Ich präsentiere hier die Texte von Lisa @lisarosa (Blog shift), Felix @schb (Blog Edushift), Torsten @herrlarbig (Blog herrlarbig.de) und Sylva @britsyl, die zeigen, wie bloggende Lehrer (Twitter-Teacher) über den #schultrojaner denken. Sie sollen am Mittwoch in der Bildungstaz erscheinen. Kommentare wie immer erwünscht, inhaltliche noch mehr als formale wie Farbe, Kommata etc.
Die Frage lautet:
Ist der Schultrojaner eine Antwort auf den Leitmedienwechsel?
Lisa Rosa wrote
Sie wollen das Artensterben verhindern
Natürlich ist der Schultrojaner eine Antwort auf den Leitmedienwechsel. Er ist eine Antwort der Sorte Abwehrreaktionen auf die Herausforderungen durch technologische Entwicklung, um das eigene „Artensterben“ zu verhindern.
In den Schulgeschichtsbüchern für die 8. Klasse kann man über die Erfindung der englischen „Spinning Jenny“ lesen. Diese moderne Baumwollspinnmaschine war der Anfang vom Ende der schlesischen Leinen-Textilfabrikanten, deren Technologie neben der Jenny (und den nachfolgenden mechanischen Webstühlen) mit einem Schlag hoffnungslos veraltet war. Das Sterben zog sich über ein ganzes Jahrhundert hin. Trotz oder gerade wegen dieser langen Zeit haben die Fabrikanten bis zuletzt nicht verstanden, dass bei Strafe des Untergangs auf die neue Technologie hätte gesetzt werden müssen. So war ab einem bestimmten Zeitpunkt nichts mehr zu retten. Auch durch krassen Lohnabbau unter das Existenzminimum bei den Produzenten, den Handwebern, konnte das Ende der Branche nicht mehr abgewendet werden. Der Punkt, vor dem durch Anpassung an die neue Zeit etwas zu retten gewesen wäre, war längst überschritten.
Damals war Industrielle Revolution, heute ist es eine Medienrevolution. Lerne aus der Geschichte! Soviel zur Problemorientierung.
Es geht um das Lernen im digitalen Zeitalter
Lernen-aus-der-geschichte.de heißt auch eine der bekanntesten netzbasierten, projektorientierten und frei zugänglichen Lernmaterialsammlungen für Geschichte. Und damit zur Lösungsorientierung. Es geht natürlich nicht um die Rettung der Schulbuchverlage. Es geht um das Lernen im digitalen Zeitalter. Ebenso wie wir Textilien brauchen, brauchen wir Lernmaterial. Aber wie unsere Kleidung nicht vom schlesischen Textilfabrikanten stammen muss, so muss das Lernmaterial nicht vom Schulbuchverleger stammen.
Schon vor 25 Jahren während meines Referendariats war klar, dass man die SchülerInnen nicht mehr anhand eines Lehrgangs-Lehrbuches durch einen vorgegebenen Lernpfad wie am Nasenring führt, sondern die Schulbücher verschiedener Verlage als Materialsammlungen („Steinbruch“) zur Herstellung eigener Unterrichtsmateralien nutzt. Alle Lehrer tun es, und täten sie es nicht, wäre ihr Unterricht grottenschlecht und den Lernbedürfnissen ihrer SchülerInnen unangemessen. Die Erlaubnis, für den geschlossenen Klassenraum (gegen Pauschalabgeltung) aus Schulbüchern kopieren zu dürfen, hat den traditionellen Unterricht damals noch einmal gerettet, indem er ihn ein bisschen „schülerorientierter“ ermöglichte. Heute, unter den Bedingungen der Digitalität, ist auch das nicht mehr ausreichend für einen individualisierten Unterricht, der die Kompetenzen entwickeln hilft, die heute gebraucht werden.
Was soll ein offlinernes Schulbuch im Klassensatz?
Wir brauchen nicht nur digitale multimediale Materialien mit allen Möglichkeiten der interaktiven Bearbeitung, wie man sie schon an vielen Orten im Netz als Open Educational Resources kostenfrei längst bekommen kann. Wir brauchen auch neue Lernkonzepte, in denen die Social Media eine prominente Rolle spielen. Was soll da ein schweres offlinernes Schulbuch im Klassensatz?
Das Aus für die schlesische Textilfabrikation Mitte des 19. Jh. war nämlich auch nicht nur einer veralteten Technologie geschuldet: Das ganze „Geschäftskonzept“ war ein Auslaufmodell. Es war nämlich das Manufaktursystem, im Textilbereich als Verlagswesen organisiert, das da verschwand.
Felix wrote
Sie wollen ihre Pfründe sichern
Ja, die von den Schulbuchverlagen angedachte Software ist der zunehmenden Digitalisierung des schulischen Alltages geschuldet und eine verständliche Antwort. Über diese – seltsam anmutende – Maßnahme versuchen die Verlage offenbar, ihre Pfründe zu sichern.
Wir leben aber in einer Zeit des Wandels, in dem für alle spürbar wird, dass durch den Computer und das Internet unzählige Veränderungsprozesse angestoßen werden, die unsere kulturellen Errungenschaften in Frage stellen und unsere Kreativität herausfordert.
Von diesem Wandel sind die Verlage ebenso betroffen wie auch Schulen und die Vorstellung von Lernen.
Schnüffelsoftware die falsche Antwort
Auf diese Entwicklung jedoch ist eine Schnüffelsoftware die falsche Antwort. Wenn sich die Verlage in einer verändernden Medien- und Kulturlandschaft als Anbieter behaupten wollen, müssen sie MIT den Lehrenden arbeiten, und Zusammenarbeit bedeutet in erster Linie: Gegenseitiges Vertrauen.
Aber schon heute gilt, dass die Verlage dringend ‚digital‘ denken müssen. Ich bin Lehrer und die Schülerinnen fragen mich immer wieder, ob sie die Schulbücher auch digital bekommen, sodass sie diese auf dem Laptop lesen können. Dann müssen sie die Bücher nicht immer hin und her schleppen, obwohl sie die Bücher nur für eine Stunde am Tag brauchen. Verständlich, oder? Das Lern-Material soll da sein, wo ich bin und lernen möchte. Nicht zu Hause ODER in der Schule.
Werde Lernmaterialien für meine Schüler digital anbieten
Ich denke daher darüber nach, das Material für den Unterricht nur noch digital über eine Internetseite (Wiki oder Blog) anzubieten. Dort finden sich alle Autorentexte und Informationen, die wir – Lehrende wie Lernende – im Unterricht brauchen. Auf diese Weise haben wir unser selbst erstelltes, digitales Schulbuch, welches von allen Beteiligten verändert und angepasst werden kann.
Was wäre, wenn diesen Schritt mehr und mehr Lehrende einschlagen? Sich von den Schulbuchverlagen abwenden und ihr eigenes passendes „Werk“ für den Unterricht erstellen? Durch die digitalen Technologien ist eine Zusammenarbeit zwischen Lehrenden denkbar einfach geworden, auch über weite Entfernungen. Wer braucht da noch die Schulbuchverlage?
Buch wird als dominantes Medium abgelöst.
Im heutigen Leitmedienwechsel wird das Buch als dominantes Leitmedium durch ein digitales Medium abgelöst. Der Computer – auch in seiner Form als Smartphone – ersetzt heute nicht nur bestehende Werkzeuge, sondern schafft neue, bisher undenkbare Möglichkeiten. Dies hat Auswirkungen auf das Lernen, das sich ebenfalls verändert. Lernen wird in erster Linie ein kommunikativer, vernetzter Prozess sein. Und gerade die Möglichkeiten der Kommunikation haben sich in den letzten Jahren radikal verändert.
Den Computer als bloße Weiterentwicklung zu sehen, wird daher nicht ausreichen. Auf die Schulbuchverlage bezogen: Die Digitalisierung des Buches als ausreichende Antwort auf den Leitmedienwechsel zu sehen, wäre ignorant und damit töricht.
Ob es überhaupt eine Antwort gibt, nach der das heutige Verlagswesen in der digitalen Kultur überlebensfähig ist? Ich bezweifle es.
Herr Larbig schreibt:
Die Idee des „Schultrojaners“ liegt in der Logik des Bestandsschutzes und steht gegen den Leitmedienwechsel. Sie ist auch Teil der um sich greifenden „Überwachungslogik“ auf dem Weg zum Präventivstaat.
Der Copyright-treue Lehrer – und seine Unbilden
Schauen wir uns einmal den bisherigen Alltag eines das Copyright achtenden Lehrers an, der durch gegenwärtiges Urheberrecht und Verträge der Kultusminister mit den Schulbuchverlagen zementiert wird.
Der hier angenommene Lehrer achtet das Copyright und will jeden Schüler angemessen fördern. Das geht mit Büchern, die die Klasse und das Kind nicht kennen, nur schwer.
Der Lehrer hingegen kennt die Klasse und weiß, dass es Material gibt, das für ein Kind gut geeignet ist, andere Kinder jedoch über- oder unterfordern würde.
Gut, denkt der Lehrer, das Problem lässt sich lösen.
Er bastelt individuelle Materialien – aber er darf das nicht
Er macht Kopien und bastelt ein Arbeitsblatt, das für die ganz Klasse nützlich sein sollte. – Der Lehrer weiß, dass er aus Schulbüchern in beschränktem Maß kopieren darf, aber darf er Material aus unterschiedlichen Büchern mit Schere und Papier zusammenfügen?
Diese Unsicherheit macht den Lehrer unruhig – und er schneidet daneben.
„Ach Mann, der Kopierer ist doch mit dem PC verbunden, ich scanne das jetzt ein, füge die Texte dann zusammen und drucke sie aus.“ – Und jetzt hat dieser Lehrer potentiell ein echtes Problem. Das darf er nämlich nicht.
Er macht es trotzdem: Das Budget für neue Bücher ist aufgebraucht, die Eltern haben schon zusätzliche Schullektüren gekauft und er will Lernmaterial auch optisch schön verfügbar machen.
Unser Lehrer träumt von gutem Material, das so bearbeitet werden darf, dass alle in der Klasse ein Lernangebot bekommen. „Das ist Arbeit, aber“, so flüstert er mir erschöpft ins Ohr, „Stress macht, dass ich ständig das Gefühl habe, in den Augen der Schulbuchverlage was falsch zu machen und damit zu deren finanziellem Untergang beizutragen.“
Schulbuch als Einheitsbrei
Erschrocken zuckt er zusammen: „Das aber will ich nicht!“, ruft er, löscht die Dateien und nimmt nun doch das eine Schulbuch für alle. Er stößt immer wieder darauf, dass der Unterricht besser wäre, wenn er von Material aus unterschiedlichen Quellen ausgehen könnte, aber er will es nicht gewesen sein, der die Arbeitsplätze in den Schulbuchverlagen auf dem Gewissen hat.
Zufrieden ist dieser Lehrer nicht. Er weiß, dass er das Lernen der Kinder besser unterstützen könnte.
Er kommt ins Grübeln: „Ich habe das Copyright geachtet, obwohl ich doch besseres Material haben könnte, wenn digitale Bearbeitungen erlaubt wären. Es würde dann leichter fallen, differenzierendes Material zu erstellen. Und da ich nicht noch neben dem Schulbuch jedes Mal eigenes Material erstellen kann, dazu reicht die Zeit nicht, nutze ich eben ein Schulbuch, das didaktisch ja auch nicht schlecht ist, aber eben für diese Lerngruppe nicht optimal.“
Ökonomische Grenzen der Lehrerfreiheit
Und der Lehrer kommt mehr und mehr zu dem Schluss, dass hier eine Werteverschiebung stattgefunden hat, die zumindest einen Teil der Qualität von Bildung den ökonomischen Grenzen des Urheberrechts unterwirft.
Sylva schreibt:
Sicher ist sicher sicher, oder?
Lieben Sie das Risiko? Arbeiten Sie gern selbständig? Gehen Sie gern über Grenzen? Möchten Sie nachhaltig die Welt verändern und in Bildung investieren? Wollen Sie einen sicheren Arbeitsplatz? Genießen Sie das Gefühl von Überforderung in Parallelarbeit mit Unterforderung?
Lehrer: Pirat im Trockendock
Dann ist die Berufung zum Lehrer genau das Richtige für Sie. Hier können Sie Ihre kühnsten widersprüchlichsten Träume verwirklichen. Der Pirat im Trockendock!
1. In erster Linie müssen Sie sich mit Qualitätssicherung ihres Unterrichts beschäftigen. Kein Problem denn sicher ist sicher. Schließlich dürfen Sie ihren privaten PC für Unterrichts- und Schulzwecke nutzen, natürlich nur nachdem sie dem Datenschutzbeauftragten freigestellt haben ihren PC überprüfen zu dürfen. Das tun Sie gerne, denn Sie sind ja keine Privatperson, sondern Diener des Staates. Und so wie Mutter am Samstag guckt, ob das Zimmer aufgeräumt ist, wird Vater Staat wohl bei Ihnen im digitalen Kämmerlein auch einmal schauen dürfen, ob alles in Ordnung ist. Schließlich gibts ja auch ein kleines Taschengeld.
Schulbücher mit Beuys’schem Kunstcharakter
2. Davon bezahlen Sie als engagierter Lehrer sicherlich auch gern Ihre eigenen Kopiervorlagen, die sie in 10 Regalmetern in Ihrem jetzt auch wieder steuerlich absetzbaren Arbeitszimmer fein nach Fächern und Klassenstufen sortiert haben. Die Lehrerbücherei Ihrer Schule besteht gern aus 2 – 3 Regalen fragwürdiger Ordnersammlungen, denen Beuys’scher Kunstcharakter anmutet, Fettflecken inklusive. Doch das Gefühl in die deutsche Bildung investiert zu haben, trägt Sie in den Kopierraum und multipliziert sich von dort in die Häuser der Zukunft.
3. Wer von Ihnen ressourcenorientierter vorgeht, Punkt 1 und 2 für sich umgeht und Schule neu als Lern- und Lebensort denkt, der wird sicherlich die dort vorhandenen PC-Arbeitsplätze nutzen. Sie lernen jetzt, dass Ihre obersten Vorgesetzten in der KMK Ihnen auch hier maximales Risiko bei maximaler Sicherheit bieten.
Schultrojaner aus reinster Fürsorge
Ja, sicher, eigentlich steht die Inklusion vor der Tür und damit für Sie neue Lernmethoden auf dem Programm. Sie bilden sich fort in Lernbuffets, offenem Unterricht, möchten jedes Kind nach seiner Zone der nächsten Entwicklung fördern, ihm Angebote zur Potentialentwicklung und Kompetenzerweiterung bereithalten. Dafür benötigen Sie Material. Viel Material. Unendlich viel Material! So arbeiten Sie selbstständig und hingebungsvoll an der Herstellung von Unterrichtsmaterial zur Binnendifferenzierung und erproben sich dabei in der Handhabung neuer Medien durch Veränderung von Vorlagen von Verlagen. Dabei denken Sie mit ungutem Gefühl an die 20-Prozent-Klausel! In Ihrem Herzen keimt der Verdacht, dass die KMK es in ihrer hidden agenda eigentlich gar nicht wirklich möchte, dass Sie individuell fördern können. Sie möchte Sie durch einen Schultrojaner darauf hinweisen, wie Sie urheberrechtlich auf der sicheren Seite stehen und sich kein Disziplinarverfahren anbahnt. Wie freundlich, wahre Fürsorgepflicht.
Sehr schön beobachtet. Ich erinnere mich noch an meinen Unterricht nach der Wende, als wir die abgelegten Schulbücher aus Hessen bekamen, die nach dem kalten Krieg übrig geblieben waren. Nichts anderes durfte verwendet werden.
Im Lateinunterricht mussten wir jahrein, jahraus Bibelgeschichten übersetzen, weil es nichts anderes an erlaubtem Material gab. Die einzige (zwar völlig inkompetente aber dafür historisch „unbelastete“) Lehrerin für das Fach war aus einem Kaff in Bayern importiert. Dort war sie ebenso abgelegt worden, wie ihre Lehrbücher.
Der Unterricht (wahlweise auch mit unserer ukrainischen Vertretung, die für das Fach gar keine Zulassung hatte) lief so ab: 10 Minuten rezitierten alle im Takt die auswendig gelernten Vokabeln der letzten Stunde. Dann kam der obligatorische Satz: „Nehmen Sie Buch. Schlagen Sie auf Seite 47. Übersetzen!“ 30 Minuten später musste jemand die Übersetzung vorlesen. Danach kam der nächste obligatorische Satz: „Nehmen Sie das andere Buch. Schlagen Sie auf Grammatik. Lesen Sie laut vor!“ Anschließend haben wir alle gemeinsam die Vokabeln der aktuellen Stunde vorgelesen und danach war der Unterricht beendet. Gelernt haben wir bei diesem Unsinn freilich gar nichts!
Das Kultusministerium hat aber mit einer entsprechenden Quote dafür gesorgt, dass wir trotzdem alle unser Großes Latinum erhalten haben. Wenn auch nur gerade so. Nur ein Alibi-Depp musste durchfallen, damit die Quote schön normalverteilt war.
Freilich grober Unfug! Denn das gleiche Bundesland erkannte sein eigenes Latinum sowieso nicht an. Das musste man danach auf der Uni im gleichen Land ohnehin noch einmal ablegen.
Von den anderen „Schulbüchern“ will ich mal gar nicht reden. Unsere alten Bücher hatten wir unter Aufsicht zerreißen müssen, weil die noch aus der DDR waren. Die Geschichtsbücher, die wir stattdessen bekamen, waren aber auch bloß alle aus dem kalten Krieg. Nur jetzt eben genau anders herum. Solange die Russen die bösen und die Amis die Heilsbringer sind, war das aus Sicht der KMK aber okay. Alternativen wären möglich gewesen, aber nicht erlaubt. Nur was im Schulbuchkatalog stand durfte auch verwendet werden.
War aber nicht weiter schlimm, denn da wir sowieso nicht genug Lehrer für alle hatten, haben wir den Unterricht über die Deutsche Geschichte zwangsweise 1945 beendet. Das war auch in Ordnung, denn unsere Schulbücher machten sowieso alle an der innerdeutschen Grenze halt. Die ostdeutsche Geschichte ab 45 durfte ja nicht gelehrt werden (stand nicht im Katalog der erlaubten Materialien und war vom Lehrplan ausdrücklich gestrichen). Unsere hessischen Lehrbücher Anno 1985 erwähnten Thüringen aus bekannten Gründen ohnehin mit keinem Wort.
In Folge der Ent-Kommunistisierung gab es oft Schulausfall, denn wir hatten keine Lehrer mehr, die uns irgendwas hätten beibringen können. Unsere Katholische Helga lief (sich bekreuzigend) davon, wenn beim Unterricht irgendwas aufkam, was ihr nicht koscher war. Die beschränkte Biotante war nach 50 Jahren Unterricht senil geworden und wurde vom Kultusministerium offiziell auf Grundschulniveau zurückgestuft, unterrichtete aber weiter, denn wir hatten keine andere. Bei der Schwarzen Luzi mussten wir Adenauerreden auswendig lernen. Wer sich weigerte diesen Unsinn mitzumachen, musste sich als verkappter Kommunist in die Ecke stellen. Der Sportlehrer hatte viel Spaß damit, jungen Mädchen persönlich über den Bock zu helfen. Unsere Ukrainerin war dagegen sehr entspannt, denn sie las im Unterricht sowieso hauptsächlich Zeitung. Wir mussten die aber nehmen, denn was anderes gab’s nicht. Alle Lehrer die noch praktizieren durften und was konnten, waren von Hessen abgeworben worden. Mathe begann daher regelmäßig mit dem Satz: „Das müssen sie nicht wirklich begreifen. Ich habe den Stoff auch bloß nicht verstanden.“
Alles unter der Bildungsministerin Chimpanski, wie die Insassen dieses Regimes der vollendeten Idiotie sie liebevoll nannten.
Erst in der 12. Klasse hatte ein Lehrer den Mut, vor versammelter Klasse den Lehrplan demonstrativ zu zerreißen. Er sagte: „Und jetzt lernen wir mal was richtiges!“ Ohne Lehrbücher, ohne Lehrplan. Das erste Mal seit Jahren, dass wir vom Unterricht wirklich etwas behalten haben. An diese Stunden erinnere ich mich auch nach ca. 15 Jahren noch.
Von diesen wenigen Lichtblicken abgesehen kamen wir uns im Osten wie Kinder 2ter Klasse vor. Wir waren es nicht wert, neue Schulbücher zu bekommen, oder Lehrer, die ihr Fach tatsächlich studiert hatten, oder wenigstens Unterricht, bei dem nicht jede 5. Stunde ausfiel, weil nicht genug Personal da war.
Bei den Klassenfahrten wurde aussortiert: eine Gruppe für die betuchten Eltern machte eine Flugreise, eine Gruppe für die Eltern mit mittlerem Einkommen benutzte den Zug und die Kinder von arbeitslosen Eltern mussten daheim bleiben und bekamen „Ersatzunterricht“ aka „Arbeitsgruppen“. So haben wir als Kinder das erlebt, 1995 in Thüringen.
Und heute? Was haben die feinen Herren aus diesem Albtraum gelernt? Besser ausgebildete Lehrer und mehr Auswahl an Unterrichtsmaterial? Mitnichten! Das ist das Problem dieser kauzigen alten Zottelbären in ihren achso bequemen Amtsstuben: den Schulalltag und wie es den Kindern dabei tatsächlich geht, kennen sie nur von Lobbyorganisationen oder Hörensagen.
Was mich verblüfft: Wie einfach es zu sein scheint, die Ministerialbürokratie zum Erfüllungsgehilfen zu machen. Wie wenig sich die Ministerialbürokratie als Interessenvertretung ihrer Lehrer und Schulen versteht. Wenn man weiß, wie bestimmend die Ministerialbürokratie geenüber Schulleitern und Lehrern auftreten kann, wundert man sich, dass die Damen und Herren sich von Lobbyisten so leicht instrumentalisieren lassen, statt ihrerseits Forderungen zu stellen,
Hallo,
ich finde es sehr gut, dass hier mal die Lehrer selbst zu Wort kommen. Die Argumentation gefällt mir sehr gut und ich kann mich eigentlich allen Punkten nur anschließen. Bei dem Teil von Lisa Rosa ist mir noch in den Sinn gekommen, dass es auch gute Beispiele und Vergleiche aus der Geschichte der Medienrevolution selbst gibt. Es gab zu jeder Zeit Menschen die neuen Medien gegenüber skeptisch waren – egal ob Zeitung, Radio oder Internet.
Ein Aspekt kommt mir noch zu kurz in diesem Text: Lehrer müssen bereits in der Ausbildung lernen, das die Zeiten des Frontalunterrichts vorbei sind. In Zukunft müssen wir „peer-to-peer“ lernen, alles andere wird durch die Entwicklung des Internets sinnlos und unnötig. Und junge Menschen, die heute Lehrer werden, müssen sich bewusst sein, dass ihr künftiger Job nicht mehr hauptsächlich um Wissensvermittlung gehen wird, sondern vielmehr darum Orientierungshilfe zu bieten: Quellenkritik, Toolkunde und Moderation werden zu ihren Aufgaben gehören.
Liebe Grüße
Birte