Am 15. November diskutieren in Potsdam Wissenschaftler, Politiker und Praktiker über den vorsorgenden Sozialstaat. Unter anderem mit Jutta Allmendinger, Matthias Platzeck, Manuela Schwesig, Franz Müntefering.
Pisaversteher Christian Füller wird über Inklusion und vorsorgenden Sozialstaat einen Impuls geben und mit Dr. Karin Salzberg-Ludwig, Universität Potsdam, sowie Bildungs-Staatssekretär Burkhard Jungkamp diskutieren.
Vorab hier ein Thesenpapier, das zu dem Schluss kommt, dass ein breites Verständnis von Inklusion heißt, die Risikoschüler genau wie die besonderen Kinder in Schulen mit einer anderen, neuen Lernkultur miteinzubeziehen. Dazu bedarf es einer Kulturrevolution des Lernens.

Inklusion und Integration

1. Herausforderungen und Ziele

Für einen vorsorgenden Sozialstaat liegt ein zentraler Ansatzpunkt in einer inklusiven Schulpolitik – und zugleich die große Herausforderung. Es gilt, sie in einem erweiterten Verständnis als möglichst alle Kinder einschließende Schul- und Sozialpolitik zu begreifen. Das zeigt sich insbesondere, wenn man sich die Sozialdaten der Brandenburger Pisaergebnisse genauer betrachtet.

Nach PISA-Studien wurde in Potsdam häufig gefeiert. Brandenburg habe „das sozial gerechteste Schulsystem Deutschlands“, hieß es stets. Das galt bis Pisa 2003, danach aber kam die Ernüchterung. In der bislang jüngsten PISA-Studie 2006 ist Brandenburg deutlicher schlechter geworden. Es ist viermal so wahrscheinlich aufs Gymnasium zu kommen, wenn die Eltern studiert haben, als wenn sie Facharbeiter sind. Zwar ist es gelungen, die Zahl der Risikoschüler von 30 auf 24 Prozent zu reduzieren. Zugleich stiegen die Leistungen der Brandenburger Schüler insgesamt an, so dass das Land nun die Schlusslichter hinter sich gelassen hat und ans PISA-Mittelfeld Anschluss gefunden hat. Was also ist passiert, dass trotzdem die Ungerechtigkeit steigt?

Brandenburgs Entwicklung zeigt das Drama von Schulerfolgen und sozialer Gerechtigkeit.Die wichtigste Erkenntnis ist, dass alle Schüler besser werden. Die Zuwächse der Leseleistungen seit dem Jahr 2000 sind die zweitstärksten in Deutschland überhaupt. Das ist eine uneingeschränkt gute Botschaft. Dennoch verweisen die PISA-Forscher darauf, dass Besserwerden allein nicht reicht.

Die intellektuelle Oberschicht, so die Interpretation der Forscher, hat ihre Lektion aus PISA gelernt. Über 60 Prozent der Akademikerkinder machen 2006 in Brandenburg die Penne – ein Zuwachs von über zehn Prozentpunkten gegenüber 2000. Das ist gut, aber es bringt das sensible Gleichgewicht der Bildungsgerechtigkeit sofort aus dem Lot, wenn im unteren Leistungssegment nicht ebenso große Erfolge erzielt werden.

Ein Viertel der 15-Jährigen kann nur auf Grundschulniveau lesen. Zugleich gelten nur 11 Prozent der Schüler als exzellente Leser. Brandenburg produziert also weiter doppelt so viele Risikoschüler wie Spitzenschüler.

Darin besteht die Herausforderung. Wenn Brandenburg auf schulischem Gebiet einen vorsorgenden Sozialstaat realisieren will, dann geht das nicht über die Erhöhung der Sozialtransfers, sondern durch die Verbesserung der Schulen. Längsschnittstudien des Wissenschaftszentrums Berlin zeigen, dass sich Bildungsarmut in Armut überträgt, es entstehen sich verfestigende Nachteilsmilieus. (Pfahl 2010) Das heißt die inklusive Schule ist eine gute Schule, die nicht mehr frontal Wissen verlädt, sondern individuell Talente entdecken und Potenziale entwickeln hilft.

Die gute Schule ist die Basiseinheit des vorsorgenden Sozialstaats so wie Sozial- und Arbeitslosenhilfe die Basiseinheit des Bismarck´schen Sozialstaaats waren.

Wichtige Herausforderungen der Inklusion im Bildungsbereich stellen sich im Bezug auf behinderte Kinder. Das Land Brandenburg steht wie die ganze Bundesrepublik vor der Aufgabe, mindestens mittelfristig jedem Kind einen Platz in der Regelschule anbieten zu können. „Jedem Kind“ bedeutet dabei, grundsätzlich auch behinderte oder, besser, besondere Kinder aufzunehmen. Bisher werden sie in den vielen verschiedenen Formen von Förderschulen unterrichtet – separiert von den so genannten „normalen“ Kindern. Der Besuch des Bildungs-Sondergesandten Vernor Villalobos Munoz des UN-Menschenrechtskommissars (UN 2007) und die 2009 ratifizierte UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Handikaps (Behindertenrechtskonvention 2009) hat einen klaren Auftrag gebracht: Kein Kind darf mehr gegen seinen oder den Willen der Eltern aus dem allgemeinbildenden Schulwesen ausgeschlossen werden. Behinderte Kinder müssen im Gegenteil inkludiert werden, daher der Begriff: Inklusion. Es gibt zwar unterschiedliche juristische Interpretationen des Politikziels der Konvention. An dem Grundverständnis besteht indes kein Zweifel.

Das Land Brandenburg weist laut einem SoVD-Barometer eine hohen Anteil an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf. 8,3 Prozent der Kinder haben einen solchen Bedarf im Vergleich zu 5,8 Prozent im Bundesdurchschnitt. Es wird allerdings nur rund ein Viertel dieser Kinder integrativ unterrichtet, das bedeutet im gemeinsamen Unterricht mit Kindern ohne Handikaps. Der Sozialverband kommt zu dem Schluss: „Es besteht erheblicher Handlungsbedarf.“ Denn: „Ein offensiver Umgang mit den Herausforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention findet in der politischen Öffentlichkeit [Brandenburgs] bislang nur unzureichend statt.“

Der Zusammenhang zum neuen Sozialstaat liegt auf der Hand. Es gehört zum Ziel des vorsorgenden Sozialstaats, teure soziale Versicherungsrisiken durch Bildungs- und Qualifikationdefizite gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Abgänger von Sonderschulen werden indes zu 80 Prozent ohne jeden Abschluss von ihren Schulen entlassen. Wocken spricht davon, dass an der Sonderschule „pädagogische Friedhofsruhe“ herrsche. (Wocken 2005) Studien des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zeigen die verheerenden Wirkungen des Besuchs von Sonderschulen auf das Selbstbild der Schüler. (Pfahl/Powell 2008) Die Vermutung, eine Sonderschule sei ein Schonraum wird allenfalls von einem Teil der Eltern akzeptiert. (Schumann 2007) Anerkannte Autoren bezeichnen die Situation als Menschenrechtsverletzung im deutschen Schulsystem. (Pfahl/Powell 2010)

In den Sonderschulen landen keineswegs nur körperlich oder geistig behinderte Kinder, sondern zu über 50 Prozent so genannter Lernbehinderter oder Kinder mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten. Diese Kinder stammen überproportional aus benachteiligten Familien. (Jugend- und Familienbericht) Bildungsarmut vererbt sich also direkt und wird zu Armut. Baumert (2006) hat am Beispiel von Haupt- und Realschulen gezeigt, dass solche negativen differenziellen Lernmilieus eine Art Marienthal-Atmosphäre in den Schulen entstehen lassen: Apathie, Resignation, Selbstaufgabe

2. Probleme

Eine Umstellung von einer Regelschule auf eine inklusive Schule ist über Nacht nicht zu haben. Selbst die konsequentesten Verfechter wie die Betroffenenverbände der Behinderten konzedieren, dass es einer umfassenden baulichen, sozialtherapeutischen, vor allem aber pädagogischen Reform der Regelschule kommen muss. Es ist nicht zielführend, dem Beispiel anderer Bundesländer zu folgen und den inklusiven Unterricht durch einfaches Hineinbeordern der besonderen Kinder in die Regelschule zu erreichen. Dazu braucht es Fortbildung, personelle und finanzielle Ressourcen. Auch wird ein bloßes Anflanschen von Behindertengruppen an bestehende Schulen in Form von Außenklassen dem Geist der Konvention und den Bedüfnissen besonderer Kinder im Unterricht nicht gerecht.

Inklusion setzt, kurz gesagt, eine Kulturrevolution des Lernens voraus.

Das gilt für die Schulen, die eine Integration von behinderten Kindern vornehmen genau wie für jene, die mit einer Rate von einem Viertel Risikoschülern versuchen Schule zum machen. Die Schulen sind bislang nur vereinzelt in der Lage, mit heterogenen Lerngruppen positiv umzugehen. Die äußere Leistungsdifferenzierung, also Trennung der Leistungsgruppen und sozialen Schichten, ist sogar den integrativen Gesamtschulen durch KMK-Vereinbarung vorgeschrieben. Das hat zu einer pädagogischen Verarmung geführt.

Allerdings gibt es insbesondere in Brandenburg herausragende Beispiele, wie man Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam lernen lassen kann. Die „Waldhofschule Templin, Eine Schule für alle“ hat dafür 2010 einen der hoch angesehenen deutschen Schulpreise gewonnen. Der Schule ist es gelungen, im Verlauf von nur acht Jahren von einer Schule für geistig Behinderte zu einer inklusiven Schule zu werden, die je zur Hälfte besondere und andere Kinder gemeinsam unterrichtet. Auch die Montessori-Oberschule Potsdam ist Schulpreisträger, sie arbeitet integrativ, das heißt sie nimmt besondere Kinder auf, allerdings nicht zu dem Anteil Templins.

Die Umgestaltung zu einer inklusiven Schule darf nicht auf Basis des einfachen Wegfalls sonderpädagogischer Diagnosen und Förderbedarfe erfolgen. Das ist zwar kostengünstig, aber es konterkariert erstens das legitime Ziel der Umstellung, die Integration besonderer Kinder. Und es beschwört zweitens die Gefahr einer negativen öffentlichen Wirkung. Die Behindertenverbände haben gezeigt, dass sie mit der UN-Konvention im Rücken die Rechte von Kindern mit Förderbedarf publizistisch sehr erfolgreich aufbereiten können.

Jedes Kind und alle Eltern, die sich in ihren Rechten beeinträchtigt sehen, können sich juristisch dagegen bei einer UN-Stelle zur Wehr setzen. (Deutsches Institut für Menschrechte) Inzwischen wird daran gearbeitet, einen Präzedenzfall zu schaffen und einen Fall verweigerter inklusiver Lernmöglichkeiten erfolgreich vor ein deutsches Gericht zu bringen.

3. Strategien und Instrumente

Inklusion bedeutet also, die teilweise Fiktion der heterogenen Lerngruppe zur Realität jeder Schule werden zu lassen. Jedes Kind gehören von Anfang an dazu. Das ist eine enorme Herausforderung für Prozesse der Schulentwicklung. Die Gesellschaft, die Wirtschaft, der Staat müssen sich entscheiden, was sie wollen. Chancen für möglichst jeden Schüler – das bedeutet einen radikalen Modernisierung des Lernens.

Zwischen guten Schulen und einer technologisch hochwertigen Produktion gibt es genauso eine Verbindung wie zwischen schlechten Regelschulen und einer wachsenden Dichte prekärer Milieus. Diese Verbindung ist die Demografie. In Zeiten schrumpfender Gesellschaften darf und kann man kein Kind zurück lassen. Weder aus moralischen noch aus ökonomischen Gründen.

Die Regierungspartner Brandenburgs haben sich verpflichtet, die UN-Konvention umzusetzen. Die Koalitionsvereinbarung bleibt aber bislang vage. Sie wollen dies durch ein Gesetz in konkrete Schritte übersetzen; die Debatte in Potsdam kann eventuell Eckpunkte dazu beitragen.

Eine Strategie könnte sein, best practice-Schulen in jeder Region/Stadt einzurichten, die als Vorreiter für andere Schulen fungieren. Allerdings zeigen die Erfahrungen, dass der Funke von Leuchtturmschulen nicht zwingend auf Partnerschulen überspringt.

4. Diskussionsfragen

Eine kritische Diskussion muss die aktuellen, sehr konkreten Problemfelder adressieren, ohne sich in jedem Detail zu verlieren. Es treten folgende Leitfragen auf:

 

  1. Was sind die pädagogischen und finanziellen Herausforderungen, um Schulen so in-klusiv wie möglich zu gestalten, so dass Lernen unabhängig von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und anderen Benachteiligungen ermöglicht wird?

  2. Wie sieht eine erfolgreiche Strategie zum flächendeckenden Umbau von Regelschu-len zu inklusiven Schulen aus?

  3. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen inklusiven Schulen und vorsorgendem Sozialstaat? Welche Bemühungen sind notwendig, die Zahl der Schulabbrecher zu senken, indem man Sonderschülern Abschlüsse erleichtert?

Literatur:

Baumert, Jürgen (2006): »Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungsmilieus«. In: Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 95–180

Bildungsbarometer (2010), Hg. Sozialverband Deutschland. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/pdf/positionspapiere/SoVD-Bildungsbarometer_Inklusion.pdf (27.10.10)

„Behinderte müssen wählen können“. die tageszeitung, 6.6.2009. Interview mit Vernor Munoz http://www.taz.de/1/zukunft/wissen/artikel/1/behinderte-muessen-waehlen-koennen/ (30.10.2010)

Behindertenrechtskonvention http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/behindertenrechtskonvention-crpd.html#c1911 (22.10.2010) [Vertragstexte der Konvention, inklusive einer leicht lesbaren und einer Schattenübesetzung]

Füller, Christian (2010). Die Gute Schule: Wo unsere Kinder gerne lernen (Weinheim: Beltz 2010)

Füller, Christian. „Wertloser Abschluss für Sonderschüler“, die tageszeitung 3.3.2009.

UN Human Rights Council (2007). UN Human Rights Council: Addendum to the Report of the Special Rapporteur on the Right to Education, Mission to Germany (13-21 February 2006), 9 March 2007, A/HRC/4/29/Add.3, available at: http://www.unhcr.org/refworld/docid/4623826d2.html [12. Juno 2010]

„Jedes Kind darf auf eine Regelschule“, Spiegel Online, 28.1.2010. Interview mit Prof. Eibe Riedel, http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,674128,00.html (10.8.2010)

Jochem, Sven (2010). Der vorsorgende Sozialstaat.

Konzeptionelle Differenzierungen und skandinavische Vorbilder. Forschungsbericht 12.10.2010.

Koalitionsvertrag SPD/Die Linke http://www.brandenburg.de/media/lbm1.a.4868.de/koalitionsvertrag.pdf

Pfahl, Lisa und Powell, Justin J.W. (2008). „Sonderschule behindert Chancengleichheit“. WZB-Brief 4. Nov 2008. http://bibliothek.wzb.eu/wzbrief-bildung/WZBriefBildung200804_PowellPfahl.pdf (30.10.2010)

Pfahl, Lisa und Justin J.W. Powell, (2009) „Menschenrechtsverletzung im deutschen

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Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr (Hg.), Grundrechtereport. Zur Lage der Bürger- und

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„Reduzierung der Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss, Sicherung der Anschlüsse und Verringerung der Zahl der Ausbildungsabbrecher; hier: Statistische Erfassung der Abschlüsse von Förderschülerinnen und -schülern.“ Beschlussvorlage zur KMK vom 5./6.3.2009

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