Der Streit für und wider die Abschaffung der Schreibschrift ist ein Kulturkampf. Aber nicht nur das, es geht in Wahrheit auch noch um etwas anderes: um die Digitalisierung und viel Geld.
Pisaversteher hat in einem Text für die FAS (heute Sonntag, 19. April) zwei Phänomene nebeneinander gestellt, um herauszufinden, ob sie etwas miteinander zu tun haben:
Die kakophonische Debatte um die Abschaffung der Schreibschrift auf der einen Seite.
Und den Diskurs um Einführung digitaler Endgeräte wie Tablets für alle Schüler auf der anderen Seite.
Handschrift: Der Grundschulverband behauptet, die Schreibkrise lösen zu können, indem er die Schreibschrift für Schüler abschafft. Und die bisherige Druckschrift in eine neue Grundschrift überführt. Das soll den Schülern angeblich mehr Freiheiten geben. Grundschüler dürften beim Schreibenlernen keinem „Verbindungszwang“ mehr unterworfen werden, steht in den Lehrmaterialien des Grundschulverbandes, sondern sollten in Schreibkonferenzen „Schreibweisen ausprobieren und miteinander beraten“.
Lernen2.0 mit Tablets & Co: Wahrscheinlich aber ist die Interessenvertretung der Grundschullehrer nur der nützliche Idiot für etwas ganz anderes – die Einführung von Tablets. In Deutschland wäre das digitale Lernen mit Tablets, Blogs und Apps eine pädagogische Revolution – und ein gigantisches Geschäft.
Ein Bericht aus den USA zeigt, dass da viel Geld im Spiel ist - und schnell auch Betrug.
Die Vollversorgung von Schülern in ganz Deutschland käme auf knapp sieben Milliarden Euro – die erforderlichen Aktualisierungen nicht eingerechnet. Das ist eine seriös kalkulierte Berechnung auf der Grundlage des Schulberaters Olaf Kleinschmidt. Interessanterweise wissen weder der Branchenverband der Telekom-Industrien noch einzelne große Unternehmen wie Samsung noch die Bertelsmann-Stiftung (die auf Anfrage von Pisaversteher nun eine Expertise dazu erstellen lässt), was eine Vollabdeckung aller Schüler in Deutschland kosten würde. Verwunderlich.
Zusammengefasst kann man sagen:
Erst geht die Schreibschrift – dann kommt der Computer.
Dass Schulen mehr Computer anschaffen ist prinzipiell kein Unheil. Die Digitalisierung der Schulen ist ohnehin nicht aufzuhalten. Schon jetzt gibt es spannende Lernprojekte: sei es mit der Kooperation von Schülern über Lernplattformen und Blogs; sei es mit Lern-Apps, etwa jenen, mit denen man Arbeitsdokumentationen als E-Books mit Film, Bild, Grafiken und Ton erstellen kann. Bislang allerdings geht das Projekt „Tablets für jeden Schüler“ und Lernen2.0 nicht sehr fix voran. Eine Abschaffung der Schreibschrift würde diesen Stau auf geradezu rabiate Weise lösen – sie würde wie ein Brandbeschleuniger für die zähe deutsche Debatte wirken. Der Verlust der Handschrift erzwingt es gewissermaßen, an den Schulen Rechner zu verteilen, flächendeckend und möglichst schnell. Die Schüler fänden das großartig, die beherrschen die kleinen Maschinchen aus dem Effeff. Für die Lehrer aber wäre es wie ein Überfall aus dem Hinterhalt. Und für die Schulen bedeutete es einen neuerlichen pädagogischen Schock.
Siehe auch: Diskussion am 26. April 13 Uhr in der digital eatery über "Digitale Bildungswelten: - Zukunft oder Illusion?", links gibt es hier und hier.
Gerade bei guten Tablets mit echtem Schreibstift wäre die Handschrift auch sehr nützlich!
Da es vor Zeiten – manche mögen sich daran erinnern – mit dem Newton ein Gerät gegeben hat, das Schreibschrift „konnte“ und individuelle Handschriften gelernt hat, scheint mir die Argumentation nicht schlüssig
Ich glaube, der Beitrag schießt etwas über das Ziel hinaus. Die Abschaffung von Schreibschrift mit verbundenen Buchstaben ist nicht die Abschaffung der Schreibschrift generell. Schreibschrift wird weiterhin verwendet werden, weil sie der schnellere und einfachere Weg zum Notieren kurzer Inhalte ist. Das kann jeder Tablet-Nutzer bestätigen.
Im Gegenteil: Mancher Schüler lernt die Computerschrift schon vor der Schule kennen und wird dann derzeit gezwungen, die alte Schreibschrift zusätzlich zu erlernen – obwohl er unter Umständen nur in der Schule so schreiben würde, und zuhause auf die gewohnte Druckschrift ausweicht.
Das ist das gleiche, wie wenn wir in unserer Generation (Jahrgang 86) gezwungen worden wären, in altdeutscher Frakturschrift zu schreiben. Unvorstellbar!
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Ich entwickle übrigens selbst eine Lern-App und bin damit naturgemäß unter den „bösen wirtschaftlichen Verwertern“ 😉
Als App-Designer weiß ich aber, dass die beste Empfehlung für Lerner ist, sich mit Papier und Stift ans Tablet zu setzen, und damit die kniffligen Aufgaben zu lösen. Warum? Weil ein Tablet allein viel weniger flexibel als Papier ist, und in den nächsten Jahrzahnten weiterhin relativ unflexibel bleiben wird.
werter matthias lange, es reicht leider nicht, eine app zu programmieren, es geht schon um mehr. zunächst darum zu verstehen, welche bedeutung die art hat, wie eine schrift erlernt wird. tatsächlich würde mit der abschaffung der schreibschrift nicht nur die schnelle lesbare schrift verloren gehen, sondern eben auch die mit dem lernprozess untrennbar verbundene ausprägung von hirn und kultur – und zwar im wortsinne: es gehen synapsen verloren. das erlernen einer schrift ist der fundamentale lernvorgang schlechthin – ihn abzuschaffen ist natürlich möglich; aber es ist sinnvoll, über diese reform gründlicher nachzudenken
, als sie es tun. ich belasse es mal bei diesem kurzen hinweis, sie sollten sich die einschlägigen studien einfach ansehen. es lohnt sich.auf einem tablet kann man übrigens nicht schreibschrift schreiben und auch nicht lernen; man kann auch nicht mal so eben bleistift und papier wieder in die hand nehmen. haben sie sich einmal die schreibformate von kindern angesehen, die nicht schreiben gelernt haben? wie kommen sie auf die idee, dass diese nicht-schrift-anwender sich plötzlich wieder der schrift zuwenden? man kann mit einem fußball auch nach jahren ein bisschen herumbollern – aber schreiben mit einem füller, wenn man es nicht gelernt hat?
und zur fraktur bzw. sütterlin: fraktur ist ja die letter-fassung für den druck. machen sie sich mal die mühe, ein paar sätze in sütterlin zu schreiben – und sie werden staunen, wie viel schneller und leichter sie etwa ein „A“ schreiben können, wenn sie das sütterlin-a beschleunigen, es wird immer schneller – und dabei immer mehr wie ein ausgangsschriftliches a. es ist also eine völlig falsche vorstellung zu glauben, dass man schneller ans ziel kommt, indem man die buchstaben begradigt und verkürzt. nicht umsonst macht man beim schnellen verbinden von buchstaben luftbögen, man holt im individuellen lernprozess gewissermaßen die schwünge und bögen nach, die einem äußerlichen betrachter als lästig und überflüssig erscheinen.
aber das ist für sie unvorstellbar – weil sie diese kalligrafische figur nicht kennen und daher blind für sie sind. ein verlust an: kultur, geschwindigkeit, rhythmus – und reflexion.
Lieber Christian Füller, vielen Dank für diesen informativen und absolut richtigen Zusatz. Ich arbeite seit vielen Jahren als Legasthenietherapeutin. Schon mit der Einführung der vereinfachten Ausgangsschrift kamen in der Legasthenietherapie gehäuft Probleme auf uns zu, die wir so vorher nicht hatten. Die Handschrift vieler Kinder ist mittlerweile kaum noch lesbar. Neuerdings dienen wertvolle Therapiestunden zunächst einmal dem Trainieren einer runden, fließenden und lesbaren Schrift. Meine Kollegen und ich mögen gar nicht daran denken, welche Auswirkung die Grundschrift auf betroffenen Kinder hat.
Mit einer nicht verbundenen Handschrift, die nach fast jedem Buchstaben das Wort im Schreibfluss unterbricht, wird unter anderem auch das Erlernen des korrekten Sprachrhythmus für Kinder, die diesen nicht intuitiv erfassen, massiv erschwert.
Heute las ich in unserer Tageszeitung über einen jungen Mann und seine Großmutter, die sich gegenseitig Briefe in der Sütterlinschrift schreiben. Sie bewahrt seine Briefe in einem Ordner auf, er in einer Zigarrenkiste. Beide bezeichnen diese Schriftstücke als wertvollen Schatz. Ich möchte damit nicht behaupten, dass wir zur Sütterlinschrift zurück sollen. Aber wer liest denn heute noch eine E-Mail, oder eine sonstige Kurznachricht, oder gar einen „Post“ mehrmals? Gibt sich einer in einem handgeschriebenen „Dokument“ Mühe beim Ausführen der Schriftzeichen, so überlegt er meiner Erfahrung nach auch eher, was er mitteilen möchte.
Herzliche Grüße
Anette Gampe
Der Artikel begeht den üblichen Fehler, Handschrift und Schreibschrift nicht auseinanderzuhalten. Am Anfang wird noch erklärt, wie die Grundschrift gemeint ist und in Zukunft gelehrt werden könnte, aber dann schließt der Artikel plötzlich mit der Idee des »Verlustes der Handschrift«, der die Einführung von digitalen Geräten erzwingen würde. Welcher Verlust denn? Die handgeschriebene Blockschrift oder die Grundschrift (als Kompromiss aus Blockschrift und Schreibschrift) sind beides Hand-(!)Schriften und die generelle Abschaffung der Handschrift steht momentan nirgends zur Diskussion. Damit fällt die Argumentation des Artikels komplett in sich zusammen.
Und bezüglich der These des »großen Geldes«: Haben Sie auch nur die Spur eines Beleges, dass es hier irgendwelche Interessenkonflikte oder Lenkungen im Hintergrund gibt? Wenn ja, bitte zeigen Sie diese doch auf! Ansonsten ist das einfach eine substanzlose wilde Spekulation.
Der Text begeht diesen Fehler gerade nicht, den sie monieren. Er unterscheidet zwischen den Schriften ohne die Leser zu überfordern. Sie begehen allerdings den Fehler zu glauben, dass die Grundschrift in der Lage sei, so etwas wie eine persönliche und integrale Handschrift zu begründen. Ich empfehle Ihnen das Gespräch mit Schreiblehrern.
Die mit der Einführung digitaler Lernmöglichkeiten verbundenen Geräteparks sind technisch und finanziell derart aufwändig, dass ich ihre Frage, ehrlich gesagt, gar nicht verstehe. Allein die Tatsache, dass sich manche (Bundes-) Länder und Schulen die Geräte nicht leisten können, ist doch ein sicheres Indiz für eine pekuniäre Überforderung. Und steht nicht in meinem Text der Hinweis auf den großen Finanzskandal mit Tablets in LA?
Kurz: Wenn jemand wie Sie das offensichtliche übersehen kann, dann fragt man sich: Was ist ihr Punkt? Was wollen Sie eigentlich sagen? Was führen Sie im Schilde?
Lb. Pisaversteher, ich danke Ihnen von Herzen für die Antwort auf das unsägliche Statement des Herrn RH, wie ich es kürzlich (vermutlich von eben diesem) auch auf typografie.info (Forum) erlebte – dieses überhebliche chauvinistische Herabgeschaue auf die Schreibschriftbefürworter, die (sogar) zu blöd sind, Schreibschrift von Handschrift zu unterscheiden, weil schließlich die sog. „Grundschrift“ schließlich auch Handschrift sei.
Meine Vermutung, dass das Verschwinden der Handschrift die zwingende Folge der Abschaffung der Schreibschrift sein wird, und es insofern auch gleich ist, ob wir in diesem Zusammenhang von Schreibschrift oder Handschrift reden, bekam auf die gleiche unkultivierte, aggressive Art eine Abfuhr, gegen die man sich regelrecht aufgefordert führt, schärfere Geschütze aufzufahren.
Ich teile die Meinung, dass die sog. Grundschrift nicht dazu geeignet ist und sein wird, eine persönliche Handschrift zu entwickeln und behaupte, sie ist eine „Krücke“, ein Notbehelf von der Zeit des Schuleintritts bis zur Überreichung des Tablets – also eine ganze Grundschulzeit…
Zitat vom niederländischen Schrift- und Schreibexperten Gerrit Noordzij:
»Den Schreibunterricht kurieren wir, wenn wir der Schrift die zweite Dimension des Strichs und die dritte Dimension der Schreibbewegung wiedergeben.«