Schulpolitik weiß seit 20 Jahren, wie schlecht und ungerecht Schule ist. Endlich wurde das richtige Programm gegen Bildungsarmut verabredet. Doch wieder kommt es nicht. Was Marienthal-Schulen und Politik gemeinsam haben
Am Ende des Jahres 2022 geht es nicht anders, als auf einen Skandal hinzuweisen. Auch wenn die Begriffe Skandal, Krise und Katastrophe überstrapaziert sind, hier muss das so gesagt sein: Die VierklässlerInnen liefern katastrophale Ergebnisse ab, und die Politik macht: zunächst nichts. Das politische System ist offenkundig nicht in der Lage, annähernd gleiche Bildungs- und Lebenschancen seiner Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Und das trotz wiederkehrender Alarmzeichen.
Ich meine die Krise der Bildungsarmut. Und die Tatsache, dass wir aktuell zwei Programme im politischen Betrieb haben, die eigentlich das richtige Ziel verfolgen, aber entweder verzögert angegangen oder bald abgestellt werden. Ich spreche vom so genannten Startchancen-Programm und den Sprachkitas. Was sich die Politik hier erlaubt, ist nichts weniger als ungeheuerlich: wir wissen seit der ersten Pisa-Studie (die im Jahr 2001 veröffentlicht wurde) und dem Bildungstrend (der im Oktober 2022 das Licht der Welt erblickte), dass wir ein extrem leistungsschwaches Schulsystem haben und eines, das es sozial Benachteiligten besonders schwer macht, aufzusteigen. Nein, man muss es genauer sagen: das Kinder aus benachteiligten Familien weiter hinunterdrückt.
Aber was macht die Schulpolitik? Zunächst nichts.
Würde man mit einem Handwerksmeister, einer Grundschullehrerin und einem Bildungsforscher wie Aladin El Mafaalani bei einem Glühwein ziellos darüber fachsimpeln, wie man dieser Situation halbwegs gerecht werden kann, dann würde man ganz schnell bei den Grundelementen der Sprachkitas und des Startchancenprogrammes landen. Also,
- den Kindern bereits in der Kita zu helfen, die sprachliche Probleme haben oder genauer: diese Artikulationsstolperer und -blockaden gar nicht erst entstehen zu lassen;
- den Schulen, in denen sich Bildungsarmut konzentriert, sofort mit gezielter finanzieller Förderung unter die Arme zu greifen;
- den SchulleiterInnen dieser Einrichtungen einen Teil dieses Budgets zur freien Verwendung geben;
- und diese Schulen bevorzugt mit SozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen sowie weiterem professionellem Personal auszustatten – wenn es schon keine Lehrkräfte gibt: mit Krankenschwestern, Master-Studierenden und Freizeitpädagogen
Am Geisteszustand derer zweifeln, die das ausgeheckt haben
Das ist das richtige Programm, leider ein bisschen spät, aber es wäre Deckel auf Topf. Aber was macht die Politik? Die Sprach-Kitas wurden fast zehn Jahre lang mit jährlich rund 260 Millionen Euro gefördert. Wenige Tage nach der Studie Bildungstrend, die nachdrücklich empfiehlt, Lese-Schwächen bereits in der Kita entgegen zu treten, wird dieses Programm gestoppt. Das ist derart unfassbar, dass man am Geisteszustand derjenigen zweifeln muss, die diesen Unsinn ausgeheckt haben. (Inzwischen wurde es, das muss man der Vollständigkeit halber erwähnen, notdürftig geflickt – und verlängert. Für ein halbes Jahr!)
Genauso beim Startchancenprogramm: es soll zwei Milliarden Euro in die benachteiligten Schulen pumpen. Jährlich. Richtig! Bravo! Gut so! So wollen es SPD, Grüne und FDP. Jedenfalls haben sie es im Koalitionsvertrag vereinbart. Wahrscheinlich ist es mit das beste, was in diesem Vertrag steht. Aber was geschieht? Dieses Programm startete nicht etwa sofort, nachdem der Bildungstrend bekannt wurde. Nein, die Politik schob es auf das Jahr 2024. Nach allem, was man hört, ist noch nicht mal dieser Programmbeginn gesichert.
Ich frage mich, als jemand, der seit etwa 25 Jahren diesen Politikbetrieb und die Situation im Bildungswesen verfolgt: wie ruchlos muss ein politisches System eigentlich sein, wenn es derartig essenzielle Programme verzögert, blockiert, kleinredet und mit groteskem Gezänk begleitet? Wenn man sie schon mal verabredet hat, warum setzt man sie nicht einfach um!
Ich erlaube mir mal zu schildern, wie diese Schulen, denen man das Geld und die Hilfe nun verweigert, in ihrem Inneren aussehen.

Dazu reicht eine Zahl aus dem Bildungstrend und eine vertiefte Untersuchung aus dem Jahr 2001. (BAUMERT, J. /SCHÜMER, G.: „Schulformen als selektionsbedingte Lernmilieus“.)
Vier von zehn verfehlen Mindeststandard in Orthografie
In den Bundesländern Berlin, Brandenburg und Bremen schaffen über 40 Prozent der ViertklässlerInnen die Mindeststandards in Orthographie nicht. Das bedeutet, dass Schule ihren originären Auftrag verfehlt: Kindern das Schreiben beizubringen. Lesen, Schreiben und Rechnen – das sind nunmal die Kulturtechniken, um an einer (modernen) Gesellschaft teilhaben zu können. Schule wurde gegründet, um sie Kindern beizubringen. Das ist ihr Job. Ich würde dazu heute auch noch digitale Grundkenntnisse als vierte Kulturtechnik zählen. Aber warum sollen wir über digitale Souveränität sprechen, wenn wir in den genannten Bundesländern bei fast der Hälfte der Schüler Texte schlicht nicht mehr lesen können. Weil diese Kinder es nicht gelernt haben, mehr als 30 Prozent eines Textes korrekt zu artikulieren.
Jürgen Baumert, der deutsche Mister Pisa, hatte sich nach der ersten Veröffentlichung des Schulvergleichstests genauer angesehen, welche Schulen in Deutschland eigentlich besonders benachteiligt sind. Es sind Schulen, in denen…
… 50 Prozent der Kinder Sitzenbleiber sind;
… 50 Prozent aus Elternhäusern kommen, in denen kein Deutsch gesprochen wird;
… 40 Prozent der Schüler Eltern ohne abgeschlossenen Beruf haben;
… 40 Prozent der Schüler in jüngerer Zeit Gewalterfahrungen gemacht haben.
Wenn es schon verabredet ist, warum machen sie es nicht?
Eine solche Mischung ist kaum auszuhalten, und genau deswegen hat Jürgen Baumert, der weiß Gott kein Revoluzzer ist, nüchtern festgestellt, dass Schulen einer derartigen sozialen Komposition mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Weil diese Schulen weder dem Art. 3 der Gleichheit gerecht werden noch den einzelnen Schülern der in Art. 2 gewährleistete freien Selbstentfaltung ihrer Persönlichkeit genügen. Baumert nannte diese Schulen Marienthalschulen. Weil sie jener Situation nahe kommen, die in der berühmten Studie von Paul Lazarfsfeld „Die Arbeitslosen von Marienthal“ beschrieben ist: dort war unter den Menschen eine Mischung aus Resignation, Depression und antriebsloser Apathie verbreitet.
Und handelt sich hier nicht um ein paar wenige Schulen. Im Bundesdurchschnitt sind immerhin 16 Prozent der Hauptschulen solche kritischen Schulmilieus. Aber in Berlin sind 60 Prozent der Hauptschulen so zusammengesetzt, in Hamburg 68 Prozent, in Bremen 95 Prozent, in Hessen 52 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 44 Prozent. Bei den Realschulen sieht es besser aus. Aber nur ein bisschen.
Für all’ diese Schulen wäre das Startchancen-Programm genau das richtige Mittel, um aus Unterschichtsfabriken wieder halbwegs funktionierende Lerneinrichtungen zu machen. Wenn es nicht im Koalitionsvertrag stünde, müsste man dieses Programm neu erfinden. Aber wenn es schon da steht – warum machen wir es dann nicht endlich! Werden wir von Schulpolitikern aus Marienthal regiert? Sollen erneut große Teile von weiteren drei Generationen von Grundschülern die Klippe der Sprachlosigkeit hinunterfallen?