Warum in Bremen über die Zukunft des gegliederten Schulwesens entschieden wird. Schulleiterin eines Gymnasiums klagt gegen Schulbehörde, Inklusionsklassen einzurichten
Das Original dieses Textes erscheint bei Spiegel-Online
Normalerweise engagiert sich Christel Kelm für die bestmögliche Förderung ihrer Schüler. Kelm ist Schulleiterin des Gymnasiums Horn in Bremen. Eine klasse Schule, die ihre Schüler in Forscherlabore entsendet, das deutsch-französische „Abi-Bac“ anbietet und die Tore für Chinesisch-Lehrer öffnet. Aber nun erlahmt Kelms Lust auf Förderung. Sie hat das Land Bremen verklagt, weil sie keine Kinder mit Handikaps an ihrer Schule haben will. Für fünf behinderte Kinder soll das Gymnasium Horn verschlossen bleiben.

Bei Butten&Binnen gibt es diesen interessanten Beitrag über den Fall des Gymnasiums Horn. Der Fall ähnelt der tragischen Episode von Henri aus Walldorf. 2014 weigerte sich das dortige Gymnasium, Henri auf die Schule zu lassen. Allerdings entschied damals der Schulminister, Andreas Stoch (SPD), die Entscheidung des Gymnasiums zu akzeptieren.
Was die Gymnasialrektorin da an den Tag legt, ist kann man mit dem Verhalten eines Warlords im Schurkenstaat vergleichen: sie missachtet die Menschenrechte, in diesem Fall die von Behinderten. Die Rektorin trägt natürlich keinen Tarnanzug und hat keine Kalaschnikow im Anschlag. Aber auch im Kostüm kann frau gegen eine bindende UN-Konvention verstoßen – hier gegen das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Es geht darin unter anderem darum, dass jeder behinderte Mensch das Recht auf den Besuch der Regelschule hat – und nicht in Sonderschulen separiert werden darf. Deutschland hat diese Konvention ratifiziert, das heißt Kinder mit Handikaps dürfen sich die Schule aussuchen, an der sie lernen wollen. Selbstverständlich gilt diese Konvention auch in Bremen. Kein Land der Welt kann sich herauspicken, welche UN-Deklaration es einhält. Das gilt genauso für das Gymnasium Horn und Christel Kelm.
„Erst haben sie Kinder mit Downsyndrom umgebracht, dann haben sie sie ,in Watte gepackt‘ und de facto in Sonderschulen weggesperrt, jetzt wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen“ https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/wieso-weshalb-warum
Würden wir akzeptieren, dass einer der Völkermörder von Srebrenica zu seiner Verteidigung vorbringt, dort hätten besondere landestypische Bedingungen gegolten? Oder würden wir einem IS-Kämpfer durchgehen lassen – wenn er einst in Den Haag vor Gericht steht –, dass ihm ein lokales oder höheres Recht erlaubt habe, die Oasenstadt Palmyra zu zerstören oder jessidische Mädchen zu verschleppen und zu vergewaltigen? Nein, das würden wir niemals tun.
Medienecho: Der Präzendenzfall, dass sich eine Schule gerichtlich weigert, Inklusionskinder aufzunehmen, findet breiten Widerhall in den Medien. Dazu gehört u.a. dieser scharfe Kommentar einer Kollegin vom Stern, ein Bericht in der taz (der offenbar noch nicht erschienen ist ;-)) Ich setze das morgen fort. Inzwischen hat Michael "Inklusion-als-Problem" Felten geantwortet. Er vergleicht Behinderte mit Bananen und gesteht einer Schulleiterin, die Menschenrechte verletzt, "Zivilcourage" zu. Ich finde das nicht witzig, sondern die Umwertung essenzieller Werte. Zivilcourage zeigt jemand, der sich gegen die Obrigkeit wendet, um Schwache zu schützen. Im Fall Kelm liegt die Sache ganz anders: eine Amtsperson bricht Menschenrechte, um Behinderten die Integration zu verweigern - sie bekommt dafür Beifall eines tosenden AfD-Mobs, der die Existenz eines Menschenrechts als kulturelle überwältigung verdammt. Um es festzuhalten: mit jemandem, der Inklusion nicht als ein Menschenrecht, sondern als eine Plage und ein Problem bezeichnet, sollte man nicht diskutieren. Meint er mit der Plage eigentlich noch die Inklusion oder vielleicht schon die Behinderten? Lest seine Texte, gebt Acht.
Aber bei Christel Kelm geschieht das. Sie beruft sich auf eine landestypische Besonderheit – und will so geltendes Menschenrecht außer Kraft setzen. „Der Unterricht im Gymnasium berücksichtigt die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit einem erhöhten Lerntempo“, steht im lokalen Bremer Schulgesetz. Mit diesem Passus kämpft das Gymnasium Horn dagegen, dass in einer ihrer Klassen neben 19 klassischen Gymnasiasten auch fünf Kinder Platz nehmen, die eine Beeinträchtigung in „Wahrnehmung und Entwicklung“ (W+E) haben, die also geistige und körperliche Behinderungen haben. Als Rektorin eines Gymnasiums soll sich Christel Kelm gern um ihre Institution sorgen. Von ihr als Pädagogin muss man allerdings erwarten, dass sie ihren Job macht: das heißt, Schülern die beste Förderung zuteil werden lässt, allen Kindern – auch so genannten „W+E-Kindern“ mit Beeinträchtigungen, dazu zählen Kinder mit autistischer Veranlagung und solche mit Inselbegabungen.

Frau Kelm hat übrigens eine wichtige Passage des § 20, Absatz 3 weggelassen: Das Gymnasium bietet demnach alle anderen Abschlüsse von Schule an. >>>
Schwachsinnige aufs Gymnasium, jetzt reichts!
Menschenrechtsverächter aus dem Jemen oder Ex-Jugoslawien verdammen wir. Sie bekommen, zurecht, keinen Funken Anteilnahme. Schulleiterin Kelm aber kann sich auf das ungesunde Volksempfinden berufen. „Schwachsinnige auf dem Gymnasium, jetzt reicht´s!“ So lautet – etwas zugespitzt – derzeit die Haltung zur Inklusion, zum gemeinsamen Unterricht für alle Kinder, auch die besonderen. Immer wieder beklagen sich Eltern darüber, dass ihr gesundes Kind in der Schule am Lernen gehindert wird, weil ein verhaltensorigineller oder gehandikapter Mitschüler wahlweise zu langsam, zu laut oder zu lustig ist. Die Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen etwa stützt den Kampf gegen Inklusion. In NRW und Schleswig-Holstein haben CDU und FDP sogar die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, die Inklusion zu überdenken. Wie kann man die Einhaltung von Menschenrechten, bitte, überdenken?
Fünf Rosa Parks am Gymnasium Horn
Es sind – das gehört zur ganzen Wahrheit – manchmal auch die Eltern behinderter Kinder selbst, die sich gegen Inklusion stellen. Sie bevorzugen für ihr Kind den Schonraum spezieller Förderschulen. Das sei ihnen unbenommen. Aber eine Gesellschaft kann nicht kollektiv auf die Einhaltung von Menschenrechten verzichten, nur weil einzelne es tun. Neben Rosa Parks saßen einst im Bus Schwarze, die ihre Sitzreihe für einen Weißen räumten. Das änderte nichts daran, dass Parks die Courage hatte, sitzen zu bleiben – und so das Ende der Rassentrennung einläutete.
Von acht Bremer Gymnasien wird bislang an zweien Inklusion mit so genannten W+E-Klassen angeboten, das Gymnasium Horn wäre das dritte Gymnasium mit diesem Angebot. Bildungssenatorin Claudia Bogedan verzichtete auf eine Stellungnahme für diesen Kommentar. Der Elternsprecher der Schule, Siegbert Meß, verwies darauf, dass sowohl die Lehrer als auch die Eltern eine Stellungnahme abgegeben hätten, die eindeutig pro Inklusion ist. "Wir wollen nicht verhindern, dass W+E-Kinder an unser Gymnasium kommen", sagte Meß.
Ganz so spektakulär klingt der Fall aus Bremen zunächst nicht. Tatsächlich hat er für deutsche Schulen eine Bedeutung, die gar nicht abschätzbar ist. Wenn Christel Kelm mit ihrer Klage gegen die fünf besonderen Kinder Recht bekommt, dann wäre es amtlich: dass das gegliederte Schulwesen gegen die UN-Konvention verstößt. Hierzulande werden seit Jahr und Tag Schüler nach ihrer – angeblichen – geistigen Leistungsfähigkeit in verschieden gute Schulen sortiert. Unterliegt die Schulleiterin aber, dann lernen demnächst fünf Rosa Parks in einem erstklassigen deutschen Gymnasium. Wollen wir hoffen, dass sich die Bremer Helden mit Handikaps nicht mehr vertreiben oder abschulen lassen. Denn dann wäre das Ende der Schultrennung in Deutschland eingeläutet.
P.S. Ich hänge hier ausnahmsweise Kommentare an, die ich via Mail bekommen habe. Ehrlich gesagt, so schnell bin ich bisher noch nicht angepampt worden, glücklicherweise waren auch ermunternde Kommentare dabei. Ich lasse die Namen weg, obwohl die meisten mit Namen schreiben.
Sehr geehrter Herr Füller,
wenn Sie in den letzten Jahren einen ebensolchen Füller in einer deutschen Schule unter Inklusionsdlktat gehalten hätten, würden Sie - mit Verlaub - nicht einen derart hanebüchenen Unsinn geschrieben haben. Sie ersetzen - und darin ist SPON bekanntlich Klassenbester - Fakten vollständig durch Haltung. Das verbrämen Sie dann noch hübsch mit gutmenschlich-revolutionärem Impetus jenseits des Erträglichen. Da ich vom Fach bin, kurz zu den Fakten, denen Sie sicherlich haltungstechnisch vollständig resistent gegenüberstehen, wie ja schon Ihre recherchefreien Ausführungen belegen. Sei’s drum. Vera und Pisa zeigen einen eindeutigen Leistungsabfall an Inklusionsschulen. Punkt. Die Korrelation ist unbestritten, von linken Demagogen abgesehen. Diese Korrelation hat konkrete Gründe, die ein Journalist (sind Sie nicht einer?) recherchieren könnte und müsste. Mit meinen persönlichen Erfahrungen will ich Sie hier gar nicht behelligen. Nur als Empfehlung mit auf den Weg, möchte ich Ihnen folgenden Rat geben, den Ihr Vorgesetzter Ihnen eigentlich per Anweisung und Abmahnung geben müsste: Recherchieren Sie bitte vor Ort. Setzen Sie sich eine Woche lang in eine Inklusionsklasse, wenn Sie es mental durchhalten. Reden Sie mit Lehrern, kurzum: machen Sie Ihren verdammten Job, anstatt die Welt mit Ihrem ideologischen Geschwurbel zu malträtieren. [namentlich gekennzeichnet]
..., Warlords und Schurkenstaaten und dann dichtet der Herr "Poltikwissenchaftler" (also Hilfsschulstudium für Leute, die selbst für BWL oder Jura zu doof sind) auch noch die UN-Behindertenrechtskonvention um. Ist halt nur blöd, dass von dem Füller-Dünnschiß da nun gerade nix drin steht. Wir dürfen wohl auch annehmen, Dünnschiß-Füller hat offenkundig keine Ahnung, was es bedeutet, wenn "verhaltensoriginelle" Kinder das ebenfalls durch die UN garantiert Menschrenrecht auf Bildung für andere Kinder ad absurdum führen. Die Behinderterechtskonvention gelesen/verstanden hat er auch nicht. Und nur mal so, meine gehörlose Cousine hat a) studiert und ist b) nach wie vor an einer Universität beschäftigt. Ausgebildet wurde sie an einer Gehörlosenschule, weil sie dort die bestmögliche Förderung erhalten hat. Und sonst: körperbehinderte Klassenkameraden hatte ich auch - kein Problem - und die "verhaltensoriginellen" wurden rigoros aussortiert und an spezialisierten Schulen unterrichtet (auch von denen haben es viele in ein normales Leben geschafft). Geschehen ist dies in einem Land namens DDR und ganz ohne UN-Konvention. Über blödes Wessigewäsch, wie Ihr bescheuertes Artikelchen, das über primitive Diffamierungen und argumentfreies Gestammel nicht hinauauskommt, kann ich nur lachen. [anonym]
Sehr geehrter Herr, ich habe mich mein Leben lang für eine Gleichberechtigung von behinderten Schülern eingesetzt. Ihr Kommentar behuptet, dass behinderten Schülern Chancen genommen werden wenn sie beispielsweise als Lernbehinderte nicht am Gymniasum an der Schule teilnehmen können. Lernbehinderte Schüler werden am Gymniysium um ihre Zukunft gebracht. Sie werden täglich herabgesetzt. Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein lernbehinderter Schüler Zutrauen findet, wenn er nicht täglich überfordert wird Scheinbar nicht. Wenn Inklusion den Schülern nützt, dann soll sie durchgeführt werden. Im Moment müssen behinderte Schüler allerdings dafür bezahlen, dass eine adäquate Förderung nicht auss nehr stattfinde darf. Ich wünsche Ihnen, dass hoffe, dass Sie auch die Verantwortung übernehmen, die Sie durch solche Kommentare auf sich laden. [anonym]
Vielen Dank für diesen längst überfälligen Kommentar, der die soziale Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems thematisiert (das sage ich bewusst als Gymnasiallehrer).
Und ein dickes Fell für den Shitstorm, der gleich auf sie einprasseln wird. Bei einer Kritik an dem dreizügigen Schulmodell reagiert der Deutsche noch empfindlicher als bei der Forderung nach einem Tempolimit auf der Autobahn!
P.S.: Der einzige Mangel des Artiels besteht mMn darin, dass er vergisst hervorzuheben, dass Inklusion tatsächlich nur funktionieren kann, wenn wir beginnen, wirklich in Bildung und das hierfür benötigte Personal zu investieren. [mit Namen]
Danke für den klaren Artikel zur Bremer Inklusions-Debatte! Ich habe selten oder nie so eine logisch strukturierte Argumentation gelesen, die den zwingenden Zusammenhang zwischen der Einhaltung der Menschenrechte und der Unmöglichkeit eines gegliederten Schulsystems so deutlich freischaufelt.
Liebe Grüße aus Göttingen! [mit Namen]
Sehr geehrter Herr Füller,
danke Ihnen für den Kommentar! Mit dem leidigen Shitstorm werden Sie ja wohl gerechnet haben. Aber es ärgert mich immer wieder, dass in der Diskussion (auch im Spiegel) der Fakt der UN-Konvention entweder vergessen oder aber abgestritten wird. Natürlich ist ihr Kommentar auch ein wenig polemisch geraten. Aber bedenkt man, was in den Kommentaren der Leser zu dem Thema an erschreckendem Unsinn abgesondert wird, so ist Polemik auch gerechtfertigt. Ich selber arbeite seit Jahren an einer inklusiven Schwerpunktschule. Das funktioniert. Und es geht in der Tat auch um Menschenrechte dabei. Also lassen Sie sich von den Kommentaren nicht beirren. [mit Namen]