Ein deutscher Exportschlager – der in Deutschland stirbt
(update: Siehe unten eine Grafik und die Zusammenfassung des Berufsbildungsberichts, der am morgigen Dienstag im Kabinett verabschiedet werden soll.)
Wir diskutieren gerade munter darüber, ob die größte Abiturreform der deutschen Geschichte wieder rückgängig gemacht werden soll. Dabei brennt bei einem anderen, mindestens genauso wichtigen System gerade die Sicherung durch: Das Berufsbildungssystem ist, wie der neue Bericht der Bundesregierung morgen nächste Woche zeigen wird, in schweren Nöten: Noch nie seit den 1970ern war die Situation so angespannt wie heute, Deutschland erlebt die niedrigste Zahl an Azubis seit 1976.
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Das ätzende an der derzeitigen „Bildungs“-Debatte ist: Wenn G8-Abiturienten ein paar Schweißperlen auf der Stirn stehen, heult das deutsche Feuilleton Rotz und Wasser. Bekommen 250.000 Abgänger niederer Schulformen jahrelang im Übergangssystem keine Chance, rührt sich kein Finger in diesen Feuilletons. #Bildungsgerechtigkeit.
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Das ganze erweiterte Ausbildungssystem mit Lehre, Hochschulen dem Übergangssystem ist aus dem Lot. Die duale Ausbildung, gerade noch als deutscher Exportschlager der Facharbeiterqualifikation gefeiert, droht im eigenen Land den langsamen Tod der Auszehrung zu sterben. Wer stellt eigentlich noch Lehrlinge ein? Lesen Sie die Zahlen bei SPON.
(Grafik rechts zeigt die Neuzgänge an Azubis in der alten Bundesrepublik; 1976 unter 500.000 neue Ausbildungsverträge)

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Gymnasium und duales System: Zwei Vorbilder, die keine mehr sind
Ja, Deutschland hat eine große Tradition des Gymnasiums als Schule der gut ausgelesenen Elite. Und, noch einmal ein Ja: Deutschland besitzt das “duale System” einer Berufs-Schule neben dem Betrieb. Einer Schule also, die für denjenigen, der in der Wirtschaft eine Ausbildung macht, eine gewisses Maß an Theorie und Allgemeinbildung verschafft. Auch das zweifellos eine große Tradition.
Das Problem ist ein anderes. Die beiden deutschen Traditionslinien sind längst unterbrochen. Sowohl das Gymnasium befindet sich in einer tiefen Krise als auch das duale System.
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Volksaufstand gegen das Gymnasium
Das Gymnasium ist in akuter Gefahr, weil seine Laufzeit von der Politik deutschlandweit von neun auf acht Jahre gekürzt worden war. Und zwar ohne jede pädagogische Reform. Das Gymnasium wurde quasi amputiert, was in den Ländern einen kleinen Volksaufstand nach sich zog, sodass nun einige Bundesländer das achtjährige Gymnasium wieder in ein neunjähriges zurückverwandeln. Kurz: Das Gymnasium ist eine Reformruine.
(Grafik links, Berufsbildungsbericht 2014, blaue Kurve Azubis Gesamtschdeutschland seit 1990)
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Auch die duale Ausbildung ist heute nur noch eine gute Idee – deren glorreiche Praxis lange vorbei ist. Es gab 2013 nur noch 530.700 neue Ausbildungsverträge – der geringste Stand nicht nur seit der Wiedervereinigung, sondern wenn man es genau nimmt: seit der Gründung des dualen Systems in den 1970ern. (Siehe Grafik rechts oben) Seit Mitte der 1970er hatte der westliche Teil Deutschlands mehr Ausbildungsplätze als das vereinigte Deutschland. In Ostdeutschland hat sich die duale Ausbildung nie durchsetzen können. Obwohl es, im Prinzip, eine gute Idee ist.
Wenn es denn funktioniert. Aber kann man das sagen, wenn nur noch 21% der Betriebe ausbilden? Der geringste Stand seit 1999, und auch hier müsste man wohl die Statistiken der alten Bundesrepublik ansehen. Sieht man genauer hin, so entdeckt man den Schlag im System: Die kleinen und Kleinstbetriebe, die 380.000 von 450.000 Ausbildungsbetrieben stellen, haben immer mehr Mühe, geeignete Lehrlinge zu finden. Es gibt sie, aber es ist sehr aufwendig geworden, sie auszuwählen. Der Rückgang der Kleinstbetriebe bis 9 Beschäftigte bei der Ausbildung betrug 4,5 Prozent. Das bedeutet ein Minus von 10.669 Ausbildungsstätten.
Da fehlt eine Zahl, die wichtig für den Zusammenhang ist: 1995 gab es noch 750.000 Geburten. Das sind pro Jahr sozusagen 100%. „nur noch 530.700 neue Ausbildungsverträge“ ist also eigentlich ziemlich viel, zumal wenn man bedenkt, dass rund 45% eines Jahrgangs studiert. 21.000 „Unterversorgte“ sind rund 3% eines Jahrgangs, hinzu kommen aber wahrscheinlich noch einige Unterversorgte, die nirgends gemeldet sind oder noch in irgendeiner Maßnahme warten. Da ist man dann bei 5% bis 6% eines Jahrgangs, die nicht ausbildungstauglich erscheinen. Ich kann nicht beurteilen, ob das dramatische Zahlen sind oder nicht. Den Rückgang an klassischen Lehrlingsausbildungen finde ich aber erst einmal nicht unlogisch, wenn einerseits die Geburtenzahlen sinken, andererseits die Studienanfängerquote steigt.
danke. 21.000 plus 250.000 unversorgte, du hast dich um den faktor 12 verschätzt.
Die 260.000 sind ja keine jahrgangsbezogene Zahl, sondern eine Addition über mehrere Jahrgänge hin weg. Vermutlich sind dies Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren in den „übergangsmaßnahmen“, also dann von etwa 7 Millionen ca. 3,5%. Obendrauf gibt es immer welche, die in keiner Statistik auftauchen, jedoch auch kein Bein auf den Boden bekommen, dann landet man bei circa 5% Jugendlichen, die keinen Einstieg in eine qualifizierte „Erwerbsbiographie“ finden. Von denen scheinen einige immer häufiger spät einzusteigen: „Mitte 2013 absolvierten nach Bundesagentur-Angaben knapp 113.000 Menschen zwischen 25 und 29 Jahren eine Lehre; im Jahr 2000 waren es nur knapp 54.000 gewesen.“ http://bit.ly/1knSP1H
In einem Punkt hast du auf alle Fälle Recht: Während über Gymnasium und UNI dauernd gequatscht wird, wurde keine andere Bildungsinstitutionen so heruntergewirtschaftet wie die Hauptschule und teilweise wohl auch die Realschule. Die Hauptschule hätte aus vielen Gründen mehr Geld und politisches Interesse verdient.