Bei der neuerlichen Pisa-Kritik geht es gar nicht um die Verdatung und Ökonomisierung durch Pisa
Kritische Lehrer warnen am falschen Objekt, aber Gefahr besteht: der Verwandlung von Kindheit in vorherbestimmte Laufbahnen – durch Digitalisierung
Eine Herleitung in zehn Schritten: Was war und zu welchem Ende wurde Pisa veranstaltet und – absichtlich – missverstanden? (1-9) Was hat das mit der Digitalisierung zu tun? (10)
- Das Neue an Pisa war, dass man Leistungen von Schülern messbar machte. Allerdings waren die Ergebnisse nicht dazu da, Schüler zu benoten oder ihre Leistung individuell zu bewerten. Pisa wirkte quasi wie ein Röntgenapparat für Schulen. Er zeigte erstmals auf, wie Schulen abschneiden. Und es gab Hinweise, wie man diese Leistungen mit sozialen oder pädagogischen Ursachen erklären kann.
„Der schiefe Turm von Pisa ist unten schief, nicht oben.“ (Christoph Daum über die Ergebnisse der Pisa-Studien in Deutschland) - Pisa (und daraus abgeleitete Vergleichstests wie Vera) haben Schulverwaltung und Bürgern wichtige Erkenntnisse geliefert: Wie groß ist die Risikogruppe von Schülern, die kaum „lesen“ können? (23,8 Prozent!) Wie hängt das mit ihrer sozialen Herkunft zusammen? (stark, entscheidend) Wie ist der Abstand zwischen guten und schlechten Schülern, zwischen einzelnen Schulen? (riesig) Pisa brachte den Beweis: Das deutsche Schulsystem ist zutiefst unfair, es benachteiligt durch seine Schulformen Kinder aus nichtakademischen Familien und Zuwanderer. Christoph Daum fasste das einst unnachahmlich zusammen mit den Worten: „Der schiefe Turm von Pisa ist unten schief, nicht oben.“
- Aber das Schulsystem ist auch leistungsschwach. Das symbolisierte der 23. Platz im Ranking von 32 Staaten beim ersten Pisa-Test 2001. Selbst der deutsche Pisasieger Bayern produzierte damals nur 12,5 Prozent Spitzenschüler – wenig im Vergleich zu den 19 Prozent in Finnland. Alarmierend war die Zahl der schwachen Schüler. Pisa zeigte, dass auch Bayerns Schulen mehr schlechte Schüler (14,5 Prozent) als sehr gute entlassen. Und dass Bundesländer wie Bremen ihr Schulsystem eigentlich dicht machen müssten: fast 40 Prozent Risikoschüler. Ein Skandal. Bremen, NRW, Hessen, das Saarland waren der Supergau der deutschen Schule – enthüllt durch die Pisa-Detailergebnisse.
Bremen, NRW, Hessen, das Saarland waren der Supergau der deutschen Schule – enthüllt durch die Pisa-Detailergebnisse.
4. Das wichtigste: Pisa machte Schluss mit der deutschen Begabungslehre. Die Idee, dass bestimmte Kinder qua Herkunft bestimmte Schulen besuchen müssen, ist durch die Studie ad absurdum geführt worden. Wahrscheinlich die größte Leistung: Die deutsche Schule wurde so aus dem 19. ins 21. Jahrhundert katapultiert. Für die vermeintliche Kulturnation war das verständlicherweise ein Schock. Das hat Rachegelüste entstehen lassen.
Die GEW will Pisa diskreditieren
5. Vergleichstests wie Vera wurde von den Schulbehörden – und von Lehrern und Eltern – zum Teil grob missverstanden. Lehrer etwa gaben Einzelergebnisse der Kinder an die Eltern weiter oder benutzten sie gar zur Notengebung. Vor allem Lehrer aus der Gewerkschaft GEW missinterpretierten das System – absichtlich. Sie wollten die Studie diskreditieren. So wurde herbeifantasiert, was in den USA tatsächlich ein Problem ist: teaching to the test. Schüler lernen nicht mehr für sich, sondern für den nächsten Vergleichstest. Freilich ist dies irreführend. Deutsche Schulen sind mit US-amerikanischen auf diesem Gebiet in keiner Weise vergleichbar. Dort ist eine regelrechte Testindustrie am Werk. Hierzulande aber sind nicht die Pisa-Vera-usw-Vergleichstests das Problem, sondern die traditionell starke Noten- und Zeugnisfixierung.

6. Die GEW wollte Pisa nie haben. Sie benutzte den Spruch „Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter“, um Pisa zu verhindern. Das war zynisch – und hatte einen Zweck. Man wollte, dass schlechte Lehrer und Schulen weiter unentdeckt bleiben. Das System sollte „in-put“-orientiert sein und auf keinen Fall auf der Grundlage von „out-puts“ transparent werden. Zwischendurch gab die GEW ihren Widerstand auf. Inzwischen ist eine neue Kritikwelle entstanden. Pisa muss weg – wegen der vermeintlichen Ökonomisierung, die es mit sich bringe. Die Kritik an Pisa kommt inzwischen auch von Philosophen und Schulidealisten, aber auch von rechten Gruppen, die Begabungslehre und dreigliedrige Schule zurück haben wollen.
7. Dennoch ist manche Kritik an Pisa berechtigt, genauer daran, wie mit der Studie umgegangen wurde. Die Öffentlichkeit reagierte geradezu hysterisch auf den Schultest. Kein Wunder. Sie wurde plötzlich aus dem Traum gerissen, deutsche Schulen seien, erstens, spitze und, zweitens, von Dichtern und Denkern geprägt. Man merkte plötzlich: die Helden der deutschen Schule sind nicht JW Goethe oder Thomas Mann, sondern Risikoschüler und „funktionale Analphabeten“.

Pisa beendete die Lebenslüge, dass die allseits gebildete Persönlichkeit Wilhelm von Humboldts etwas mit dem Schulsystem zu tun habe. Den Deutschen wurde ruckartig klar, dass es nicht nur Gymnasien gibt, sondern eben auch Hauptschulen. Die Realität hielt Einzug.
8. Die Schulminister weigerten sich zunächst, die Kernergebnisse von Pisa überhaupt anzuerkennen: Leistungsschwäche, Selektivität, Ungerechtigkeit, Leistungsspreizung zwischen Schulen – das durfte nicht sein. Also wurden die Ergebnisse angezweifelt (Deutschland schlechter als USA, unmöglich!).
Schulminister verlangten, „Ausländer“, Sonder- und Hauptschüler aus der Studie auszuschließen oder wenigstens herauszurechnen.
Der Erfinder der Pisa-Studie, der Deutsche Andreas Schleicher, musste sich von Kultusministern der Union anfeinden lassen. Die beleidigten Minister weigerten sich, Schleicher zu empfangen. Pisa war insofern auch ein Kindergarten. Inzwischen wurde der Spuk beendet: Die Kultusminister stiegen aus dem Pisa-Bundesländervergleich aus. War ja auch zu peinlich!
Die Kultusminister sind Chaoten
9. Wieso wird die Pisa-Kritik trotzdem wieder lauter? Der wichtigste Anlass dürfte die Schwemme an Abiturienten sein. Es wird ein Zusammenhang mit angeblich gezielten Reformen hergestellt. Seit Pisa schwappte eine Welle von Schulreformen über das Land, so viel ist richtig. In der Tat chaotisierte das die Schulen und die armen Lehrer. Dafür wird Pisa verantwortlich gemacht. Das ist aber irreführend. Denn gezielt, gewollt oder normativ war da wenig. Erst wurden irgendwelche Maßnahmen ergriffen, die mit den Erkenntnissen von Pisa praktisch nichts zu tun hatten (Ganztagsschulen; G8-Einführung; Zentralabitur). Dann wurden viele Detailreformen angestoßen, die man gar nicht alle aufzählen kann, etwa die grotesken Bekämpfungen des Unterrichtsausfalls (der schlicht an unfähigen Schulbürokratien und dem Beamtenstatus hängt). Allerdings wurden nach und nach integrierte Schulen eingeführt – ein richtiger Schritt. Der aber zum Teil heimlich, zum Teil als Etikettenschwindel ausgeführt wurde: Bayern etwa schaffte seine Hauptschulen nicht ab, sondern benannte sie kurzerhand um. Koordiniert wurde nichts. Seit Pisa ist die Zahl der Sekundarschulen von grundsätzlich vier (Haupt-, Real-, Ober-, Gesamtschule) auf 14 explodiert. Eigentlich sind es mehr, aber die Namen und Modelle überschneiden sich so oft, dass eine trennscharfe Unterscheidung von Regel-, Mittel-, Real-, Real+-, Werkreal-, Haupt-Sekundar-, ISS-, Gemeinschafts-, Regional-, Stadteil-, Ober- usw.-Schulen gar nicht mehr geht. Die Kultusminister sind Chaoten, anders kann man das nicht sagen.
10. Die Kritik an Pisa, die sich an der Verdatung und Individualisierung des Lernens entzündet, hat dennoch etwas Vorausschauendes: Erst die Digitalisierung der Schule wird die großen Befürchtungen erfüllen, die gerade geäußert werden. Mit Pisa-Daten konnte man nur Schulen röntgen, nicht einzelne Schüler nachverfolgen, denn die Daten sind anonymisiert. Mit den Daten aus Lernmanagementsystemen und der Kompletterfassung jeder Schülerleistung und -äußerung aber wird eine überwachte Schule entstehen. Big Data bringt Big Brother. Dann wird man den Weg jedes einzelnen Schülers exakt nachzeichnen, aber auch steuern können. Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung feiert in seinem Buch, dass künftig Rechner die Aufgaben stellen: „individuelle Lehrpläne, die ein Computer für jeden Schüler täglich neu errechnet.“ Aufgrund vorher gemachter Tests.
Das Aufwachsen der Kinder wird, Künstliche Intelligenz macht´s möglich, von der Wiege bis zum Job erfasst. Kindheit wird zu einer (vorherbestimmten) Laufbahn.
Big Data bringt aber auch Big Business. Denn die ganzen Netzwerke, Rechner, Bildschirme, Endgeräte, Datenleitungen, mit denen die Lerndaten der Kinder erhoben und analysiert werden, die muss ja jemand liefern. Ein Milliardenmarkt. – An dem eine zutiefst naive, netzeuphorische Gemeinde von Web2.0-Lehrern mitbastelt.
Danke für die übersichtliche Darstellung von PISA und den Ereignissen, die damit zusammenhängen. Kann im Großen und Ganzen nur zustimmen. PISA war ein Weckruf, doch keiner wollte ihn hören. Das Bildungssystem, welche weltweit einmal Vorbild war und kopiert wurde, wurde von seinem Sockel gestoßen, die bestehende Selbstgefälligkeit bildungspolitischer Kleinstaaterei vorgeführt. Systemimmanente Probleme, die auch durch eine angestrebte „Chancengleichheit für alle“ nicht behoben werden konnten, wurden endlich einmal aufgezeigt. Man kann PISA also eigentlich nur dankbar sein. Leider war man bei uns jedoch, anders als in manch anderen Ländern, nicht in der Lage, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechende Lösungen in die Wege zu leiten.
Die Gefahr, welche bei #10 skizziert wird, sehe ich ebenfalls und dass schon länger. In den USA ist der große Trend das digital Assessment. Die diversen Plattformen machen es einfach. Noten oder Punkte können direkt innerhalb der Plattform vergeben werden. Es entstehen umfangreiche Lernerprofile.
Es gibt durchaus positive Ansätze, die persönlichen Daten von Schülern durch Single Sign On Systeme wie in NRW Logineo NRW oder Learnline zu schützen. Betreiber von Lernplattformen wie Cornelsen oder Klett erhalten dabei lediglich ein Token, nicht jedoch Individualdaten.
Big Data in den Schulen bedeutet, wie richtig beschrieben, Big Business für die großen Konzerne wie Bertelsmann, Pearson und ähnlich. Es ist ein milliardenschwerer Markt mit garantierten Einnahmen.
Für Lehrer kann eine Lernplattform enorme Vorteile bringen, was die Benotung und den Nachweis von Schülerleistungen angeht. Es müssen keine Hefte eingesammelt werden, alles ist digital erfasst und dokumentiert, Leistung oder auch nicht erbrachte Leistung. Das ist bequem und schafft Sicherheit in einer Zeit, wo Eltern gerne um halbe Noten klagen.
Man kann nur hoffen, dass die Datenschutzbestimmungen, welche für Schule aktuell gelten in Deutschland, nicht aufgeweicht werden. Lehrer müssen darüber hinaus sensibilisiert werden, welche Problematik die Nutzung von Online Diensten mit Schülern bringen kann.
Merci, Damian, Lob von Ihnen erfreut mich ganz besonders
Auch wenn ich einige Details anders sehen würde – in den großen Linien muss ich zustimmen. Zu befürchten ist, dass „Chaoten“ sich von den Versprechungen des digitalen Lernens zu leicht beeindrucken lassen und Datenschutz etc. hinten runter fallen.
Leider sind auch viele Edu-StartUps da wenig hilfreich – Datenschutz ist halt nicht disruptive 😉
Dieser Beitrag erinnert mich an die Fußball-Weltmeisterschaft: So viele Leute am Spielfeldrand wissen genau was zu tun ist – Wozu braucht man da noch einen Trainer? Die Experten haben ja eh keine Ahnung, oder?
Aber mal ernsthaft: Als Lehrer und GEW Mitglied würde ich mir hier und da einen sachlicheren Ton wünschen. Wenn man solche Anschuldigungen (GEW möchte, dass schlechte Lehrer unenddeckt bleiben) vorbringt, sollte man diese sehr genau belegen können. Sonst könnte leicht der Eindruck entstehen, dass hier ohne tiefere Sachkenntnis einfach eine persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht wird!
Im übrigen sollte man sich man überlegen, dass es auch bei Lehrern natürlicherweise eine gewisse Bandbreite der Befähigung gibt – wie in jedem Beruf. Und wir Lehrer müssen auch mit einer gewissen Bandbreite von Eltern und Schülern klarkommen. Wenn es so einfach wäre, die Probleme zu lösen, wären sie längst gelöst. Daher mein Tipp an den Autor: Werden Sie Lehrer oder Politiker und machen Sie es besser. Aber glauben Sie mir: aus eigener Erfahrung weiß ich sehr gut, dass die Umsetzung von Ideen meist schwieriger ist, als deren Formulierung.