Der Vorschlag Carsten Linnemanns würde eine 100 Jahre alte Errungenschaft gefährden: die für alle gemeinsame Grundschule

Teil 1 – der Kommentar bei @rbbkultur

Teil 2 – die Einordnung der Debatte 

Der Kommentar zum Nachhören

Früher hieß es, die Armee ist die Schule der Nation. Das war zu Zeiten, als es in Deutschland wichtiger war, stramm zu stehen als lesen zu können. Heute ist glücklicherweise die Grundschule die Schule der Nation. Sie ist die erste demokratische Schule. Sie nimmt alle auf, die sechs Jahre alt sind. Der CDU-Politiker Carsten Linnemann sagt nun, dass ein Kind, „das kaum deutsch spricht und versteht, auf einer Grundschule noch nichts zu suchen hat.“ Was der Abgeordnete vorschlägt, würde die Axt an die wichtigste deutsche Schule legen.

Das Herz des Schulsystems

Die Grundschule ist das Herz des Schulsystems. Sie wurde vor genau 100 Jahren eingeführt, und es war ein harter Kampf, um erstmals eine „Schule für alle“ zu etablieren. Davor hatte es private Vorschulen gegeben. Sie leiteten die Kinder der Schönen und Reichen an der verhassten Volksschule vorbei direkt ins Gymnasium. Mit dieser Spaltung der Gesellschaft machte die „für alle gemeinsame Grundschule“ Schluss, die in die Weimarer Reichsverfassung Eingang fand. Selbst das Grundgesetz stellt die Grundschule noch unter besonderen Schutz. So dürfen Primarstufen nur unter strengen Vorgaben privat betrieben werden. Man muss diesen Kulturkampf im Hinterkopf haben, um zu verstehen, was Linnemanns Idee bedeutet: sie schränkt das Recht auf Bildung ein.

Bildung ist Menschenrecht, Grundschule gehört dazu

Man kann den Vorschlag des CDU-Politikers nicht schönreden. Linnemann sagte, es müsse Rückstellungen vom Schuleintritt geben. Das aber wäre fatal. Die Grundschule markiert den Beginn der Schulpflicht. Sie garantiert so ein Menschenrecht. Und bei Menschenrechten gibt es einen Grundsatz: sie gelten ohne Wenn und Aber, sie gelten für alle. Wer heute damit anfängt, Kindern von Migranten die Grundschule vorzuenthalten, der tut dies morgen für sozial Benachteiligte und ist übermorgen wieder bei privaten Vorschulen für begüterte Teile der Bevölkerung.

Heute + Morgen = Zukunft

Der Vorschlag ist aber noch aus einer anderen Perspektive schwer nachzuvollziehen. Linnemann spricht im Namen der Wirtschaftsvereinigung der CDU. In der Wirtschaft aber herrscht gerade ein dramatischer Mangel an Fachkräften. Wie sollen Hunderttausende zu uns geflüchtete Schulpflichtige diese Lücke schließen können, wenn man ihnen die Basisschule vorenthält? Darauf haben Hunderte Zugewanderte hingewiesen, die heute in hochqualifizierten Jobs arbeiten. Ihr Credo: wer kein Deutsch kann, der sollte möglichst schnell in die Grundschule. Recht haben sie.

Karin Prien rettet Debatte, dpa & Tagesschau machen sie wieder kaputt

Es gibt einen Ort, an dem alle Kinder (alle) ab sechs Jahren systematisch lesen und schreiben (und Deutsch) lernen – er heißt #Grundschule.

Carsten Linnemann sagte:

„Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“

Das heißt: diese Kinder sollen irgendwo anders beschult werden. Aber wo? Und bis wann eigentlich? Der Fraktionsvize der CDU Linnemann hat damit ein zeitliches Grundschulverbot vorgeschlagen. 

Das ist mit der Schulpflicht und den Schulgesetzen nicht vereinbar (und auch mit der Verfassung nicht, siehe die historisch-verfassungsrechtliche Genese der #Grundschule: „Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf“. „Vorschulen sind aufzuheben“)

@dpa kann man zweierlei vorwerfen: 1) sie haben Linnemann in ihrem ersten Versuch (CDU-Politiker fordert Grundschulverbot) ein bisschen überinterpretiert, denn er hat kein generelles, sondern nur ein zeitliches Grundschulverbot vorgeschlagen

Weil @dpa von Bildung wenig versteht hat, haben die sich, 2), von Linnemann einnebeln lassen, v.a. mit dem Begriff Vorschule. Die gibt es nicht mehr (1919 aufgelöst, sogar das GG vermerkt in Art 7 Abs 6: „Vorschulen bleiben aufgehoben“). Allein in Hamburg existieren Vorschulklassen an Grundschulen. Vorschule nennt man idR das letzte Jahr im Kindergarten – und zwar ohne dass es, etwa wie die école maternelle, ein echtes Bildungsprogramm enthielte.

Auch @tagesschau Faktenfinder @PatrickGensing eruiert keine Fakten, sondern missinterpretiert eineindeutigen Satz #Linnemann („haben an #Grundschulen noch nichts zu suchen“) – aber die mediale Republik glaubt ihm sein Geplapper; einzig @beimwort & @hwieduwilt ragen heraus /4  

Linnemann weiß schlicht nicht, wovon er redet. Das haben lauerundwehner herrlich gezeigt. Was er fordert, also folgenreiche Sprachtests mit anschließender Sprachförderung, gibt es längst. Es wird gemacht (sofern das Geld reicht, siehe Berlin) Es gibt 1 Mio Varianten, Linnemann kennt keine einzige

Nur hat er eben mit seiner Konsequenz „haben noch nichts in der Grundschule verloren“ den Rubikon überschritten. Denn er stellt damit die Schulpflicht, „die für alle gemeinsame Grundschule“ und das Recht auf Bildung infrage – ist übrigens ein Menschenrecht

Man kann nur froh sein, dass Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU) sofort erkannt hat, welch populistischen Unfug #Linnemann redet – und das in dieser Klarheit gesagt hat. Sonst hätten wir jetzt einen offen migrations- und chancenabweisenden Diskurs mitten in der Gesellschaft.

Wenn sonst Menschenrechte bezweifelt werden, wackeln die Wände. In der Bildung geht das sogar mit Beifall von Linksliberalen. Kinder mit Handikaps, Migranten, Bildungsarme sollen irgendwo lernen, nur nicht an allgemeinen Schulen. Dafür wurden in der Debatte sogar Vorschulen erfunden – und die Alleswisser von dpa nicken andächtig.

Wenn ich Migrant wäre, würde mich diese Debatte beunruhigen. Denn sie bedeutet: wenn zu viele von Euch Nicht-Kartoffeln kommen, dann lassen wir Euch einfach nicht mehr in die Grundschule. Hahaha!

dpa verbessert eine Überschrift, die einen halben Millimeter überdreht ist; aber sie übernimmt ungeprüft einen Begriff als soziale Realität, die es nicht gibt: Vorschulen existieren nicht (außer den Sprachvorbereitungsklassen an Hamburgs Grundschulen)