Missbrauch und Mord – Der mutmaßliche Mörder von Lena (11) wird in Aurich verurteilt. Entschieden wird aber indirekt auch über die politische Verantwortung von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU)

VON CHRISTIAN FÜLLER

Vor wenigen Stunden hat David H. den Gerichtssaal in Aurich verlassen – als Schuldiger. Er werde sehr lange eingesperrt bleiben, sagte Richter Brederlow, der ihn in die Psychatrie einweisen ließ.

Der junge Mann hat gestanden, im März diesen Jahres die 11jährige Lena erwürgt zu haben. Vorher hatte er versucht, das Mädchen zu vergewaltigen. Als sie um Hilfe rief, brachte er sie um. Der Tod Lenas erscheint auch deswegen so sinnlos, weil der mutmaßliche Täter alles getan hat, um die Polizei auf sich und seine pädosexuelle Veranlagung aufmerksam zu machen.

Schwere Fehler

Doch die Beamten des niedersächsischen Innenministers leisteten sich schwer vorstellbare Fehler. Sie ließen den jungen Mann, der sich wenige Monate vor dem Sexualverbrechen an Lena wegen seiner pädophilen Neigung selbst anzeigte, wieder von der Polizeiwache ziehen – ohne ihn erkennungsdienstlich zu behandeln, ohne Speichelproben zu nehmen und ohne seine Wohnung zu durchsuchen. Innenminister Uwe Schünemann (CDU) versprach damals, die Versäumnisse der Polizei schnell aufzuklären. Jetzt, sieben Monate später, weigert er sich beharrlich, die Arbeit jener Beamten zu bewerten und daraus Konsequenzen zu ziehen. (Siehe Kommentar)

Eine der drängendsten Fragen im Gerichtssaal war denn auch, ob und wie die Richter eine Mitverantwortung der niedersächsischen Sicherheitsbehörden feststellen und womöglich das Strafmaß von David H. mindern. Richter Brederlow verneinte dies – und verwies auf strukturelle Gründe. Selbst wenn die Polizeibeamten alle Abläufe eingehalten hätten, wäre der spätere Täter nicht eingesperrt worden. Er sah allein David H. verantwortlich.

Ohne Tarnung

Pädokriminelle sind gut darin, sich zu tarnen und zu verstecken. Ganz anders David H. Er ging direkt zur Polizei in Aurich und wies auf seine pädophilen Neigungen hin. Er gestand, kinderpornografische Sammlungen auf seinem Rechner zu besitzen. Und er zeigte den Beamten auch, dass er bereit ist, die Grenze von virtuellem Missbrauch seiner Macht zum realen zu überschreiten: Der junge Mann gestand, ein siebenjähriges Mädchen ausgezogen und fotografiert zu haben, eine Freundin seiner Schwester. Die Botschaft an die Polizei lautete: Ich bin gefährlich und traue mir selbst nicht mehr, helfen Sie mir! Doch die Polizei ignorierte ihn praktisch.

Am Tag nach seiner Selbstanzeige versuchte David H. in einem Moment größter Verwirrung eine Joggerin zu überfallen. Die Polizei aber konnte die gefundenen DNA-Spuren nicht mit ihm in Verbindung bringen, weil sie keine Speichelproben genommen hatte. Das war im November 2011.

Auch eine Hausdurchsuchung bei dem jungen Pädokriminellen hätte die Polizei damals auf die Spur des Täters und späteren Mörders bringen können. Doch den Durchsuchungsbeschluss, den die für Triebtäter zuständige Staatsanwaltschaft in Hannover ausstellte, führte die Polizei nicht aus. Das war im Dezember 2011. Drei Monate später war Lena tot. Dem Polizeivize von Aurich Friedo de Vries stockte in einer Pressekonferenz der Atem über die schwerwiegenden Versäumnisse. Er leitete interne Ermittlungen gegen die Beamten ein. Insgesamt wird gegen acht Polizisten disziplinarisch vorgegangen.

Doch während es der Jugendkammer des Landgerichts gelang, über die Strafe von Daniel H. zu beraten, lassen die organisatorischen und disziplinarischen Konsequenzen für die Polizisten auf sich warten. Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen zwei Polizeibeamte wegen Strafvereitelung im Amt wurden fallen gelassen.

Ein Sprecher der Polizeidirektion Osnabrück, die das dienstrechtliche Verfahren gegen ihre Kollegen führt, sagte der taz, dass sich inzwischen ein recht klares Bild über den Sachverhalt ergebe. Er können jedoch nicht sagen, ob das Verfahren in vier, sechs oder acht Wochen abgeschlossen werden könne.

Schünemann spricht sich frei

Niedersachsens Innenminister Schünemann hat deutlich gezeigt, dass er zwischen der individuellen Schuld der Polizeibeamten und den strukturellen Ursachen im Fall Lena unterscheiden kann. Wo also ein Beamter schlampt oder gegen Dienstvorschriften verstößt. Oder wo das ganze staatliche System des Wahrnehmens und Verfolgens sexueller Gewalttäter versagt. Im April sagte Schünemann, er gehe von persönlichen Fehlleistungen der Beamten aus, nicht von strukturellen Fehlern der Polizeiarbeit. Das bedeutet, der Innenminister sprach sich, den Strukturverantwortlichen, frei und die Polizisten schuldig. Jetzt sagt Schünemann nichts mehr, wie er der taz mitteilen ließ, weil „der Polizeidirektion Osnabrück die dienst- und personalrechtlichen Befugnisse obliegen“.