Aufklärung2.0: Bei Jauch übers dumme Netz reden. Im Netz übers dumme TV
Der Nation steht heute Abend ein bemerkenswertes Schauspiel bevor: Die Aufführung einer so genannten Talk-Show zum Mega-Thema Internet – ohne dass die wichtigsten Akteure anwesend wären. Stell Dir vor, Jauch macht auf Internet und die Blogger gehen nicht hin!
„Macht das Internet dumm?“ zu fragen, ohne die digital natives und Nerds zum Mit-Diskutieren einzuladen, ist wirklich dumm. Das Netz bestimmt unser Sprechen und Sehen, unser Wissen und Bewusstsein, unsere ökonomische und demokratische Zukunft. Da sollte man mit den Beteiligten sprechen, den Betroffenen, Helden, Akteuren des Netzes. Die aber hat Günther Jauch außen vorgelassen.
Keine Lust, ’n Buch zu lesen
Obwohl, man weiß es nicht. Seine Redakteure haben offenbar Nerds eingeladen, aber die haben abgesagt. Eloquent begründet etwa @nilzenburger, wieso er keine Lust hat, auf der tollen Plattform Jauch zu diskutieren. Nein mehr, dieser Mensch schwänzt eine TV-Debatte mit der Begründung, es sei ihm zu blöd, dafür ein Buch zu lesen.
Jauch zu gucken ist oft genug ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand. Oft werden Themen medialisiert, aber nicht geklärt.
Diesmal aber macht einen schon die Ein- und Ausladungspolitik kirre – sowie der Lärm, den die diversen Vor-Bands verbreiten. Es war ja gar schröcklich, was bisher über den angeblichen Hirnforscher Manfred Spitzer, den großen Zampano heute abend, übers Netz verbreitet wurde. So genannte Rezensionen seines Buch wurden zusammen geschustert (siehe unten), dass man sich ernsthaft fragte: Lässt es diese Internetcommunity eigentlich zu, dass ihr irgendjemand auch mal ne unbequeme Frage stellt? Oder sind die alle einfach nur besoffen von ihren kollaborativen Tollheiten? (Siehe auch: Digitale Ignoranz)
„Neue“ Medien, die 30 Jahre alt sind
Das Preludium zu Jauch war also so anti-aufklärerisch wie der zu erwartende Hauptact heute abend. Erwartet irgendjemand, dass aus dem so genannten TV-„Diskurs“ etwas herauskommt, der von Petra Gerster, Manfred Spitzer und dem Vater eines Spielsüchtigen derart einseitig beladen ist, dass man befürchten darf: Der Begriff „Neue“ Medien wird den Abend beherrschen – neue Medien wohlgemerkt, die jetzt bald 30 Jahre auf dem Markt sind.
Der Abend bei Günther J. und die nach einem Shitsorm lechzende Community nötigen zu schwärzesten kulturpessimistischen Bemerkungen: Heute abend ist eine Hochamt zu erwarten – ein Hochamt der Diskursvermeidung, also der Dummheit, und zwar bei Jauch und draußen vor den Screens bzw. bei Twitter etc.
- bei Jauch diskutieren Leute übers Internet, für die selbiges Googeln und e-mails-Ausdrucken bedeutet
- im Netz versammelt sich die Gemeinde unter dem Hashtag #Jauch – und zwar eine Community, die richtig stolz drauf ist, Spitzer nicht zu lesen; die Spitzer fortgesetzt als Mini-Sarrazin denunziert; die sich wahnsinnig aufgeklärt nennt, Aufklärung2.0 sozusagen, aber sich beharrlich weigert die Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, die unter anderem besagen, dass bestimmte Kohorten von Jungs inzwischen mehr Zeit netto vor Ballerspielen verbringen als in der Schule
- Thema der Debatte ist ironischerweise ein Buch, das „Digitale Demenz“ heißt – ein Begriff, der ab 21:45 Uhr mit einem q.e.d. abgehakt werden kann. Politischer relevanter kritischer Diskurs war gestern. Heute ist TV-Blödelei auf der einen und Shitstormen, Flauschen und 140-Zeichen-Dichten auf der anderen Seite. Dichten, um die eigene Position zu verdichten – und die andere auf keinen Fall kennen zu lernen, zu wiegen und zu prüfen
Was wären die Themen, über die es sich nachzudenken und zu diskutieren lohnte?
Was bedeutet es, wenn Handschrift als Lernvorgang wegfällt?
- Welche Auswirkungen hat es, wenn Handschreiben als basaler Lernvorgang für Sechsjährige schlicht entfällt (unter anderem wegen der überfallartigen Gadget-Nutzung)? Fördert dies die Persönlichkeitsbildung, die Berufschancen, die Teilhabe?
- Was geschieht, wenn ältere Schüler glauben, sie bräuchten künftig gar nicht mehr schreiben – denn es gebe ja Siri, der man alles diktieren könne?
- Was geschieht mit den (vor allem) Jungs, die täglich sieben und mehr Stunden Ballerspielen nachhängen, pardon: Games? Kann man das wirklich mit dem Hinweis abtun, „Ach, das wächst sich aus, Jugend war schon immer anders“?
- Was ist mit dem Zentralargument, das Spitzer mit einer ganzen Legion von Hirnforschern teilt, das aber im Netz beharrlichst ignoriert, tabuisiert und aggressiv bekämpft wird: dass verstärktes Spielen bestimmte Hirnregionen und -funktionen verändert? Neutral gesprochen „verändert“, man könnte auch sagen; die Gleichgewichte in den Hirnen verschiebt, also durch ihre Reiz-Reaktions-Schemata eine Synapsenproduktion nach sich zieht, die freundlich gesagt, interessant ist.
Ich habe zu diesen wesentlichen Fragen, die unter anderem, aber bei weitem nicht nur von Spitzer aufgeworfen werden, in den letzten drei Wochen aus der Netzcommunity nichts Sinnvolles gehört oder gelesen, überhaupt nichts. (Beat Doebeli und Phil Wampfler fand ich unverschämt bis schwach; bei @gibro war ich erschrocken über die Dürftigkeit der Debatte; @MartinLinder versteckt seine Rezension in irgendeinem Netzdiskurs, eh klar, dass die niemand zur Kenntnis nimmt (hier die zugängliche Fassung; @tastenspieler’s Rezension in der taz habe ich ja selber bestellt, der gesteht wenigstens, dass es ein Problem geben könnte; Cicero hat sich ebenfalls geäußert – bemerkenswert stromlinienförmig) Spitzer-Rezensionen sind Polemiken, die über alles alles räsonnieren. Nur über diese Grundfragen der Web2.0-Nutzung nicht. Und ich werden vermutlich auch nachher darüber nichts hören.
Dabei wäre das wichtig. Und spannend obendrein.
Also, wenn das die Fragen sind, die in dem Diskurs zu klären sind, dann ist das mit Verlaub „interessant“. Deine Pöbeleien, ebenso die von Spitzer sind Teil des Problems. Sie sorgen reflexartig dafür die Fronten zu verhärten, statt zu versuchen sich zu verstehen.
ok, wenn analpabetismus und games-süchtige für dich kein problem darstellen, dann ist das ja mal ne aussage. dass es sie gibt, dass die zahl der risikoschüler steigen, ist sehr wahrscheinlich. für die gibt es z.B. belege durch korrelationen zwischen noten und computernutzung durch pfeiffer – äh, ach so, auch den lassen nerds ja nicht als wissenschaftlich zu. (sagst mir noch, wo die pöbeleien sind – ich kann sie grad nicht finden.
Ich glaube, der Punkt ist einfach, dass Spitzer kein lohnender Ausgangspunkt einer Debatte ist. Blödeln tut man ja auch oft, wenn das Ausgangsstatement zu doof ist, als dass man ihm ernsthaft widersprechen wollte. Spitzer zu beobachten, der ein Buch verkaufen möchte, ist hier nicht zielführend. Ebensowenig, wie über Neuropsychologie auf Twitter zu sprechen. Da, wo man sich ernsthaft damit befassen kann, beispielsweise am psychologischen Institut in Münster, ist die Debatte hingegen in vollem Gange und stellt unaufgeregt die richtigen Fragen. Dabei gibt es einen riesigen Common Sense in „dieser Netzgemeinde“, dass das Internet nicht per se was Böses ist, dass aber Kinder, wie überall und in Allem, sich nicht im Überfluss damit beschäftigen sollten und nicht allein gelassen werden sollten. Pädagogik mit den neuen Medien unterscheidet sich an dieser Stelle wenig von pädagogik mit den alten Medien. Das haben die unaufgeregteren Männer, die da bei Jauch gegen Spitzer argumentierten, ja ebenfalls ganz richtig gesagt.
Diskursverweigerung ist doch ein völlig legitimes Mittel. Gerade, wenn wie in diesem Fall, eine fruchtbare Auseinandersetzung nicht unbedingt zu erwarten ist.
Das grundsätzliche Problem im Bereich „Neuro-“ ist einfach, dass sich hier Scharlatane als Vertreter eines wissenschaftlichen Diskurses im öffentlichen Mainstream positionieren dürfen. Die Neurowissenschaft hat sicherlich diverse Probleme, wie andere Forschungsfelder auch, aber diese Probleme werden kaum populär verhandelt, wie es nunmal leider die Art akademischer Diskurse ist, sondern quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit der peer group. Auf Englisch!
Zu den wissenschaftlichen Fragestellungen können sich die Netzvertreter nun kaum fundiert äußern, Scharlatane wie Spitzer hingegen nutzen es aus, dass sich Ihnen niemand qualifiziertes in den Weg stellt.
Was deine letzte Frage angeht: Völlig unbestritten ist vielleicht, dass Erfahrungen jeder Art „Hirnareale ändern“. Die Morphologie bildet nunmal so den Erwerb und das Speichern neuer Informationen ab. Daraus lassen sich NULL Aussagen über die Qualität der Erfahrung machen.
Mini-Sarrazin ist übrigens ein guter Vergleich, spätestens nachdem Dr. Spitzer in einem Zeit-Interview forderte mit Hilfe eines Gentests zu entscheiden ob ein Schüler auf die Hauptschule oder das Gymnasiums kommt.
bitte liefern sie die quelle. wer spitzer – teils zurecht – vorwirft, er gebe seine quellen nicht oder nur ungenügend an, der sollte seine quellen bitte auch angeben.
Die ZEIT: „Es wäre Irrsinn, Gentests nicht zu nutzen“
http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2010-11/interview-spitzer-lernen-gene
Auch wenn Du meine Kritik an Spitzers vorgeblich wissenschaftlicher Methode als dürftig einstufst: Ich bleibe dabei. In der Wissenschaft ist Peer-Review ein etablierter Vorgang und je länger ich mich mit Spitzers Werk beschäftige, desto mehr methodische Fehler finde ich, die ich bei meinen Studierenden nicht durchgehen lassen würde (siehe u.a. http://wiki.doebe.li/Beat/WennSpitzerStudienZitiert). Da sich Spitzer andauernd auf seine Wahrheit verkündende Wissenschaftlichkeit beruft, ist das Hinterfragen dieser Wissenschaftlichkeit notwendig.
Entgegen Deiner Behauptung stürze ich mich aber nicht nur auf Spitzers Fehler und ignoriere die relevanten inhaltlichen Fragen. Ich beschäftige mich seit Jahren mit den inhaltlichen Fragen, werde mir aber nicht diktieren lassen, sie anhand des oft unseriösen Buches von Spitzer zu diskutieren. Wie von anderen bereits gesagt, lässt sich auf einem polemisch geschriebenen Buch schlecht eine sachliche Debatte aufbauen. (Die von Dir in diesem Posting aufgeworfene Frage nach Handschrift versus Touch Screen habe ich z.B. – von Dir bereites kritisch kommentiert – hier http://wiki.doebe.li/Beat/MitTabletsLesenUndSchreibenLernen kommentiert.)
sorry, aber bei ihnen bewahrheitet sich der spruch meines kommunikations-/medien-profs wagner von vor 25 jahren: kommunikationswissenschaft ist ein dürrrer ast der wissenschaft.
was soll denn dieser peer-review-blödsinn. natürlich ist spitzers werk keine wissenschaftliche, sondern eine populäre publikation. aber wenn sie denn unebdingt populär „peer-reviewen“ wollen, dann doch bitte nicht nur drei falsche zahlen und vier quellen auflisten, die nicht funzen. dann müssen sie doch auch darauf eingehen, wo er im kern richtig liegt: hirnveränderungen, deutlich gebremster sprach-schrifterwerb, wahnsinns-zeitvergeudung durch ballern, das sehr wichtige lern-spiel-paradigma will ich gar nicht erwähnen: lernen verändert (verbessert) sich durch den einsatz von web2.0 – aber es wird für bestimmte kinder und jugendliche auch schwerer zugänglich. ich sage nur mal das stichwort inklusion. also, ein lernen, das nicht mehr nur linear abläuft wird anders und vielfalls auch besser; aber zugleich können nicht alle lerner mit dem nicht-linearen (wenn man so will: fraktalen oder chaotischen) lernen was anfangen.
die risikogruppen lassen sich, anders als es martin lindner und viele andere nerds behaupten, bereits jetzt nachweisen. und zwar in der praxis wie in der empirischen forschung. jeder lehrer modernen nicht-frontalen lernens weiss, dass es schüler gibt, die probleme in der selbstorganisation etc. haben. und christian pfeiffer und viele andere haben die auch gezeigt, indem sie den lernerfolg mit der computernutzung korrelierten.