Making of Schreibschrift vs Druckschrift
In der FAS steht heute [11.5.14] ein langes Stück über die Grundschrift. Die Langfassung steht hier bei Ute Andresens Blog Handschrift. Ein Interview mit Ute Andresen, das noch nicht online steht, eine Nachricht und eine Auskopplung mit Sätzen der Schriftstellerin Cornelia Funke. Die Grundschrift ist eine neue Schrift, die in den Grundschulen gerade um sich greift, und die die Schreibschrift über kurz oder lang auslöschen wird. (Bei Wikipedia über Grundschrift und Schreibschrift.)
Viele werden das Naheliegende kommentieren und sagen, ach, der Computer löscht die Schreibschrift und nicht etwa die neue Grundschrift, die der Grundschulverband mit einer unheimlichen Chuzpe gerade einführt – weil die Kultusminister schlicht schlafen.
1) Computer und verbundene Handschrift
Ute Andresen, mit der Pisaversteher jüngst ein aufschlussreiches Gespräch führte, ist mitnichten eine Gegnerin von Laptop oder Tablet. Frage an Sie: Wozu braucht man noch eine gebundene schöne Handschrift, wenn Computer, Tablets und Smartfones unsere Schrift revolutionieren?
Ute Andresen: Wir sind in der schwierigen Situation, wo uns klar wird, dass wir heute beides brauchen. Und dass beides in der Schule gelehrt werden muss. Weil Eltern diese Kompetenzen praktisch nicht vermitteln können: den Tabletcomputer, damit unsere Kinder sich sicher in der digitalen Welt zurecht finden; und eine Handschrift, die Teil unserer Identität, Kultur und Kommunikation ist. Die Erfahrung zeigt: Dazu brauchen wir sehr gute Lehrer!
Warum?
Ute Andresen: Wir müssen uns viel bewusster um unsere Handschrift bemühen. Sie fliegt uns im Computerzeitalter nicht mehr zu. Ich sage immer, meine Handschrift kann nicht abstürzen, mein Bleistift kann nicht gehackt werden. Was tun wir Kindern an, wenn wir ihre Handschrift nicht gut entwickeln?
2) Die Strategie des Grundschulverbandes
Die ist interessant. Der Verband ist nicht wahnsinnig groß, aber er ist in der Lage, ähnlich wie die Gewerkschaften für Piloten und Müllmänner, eine gezielten Druck auf den vielleicht wichtigsten Teil des deutschen Bildungswesens auszuüben – die Grundschulen. Ohne eine einzige Studie über die Wirkungen einer neuen Schrift, trägt der Verband über die Lehrer die neue Schrift in die Schulen. Der zweite Vorsitzende des Verbandes dazu: „Das ist leider so, dass es keine Forschung gibt. Aber wir als kleiner Verband können uns das nicht leisten. Da muss die öffentliche Hand einspringen.“
Empirische Studien, ob und welche Vorteile die Grundschrift bringt, wurden vor ihrer Einführung nicht vorgenommen. „Es wurde vorher nichts erprobt“, sagte die Grundschulpädagogin Angelika Speck-Hamdan, die im Auftrag des Bayerischen Kultusministeriums die wenigen bayerischen Schulen untersucht, die die Grundschrift anwenden. Die Forscherin konnte dabei keine Empfehlung aussprechen. „Man kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Aussage darüber treffen, ob die Grundschrift … auf dem Weg zu einer flüssigen und lesbaren Handschrift entscheidende Vor- oder Nachteile hat“, heißt es in einem Zwischenbericht vom März 2013. Speck-Hamdan sagte zu den Schriftbildern, die sie in den Schulen vorgefunden hat: „Die Lehrerinnen haben es schleifen lassen. Die sagten sich, ‚es gibt keine Schönschrift mehr, da müssen wir nicht mehr darauf achten’“.
Es gibt eine Studie aus Kanada, die sich eingehend mit cursive befasst hat, das ist die flüssige verbundene Handschrift. Sie zeigt, cursive hat wichtige Vorteile für Schulanfänger, am Ende der zweiten Klasse haben sie deutliche Vorsprünge in Motorik, Worterkennung und Textproduktion. Isabelle Montésinos Montésorin (Dank an meinen Rotstift Brügelmann) et al, The Effects of Manuscript, Cursive or Manuscript/Cursive Styles on Writing Development in Grade 2
„We observed that Cursive students displayed more progress in word production than Manuscript/Cursive and Manuscript students.“
Die bayerische Schulrebellin und Autorin Sabine Czerny warnte vor einem autodidaktischen Schreibenlernen. „Kinder sollten sich eine Schreibschrift nicht selbst beibringen.“ Sie achteten nicht von allein auf Bewegungsablauf, auf richtige Haltung und Rhythmus. „Auf diese Dinge muss die Lehrkraft sehr genau schauen, das bedeutet: das müssen ihnen die Lehrer beibringen.“
Für eine vereinfachte Schrift setzt sich der pädagogische Psychologe Joachim Grabowski von der Universität Hannover ein. Er befasst sich intensiv mit Schreiblernprozessen bei Kindern. Er sagte, gegen eine Vereinfachung des Schreibenlernens sei nichts einzuwenden. „Es fällt gerade Schulanfängern oft schwer, die motorischen und kognitiven Prozesse einer komplexen Schrift zu bewältigen. Ich finde es nur vernünftig, dass man die motorischen Anforderungen an eine Schrift vereinfacht. Schreibdidaktisch bietet eine verbundene Handschrift keinen Vorteil.“
3) Der Fall Thüringen
In Thüringen will sich die CDU dagegen wehren, dass die verbundene Handschrift verschwindet. Das ist ein wenig seltsam – immerhin sitzt sie in der Regierung und hätte 2010 bei der Eliminierung der Schreibschrift aus dem Lehrplan schon Mal aufmerken müssen. Jetzt macht sie die Schreibschrift zum Wahlkampfthema.
Thomas Fügmann, Stv. Vorsitzender der CDU Thüringen, sagte Pisaversteher:
„Kaum hat die SPD das Bildungsministerium besetzt, werden die Normative beseitigt. Wir treten in diesem Wahlkampf an, um das zu korrigieren und die Schreibschrift wieder verbindlich zu machen.“
„Ich finde es falsch, wenn irgendwelche Verbände die Kulturtechnik Schreibschrift aus dem Lehrplan streichen. Man kann das nicht offen lassen, die Schreibschrift muss darin konkret erwähnt werden.“
„Es kann nicht sein, dass jeder nach eigenem Gutdünken seine Schrift entwickelt. Ich bin als Landrat nahe bei den Menschen, die Eltern und Großeltern verlangen, dass die Schule den Kindern weiter die Schreibschrift beibringt.“
Zu „Vorher ist nichts erprobt worden“ und
„Weg mit der Schreibschrift“ (FAS S. 1) und Interview mit Ute Andresen (S. 3)
Stärkung, nicht Abschaffung der Schreibkultur!
Man kann pädagogische und didaktische Konzepte unterschiedlich beurteilen. Fruchtbar wird die Auseinandersetzung aber nur, wenn man die Gegenposition korrekt darstellt und fair beurteilt. Deshalb einige Richtigstellungen.
Das Ausgangsproblem sind die schlechten Handschriften, die seit vielen Jahren als Ergebnis des Unterrichts mit den traditionellen Ausgangsschriften beklagt werden. Mit dem Konzept des Grundschulverbands wird die verbundene Schrift nicht abgeschafft, sondern ohne Umweg über verbindliche Einzelformen entwickelt. Ihre persönliche Handschrift müssen sich die Kinder – anders als nach den traditionellen Lehrgängen gerade nicht „selbst beibringen“; genau hierfür erhalten sie gezielte Unterstützung der Lehrerin. Dieses Konzept soll nicht „eingeführt“, sondern zunächst von solchen Kolleginnen genutzt und erprobt werden, die sich das zutrauen, weil sie besondere Erfahrung und Kompetenz in diesem Bereich haben. Nur so können ja Erfahrungen gesannelt werden. Die vom gemeinnützigen Grundschulverband zur Unterstützung angebotenen Materialien, werden im Übrigen zum Selbstkostenpreis angeboten.
Das Konzept baut auf einer soliden Grundlagenforschung zur Entwicklung der Handschrift auf, die bereits vor zehn Jahren von Mahrhofer systematisch ausgewertet worden ist. Auch Versuche der Umsetzung sind wissenschaftlich begleitet worden – in der Schweiz mit der Konsequenz, dass jetzt alle Kantone die Schreibschrift direkt aus der Druckschrift entwickeln. Die Auswertungen in Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bremen sind noch nicht vollständig, widerlegen aber schon jetzt die dramatisierenden Befürchtungen. Der Verweis auf Studien aus den USA ist unvollständig und blendet wichtige Befunde aus, z. B. dass sich eine verbindende Druckschrift lesbarer und schneller schreiben lässt. Kampagne statt Aufklärung. Schade. Wer sich ein eigenes Urteil bilden will: http://www.die-grundschrift.de/ .
Hans Brügelmann
wie Ute Andresen ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben
Nur nachrichtlich: Der Grundschulverband nennt in seinen Materialien ausdrücklich, dass die Schüler selbst Verbindungen von Buchstaben und Varianten ihrer Schreibschrift diskutieren sollen. 7jährige sollen also eine Schriftkultur selbst neu erfinden, die es samt Regeln und Hinweisen längst gibt, die wichtigste Kulturkompetenz des Menschen – Schreiben, Lesen, Literalität. Nur in den öffentlichen Diskursen der. Grundschulverbandsleute wird dieses „individuelle Lernen“ mit einer Handreichung und Hilfe durch Lehrer versehen.
Was Herr Brügelmann „solide Grundlagenforschung“ nennt, ist die Dissertation einer Forscherin, die eine neue Schrift entwickelt hat. Das ist löblich – hat aber mit kritischer Forschung oder Evaluierung nichts zu tun. Es gibt eine einzige empirische Arbeit im deutschen Sprachraum. 93 Schweizer Grundschüler wurden gestestet – diese „Studie“ aus einem Schweizer Tal ist die empirische Grundlage für die Abschafffung der gelehrten Schreibschrift in einem Industrieland mit 80 Mio Einwohnern und rund 10 Millionen Schülern.
Druckschrift geht schneller als Schreibschrift? Man muss gewiss Professor sein, um gegen die tägliche Erfahrung beinahe jedes schreibenden Menschen anzuargumentieren. Die oben genannte Studie aus Kanada mit den deutschen Hausarbeiten zum Schreiben zu vergleichen – dazu verbietet sich ein Kommentar. Es zeigt halt, wie sich bestimmte Teile der Erziehungswissenschaft von der internationalen Forschugn abgekoppelt haben. Es sind genau jene, die die Internationale Pisa-Forschung brüsk ablehnen. Warum wohl?
In der von Füller als Beleg für Geschwindigkeitsvorteile verbundener Schrift hervorgehobenen Studie steht wörtlich:
„Students who learned cursive style wrote less rapidly than students in the other styles. This observation concurs with other studies and suggests that cursive style weakens writing speed.“
Muss mann wirklich „Professor sein“, um diesen Satz zu verstehen?
Ich weiß nicht, ob man die Bezeichnung Professor nicht mit einem Verfallsdatum kennzeichnen sollte. Neuere Studien aus den USA sind derart faszinierend, dass es sich verbietet, auf solche Kindereien einzugehen. Die Erkenntnisse von Berninger und James http://www.nytimes.com/2014/06/03/science/whats-lost-as-handwriting-fades.html daher lieber im Haupttext und nicht mehr als Antwort auf plattestes Lobbying.
Die Förderung einer persönlichen Handschrift ist ein Sachproblem. Dabei sind unterschiedliche Gesichtspunkte zu bedenken. Simple Lösungen gibt es nicht, und auch eine tragfähige Forschung ist methodisch nicht einfach. Überzeugende Studien zugunsten der traditionellen Praxis kenne ich nicht.
Also sollte man nachdenklich mit ernsthaften Versuchen umgehen, einen besseren Weg zu finden. (…)
hans brügelmann
[in den Kommentarspalten des Blogs sind weder persönliche Kommentierungen noch Werbung möglich, daher wurde der Beitrag von Herrn Brügelmann gekürzt]
Cornelia sagt am Anfang: „Ich sage immer, meine Handschrift kann nicht abstürzen, mein Bleistift kann nicht gehackt werden. Was tun wir Kindern an, wenn wir ihre Handschrift nicht gut entwickeln?“
Das ist doch bullshit, ein Stift kann zum Beispiel leer sein, oder die Spitze abbrechen, er kann austrocknen oder anders Kaputt gehen, das Papier kann nass werden usw. Und wenn man das Abstürzen von Computer als Problem sieht sollte man bessere Software schreiben nicht auf Papier mit Graphit ‚rum kratzen.
Und was die Hackability von analoger Schrift betrifft ist sie wesentlich anfälliger als digitale Kommunikation, jeder kann einen Brief in meinem Namen verfassen und an jemanden schicken, es gibt keine Authentifizierungs Infrastruktur, keine Signaturen oder Handshakes auf die sich analog geschriebenes berufen könnte. Und was eine Analoge Unterschrift so „unfälschbar“ macht muss mir auch noch jemand glaubhaft darlegen, das kann nämlich jeder mit ein bisschen Übung und ist daher weit leichter als einen PGP Schlüssel zu errechnen.
Was tun wir Kindern denn an wenn wir ihnen so was nicht beibringen? Ich schreiben maximal 2min/monat analog, darauf hätte ich nicht so viel Zeit verschwenden müssen, und tendenziell wird das eher weniger.
Zu: Stärkung, nicht Abschaffung der Schreibkultur! (vom 12.05.14)
Der Leserbrief von Herrn Brügelmann beginnt mit dem plumpen Versuch, Kritikern der Grundschrift Korrektheit und Fairness abzusprechen. Einig ist Herr Brügelmann indes mit Kritikern der Grundschrift, dass schlechte Handschriften zu beklagen sind. Immerhin! Was die Ursachen betrifft, setzt Brügelmann auf die Vergesslichkeit der Leser. Wurde die VA nicht seinerzeit vom Grundschulverband mit denselben Versprechen angepriesen wie heute die Grundschrift?
Doch wer kennt nicht das Ergebnis, die heute überall zu beobachtenden hässlichen Krakelschriften? Hat es damals eine begleitende Forschung gegeben? Haben sich Grundschulverband und wissenschaftliche Didaktik die Mühe gemacht, die immer deutlicher werdenden Schriftdefizite zu analysieren? Übernimmt jemand die Verantwortung für das gegenwärtige Schriftdesaster? Glaubt der Grundschulverband, die Fachöffentlichkeit wird es unwidersprochen hinnehmen, dass der Grundschulverband seine Hände in Unschuld wäscht?
Brügelmann will uns glauben machen, dass die traditionellen Ausgangsschriften zu diesem Ergebnis geführt hätten. Schriftprobleme des gegenwärtigen Ausmaßes hat es zu den Zeiten der wirklich traditionellen Ausgangsschrift, der Lateinischen Ausgangsschrift (LA), nicht gegeben und auch nicht in der ehemaligen DDR, in der eine leicht modifizierte Form der LA, die SAS, vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der VA begann das heutige Schriftelend. Aber statt nun zu Bewährtem zurückzukehren und sich an eine funktionierende Didaktik des Schreibenlernens zu erinnern, werden nun neue Experimente gestartet.
Der Clou an der Grundschrift soll nun sein, dass Grundschulkinder so genannte „verbindliche Einzelformen“ zu einer verbunden Schrift entwickelt sollen. Bei den „verbindlichen Einzelformen“ dürfte es sich um die Druckbuchstaben handeln. Diese sollten auch bislang schon zu einer Schreibschrift verbunden werden – sozusagen „ganz einfach“ in der „Vereinfachten Ausgangsschrift“ mit einem Verbindungsstrich. Dieses erste Experiment ist bereits grandios gescheitert! Nun sollen die Kinder selbst intelligentere Lösungen finden als der Erfinder der VA, der eine vorherige Überprüfung seines Konzepts durch neutrale Dritte (Wissenschaft) für unnötig hielt. Nun sollen besondere Kolleginnen, „die sich das zutrauen“, den nächsten Blindversuch durchführen. Schluss mit diesen Experimenten auf dem Rücken von Schutzbefohlenen! Wer neue Ideen hat, muss VORHER beweisen, dass sie besser sind als das Bewährte. Ansonsten dient die Schule erneut Karrieristen und Lehrbuchautoren als Spielwiese für Privatinteressen.
Zum Erlernen der Rechtschreibung spielt die verbundene Schrift eine bedeutende Rolle
Derzeit werden die verbundenen Schriften aus der Grundschule gedrängt: die Lateinische Schrift, die Vereinfachte Ausgangsschrift, die SchulAusgangsschrift. Sie seien „historisch überholt“, so hieß es noch bis Dezember 2013 in der Argumentation des Grundschulverbands. Alle Kinder sollen fortan nur noch die (unverbundene) Grundschrift lernen: Das Material zur Theorie ist käuflich zu erwerben beim Grundschulverband, die Schülermaterialien dazu gibt es bei vpm, dem Verlag auch für die anderen Materialien des Professorenpaares H. Brügelmann/E. Brinkmann. Längst schon vertreibt Erika Brinkmann dort auch ihre Grundschulmaterialien in Grundschrift.
Der Grundschuldidaktiker Prof. Dr. W. Eichler bezieht sich auf die Gedächtnisforschung und argumentiert gegen gegen die Abschaffung der verbundenen Schriften:
„Ein wenig im Abseits der üblichen Blicke auf das Lerngeschehen befindet sich die
4. Lernspur: Die Einübung fester Engramme als Schreibbewegungsmuster in die schreibende Hand. Dies geht natürlich nur mit einer motorisch orientierten, also verbundenen Schrift, in der ganze Wörter oder Wortteile ohne Absetzen in einem Zug geschrieben werden.[…] Diese Engramme kann man mit geschlossenen Augen, also auch ohne visuelle Kontrolle, niederschreiben. Kinder, die eine verbundene Schrift lernen, schreiben kleine Wörter und Wortteile wie der, ein, aber auch -heit, -keit erstaunlich schnell und ohne nachzudenken richtig, obwohl diese Wörter Rechtschreibschwierigkeiten beinhalten, die eigentlich noch nicht gemeistert werden, … .“ (Streitschrift Eichler contra Brügelmann/https://dl.dropboxusercontent.com/u/21116330/eichler.13.sea_rsu.eigenes_konzept.130911.korr.pdf/01.11.2013)
Übrigens ist Prof. Eichler längst nicht der einzige Wissenschaftler, der diese 4. Lernspur auf dem Weg in das rechte Schreiben, also die Einübung „fester Engramme als Schreibbewegungs-muster in die schreibende Hand“, für unverzichtbar hält. Ein geübter Schreiber braucht kaum noch nachzudenken oder zu analysieren: Silben, Wortbausteine, ganze – auch schwierig zu schreibende – Wörter können schnell und sicher verschriftet werden. Es ist kaum zu verstehen, dass ausgerechnet ein Grundschulpädagoge, Brügelmann eben, eigentlich nur pädagogischer Seiteneinsteiger, der selber nie Schullehrer war und auch kein Fachstudium in Fachdidaktik Deutsch, in den Sprachwissenschaften oder der Psychologie nachweisen kann, mit schiefer Lehre und dürftiger Argumentation viele Kinder um die Chance bringt, auch die 4. Lernspur auf dem Weg zu einer gefestigten Rechtschreibkompetenz nutzen zu können.
Mit einer stichhaltigen Argumentation gegen das von Grundschuldidaktiker Eichler vorgetragene und sich auf die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung berufende Plädoyer für Beibehaltung der verbundenen Schriften im Anfangsunterricht mag Brügelmann sich offenbar immer nicht so gern befassen. Vielleicht ist er ja dabei zu begreifen, dass er mit seinen simplifizierenden Formeln und Floskeln den Ansprüchen einer soliden Forschung auf Dauer nicht genügen kann.
Vorher nichts erprobt – und nachher nichts evaluiert!
Die weiterführenden Schulen klagen seit den neunziger Jahren über unlesbare Krakelschriften und identifizieren sie überwiegend als persönliches Defizit der Schüler. Motorische Störungen, übermäßige Computerorientierung und mangelnde Anstrengungsbereitschaft werden allzu leicht als unmittelbar einleuchtende Ursachen angeführt. Wie sollen Lehrer, Eltern und auch die Schüler selbst das anders sehen, wenn weder Behörden noch Wissenschaften es für nötig halten, Schriftprobleme und langfristige Schriftentwicklungen überhaupt zu thematisieren und nach deren Ursachen zu forschen?
Ist es nicht denkbar einfach, vergleichende Schriftproben zu nehmen und diese zu analysieren? Ist es nicht von Interesse, welche Fehlformen und Koordinationsprobleme gehäuft auftreten und wie sie entstanden sein könnten? Offenbar nicht! Noch nicht einmal die Anzahl der durch mangelnde Schriftkompetenz benachteiligten Schüler wird eruiert. Und das seit Jahrzehnten. Versäumnisse der Schriftdidaktik können so überhaupt nicht in den Fokus geraten. Fehlende Untersuchungen werden nun sogar argumentativ genutzt, um unangefochten Unerprobtes propagieren zu können. Es wird weiterhin nur von dem gesprochen, was sein soll, statt zu schauen, was ist. So bleibt der Weg frei für lukrative Innovationen mit neuen Verheißungen – wie jetzt bei der Grundschrift.
Soll mit der nun vom Grundschulverband geforderten Druckschrift namens Grundschrift unkenntlich gemacht werden, dass eine erfolgreiche Schreibschriftvermittlung seit Einführung der Vereinfachten Ausgangsschrift (ebenfalls vom GSV propagiert!) nicht mehr stattfindet? Mit der VA wird eine Schrift vermittelt, die die Schüler größtenteils schon zu Beginn der 5. Klasse aufgeben. Die erlernte Schrift hält einer Beschleunigung nicht stand und neigt zu Entgleisungen. Die Schüler sind gezwungen, auf die Druckschrift zurückzugreifen, um Lesbares zu produzieren und beim erhöhten Schreibaufkommen in den weiterführenden Schulen mithalten zu können. Schüler, die den Absprung nicht schaffen, bleiben häufig mit einem Schrifthandicap zurück. Das ist das Ergebnis einer von mir durchgeführten Schriftprobenerhebung von über 1000 Fünftklässlern im Zeitraum 2010 – 2013. Betrachtet man die Handschriften der Zehntklässler, muss man sagen, dass die Schreibschrift – zumindest in NRW – faktisch so gut wie abgeschafft ist. Die aktuelle Diskussion „Schreibschrift – ja oder nein?“ läuft an der Realität vorbei, kommt aber vielleicht noch gerade rechtzeitig, um die Schreibschrift als schnelles und belastbares Arbeitsmedium wieder in den Fokus zu rücken und die Versäumnisse der Grundschuldidaktik aufzuarbeiten.
„Das Konzept baut auf einer soliden Grundlagenforschung zur Entwicklung der Handschrift auf, die bereits vor zehn Jahren von Mahrhofer systematisch ausgewertet worden ist.“ (Brügelmann, 12.05.14)
Wer an einer eingehenderen Analyse der „soliden Grundlagenforschung“ zum Grundschrift-Konzept oder auch der fehlerbehafteten Veröffentlichungspraxis von Hans Brügelmann zum Themenbereich „Von der Druckschrift zur persönlichen Handschrift“ interessiert ist, findet reichhaltige Darstellungen unter http://www.grundschrift.info