Gefahr einer dauerhaften psychischen Erkrankung entsteht. Davon sind in Deutschland zwischen 300.000 und 600.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Wir wissen zugleich, dass psychische Erkrankungen typischerweise vor dem 18. Lebensjahr entstehen. In dieser Zeit ist die Psyche von Kindern und Jugendliche also besonders verletzlich. Das bedeutet, liebe Mutter, lieber Vater: „Du hast ein Risiko, dass dein Kind psychisch krank wird, wenn es TikTok, Instagram usw. intensiv nutzt.“

Was ist das andere große Problem von Social-Media-Missbrauch?
Dass es viele Kinder und Jugendliche gibt, die zwar nicht psychisch krank werden, deren ganze Lebensperformance aber stark infrage gestellt wird. Das heißt, es leiden die körperliche Gesundheit, die Leistungen in der Schule und, einfach gesagt, die Lebensfreude.

Haben Sie in der Kommission darüber gesprochen, wie ein bundesweites Handyverbot politisch erreichbar wäre?
Wir sind Forscher, nicht die Politik. Wir halten es für richtig, das jetzt zu machen.

Die Schulminister schaffen es bisher nicht mal, das Thema Smartphones und Social Media auf die offizielle Tagesordnung der Bildungsministerkonferenz zu setzen. Wie finden Sie das?
Bildung ist Ländersache, eine gemeinsame Position zu entwickeln ist kompliziert. Aber die nicht mehr so neue Bundesregierung geht ebenfalls in unsere Richtung: Sie will den Kinder- und Jugendmedienschutz im Kontext von Digitalisierung stärken.

Es gibt eine eigene „Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz“, die die Chancen sozialer Medien betont und Risiken eher verhalten anspricht. Was tun? Die Behörde abschaffen?
Wir haben Vorschläge gemacht, wie man irreversiblen psychischen Schäden vorbeugen könnte, die bei einem Teil der Jugendlichen durch exzessiven Social-Media-Konsum zu erwarten sind. Wir hoffen, dass die Institutionen das aufgreifen und die Politik ihnen entsprechende Vorgaben macht.

Wie wollen Sie die Mütter und Väter an Bord holen?
Wir halten es für extrem wichtig, eine große bundesweite Aufklärungskampagne zu starten. Sie sollte die Risiken und präventive Maßnahmen in den Blick nehmen – und die Verantwortung der Eltern. Es gibt sehr starke empirische Erkenntnisse darüber, wie entscheidend die Eltern hier sind. Das Stichwort heißt also Aufklärung!

Völlig inakzeptabel ist, dass man als Jugendlicher einfach eine Altersgrenze umgehen kann, indem man „Ich bin schon 16“ oder „Ich bin 18“ anklickt.

Johannes Buchmann

Bieten soziale Medien eigentlich auch Chancen für Kinder und Jugendliche?

Na klar, es gibt sogar eine Menge guter Möglichkeiten, über die wir ein eigenes Kapitel verfasst haben. Wenn die Kinder anfangen, sich in einer angemessenen Art in den sozialen Medien darzustellen, dann kriegen sie ein ganz anderes Selbstwertgefühl. Die Interaktionen zwischen den Jugendlichen werden in den sozialen Medien verstärkt. Es herrscht also durch soziale Medien auch ein Moment der Selbstermächtigung. Das heißt, es gibt beides: Risiken und Chancen.

Kann ein 13-Jähriger den Algorithmus einer sozialen Plattform beherrschen?
Die Antwort lautet: Nein. Wir müssen den Umgang mit sozialen Medien immer an den neuropsychologischen Kapazitäten bewerten, die junge Menschen haben. Und mit einigen Sachen sind die einfach überfordert. Dagegen helfen ihnen auch keine Appelle, Erziehung und Medienbildung. Deswegen haben wir einerseits eine klare Forderung für die Altersgrenze 13 bei soziale Medien. Andererseits wollen wir eine altersgemäße Gestaltung der algorithmischen Empfehlungen. Dafür muss die Aufsicht über die sozialen Medien verstärkt werden.

Das heißt, die EU müsste endlich die Instrumente gegen die Plattformen einsetzen, die sie hat. Was wäre das genaue Ziel?
Dass die algorithmischen Funktionen so gestaltet sind, dass auch junge Menschen soziale Medien verkraften können. Dazu gehört eine Altersgrenze und eine Altersverifikation, die wirklich funktioniert. Es ist völlig inakzeptabel ist, dass man als Jugendlicher einfach eine Altersgrenze umgehen kann, indem man „Ich bin schon 16“ oder „Ich bin 18“ anklickt. Das geht gar nicht.

Warum ist die Gesellschaft beim Alkohol für Jugendliche im Supermarkt so eindeutig – und im Netz so lasch?

Die Frage kann ich nicht beurteilen. Ich bin 30 Jahre lang Informatikprofessor gewesen, kein Politikwissenschaftler oder Soziologe. Ich stimme Ihnen aber völlig zu, dieser Doppelstandard ist schwer zu ertragen. Nur, ehrlich gesagt, denke ich lösungsorientiert. Und heute können wir das lösen. Wir können Altersgrenzen einführen und die Verifikationen des Alters technisch umsetzen. Jetzt müsst ihr es, bitte, auch machen.

Herr Buchmann, was glauben Sie, wie lange es dauert, bis Ihre Vorschläge umgesetzt sind?

Die Zeit ist reif. Ich erwarte, dass in dieser Legislaturperiode die Weichen in die richtige Richtung gestellt werden. Sie brauchen unser Papier nur als Blaupause nehmen.