Grünes „Projekt Aufarbeitung“
Eva Quistorp war Mit-Gründerin der Grünen. Sie kritisierte ihre Partei für die pädophilenfreundliche Politik in den 1980ern. War das der Grund, dass sie weder von den Gutachtern Walter/Klecha noch von der parteiinternen Kommission angehört wurde?
(Ganzes Interview „Die Revolution missbraucht ihre Kinder“)
Frage: Frau Quistorp, was stört sie am „Projekt Aufarbeitung“, wie es die Grünen betreiben?
Eva Quistorp: Schon der Titel Aufarbeitung ist mir nicht angenehm. Mir scheint hier wurde selektiv vorgegangen und kaum Empathie für die Opfer gezeigt. Es wird immer so getan, als ob nicht auch lockere Sprüche Opfer haben könnten. Bei der katholischen Ideologie gehen wir Grünen aber immer wie selbstverständlich davon aus, dass sie Opfer produziert. Alle, die jetzt in Amt und Würden sind, versuchen den grünen Parteiapparat zu schützen. ... Es geht den meisten Funktionären nur um die Institution, Menschen und Opfer werden übergangen. Und es werden andere Sichtweisen ausgeblendet. Mir wurde zum Beispiel mitgeteilt, „dass wir mit vielen Frauen gesprochen haben, die damals gegen pädosexuelle Positionierungen im Landesverband vorgegangen sind.“ Das ist wichtig, keine Frage. Aber kann das alles sein? Leute wie ich, die sich kritisch äußern, stören diesen Frieden offenbar.
Was meinen Sie damit?
Ich habe der Walter/Klecha-Kommission schon im Jahr 2013 geschrieben, dass ich zu einem Interview bereit wäre. Weil ich glaube, dass ich als Gründerin und wir als Partei damals im Umgang mit den Pädophilen und ihren Mitläufern schwere Fehler gemacht haben.
Schwere Fehler im Umgang mit den Pädophilen und ihren Mitläufern
Es gab daraufhin einen Mailwechsel und die Ansage aus dem Institut für Demokratieforschung, dass sie sich wieder melden wollen. Aber das Interview kam nie zustande. Ein Treffen für ein Gespräch wurde nicht vereinbart. Nun habe ich, auf nochmalige Nachfrage, folgende Information von einem Mitarbeiter Franz Walters erhalten:
„Entschuldigen Sie bitte, dass wir unserer eigenen Ankündigung offenbar nicht konsequent nachgekommen sind. Dass wir Sie nach einer längeren Mail-Konversation vergeblich haben warten lassen, ist bedauerlich. Eine in diesem Fall natürlich angemessene Absage muss in der Dynamik des Tagesgeschäfts dieses Projekts schlicht vergessen worden sein.“
Was ist das denn für eine Form von Aufklärung? Wollte man mich nicht hören, weil ich mich öffentlich kritisch und auch selbstkritisch geäußert hatte?
Ähnlich ging es auch anderen Zeitzeugen, sogar Betroffene sexualisierter Gewalt, die Schwierigkeiten hatten ihre Erlebnisse an das Institut für Demokratieforschung zu berichten. Siehe Welt
Genau so ging es mir auch, als ich mich mit Walter in Verbindung setzte. Mir wurde ebenfalls mitgeteilt, dass man sich zu gegebener Zeit wieder bei mir melde – und dann habe ich nie wieder etwas von Walter und Konsorten gehört.
Ich bin selbst Betroffene (innerhalb der Familie) und die in den 1970ern herrschende öffentliche (und angeblich „wissenschaftliche“ – einschließlich der Psychoanalytischen Vereinigungen!) Ansicht über die Sexualität von Kindern bzw. ihrem angeblichen Wunsch nach Sex mit Erwachsenen (zur Befriedigung ihrer angeblichen „natürlichen“ Bedürfnisse), usw. hat die Täter (und MittäterInnen) in meinem Umfeld ganz sicher bestärkt in ihrem Tun. Sie durften und konnten sich – trotz noch bestehender Strafbarkeit – im Recht bzw. auf der „richtigen Seite“, der der „Kindesbefreier“ fühlen. Jedenfalls trig die damals herrschende öffentliche Pro-Pädophilie-Stimmung insbesondere in den linksliberalen (auch intellektuellen) Kreisen ganz sicher dazu bei, dass sexualiserte Gewalt gegen Kinder nicht als solche gesehen wurde. Wir betroffenen Kinder waren dadurch absolut in einer beschissenen Situation: Nicht nur, dass wir (in meinem Fall über Jahre hinweg) den sexuellen Übergriffen von Bezugspersonen ausgeliefert waren, sondern diese wurde uns auch noch als etwas „Gutes“, „Fortschrittliches“, etwas, das „Normal“ ist, verkauft, was uns mit unserem persönlichen Erleben (Ekel, Angst, Abwehr, etc.) in heftige Zwiespälte und Verwirrung brachte. Zudem signalisierte uns diese öffentliche Stimmung die Ausweglosigkeit unserer Situation: An wen sollte man sich wenden, wenn einem „Gutes“ geschah?? Würde es einer beim Melden nicht noch einmal so gehen wie zuhause, dass man für die eigenen Abwehrgefühle beschämt würde (dass man angeblich nicht richtig fühlte)??? Abgesehen davon, dass man gleichzeitig damit rechnen musste, als die Verführerin des Mannes, als „Lolita“ oder „Flittchen“ abgestempelt (und beschämt/beschuldigt) zu werden. Denn dieses Bild (das teilweise bis heute wirkt) beherrschte den anderen Teil der (öffentlichen) Köpfe.
Die GRÜNEN mögen tatsächlich – wie Walter es formulierte – relativ spät in diese gesellschaftliche Gemengelage, die sexuelle Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder als „Befreiung“ und als Bedürfnis der Kinder postulierte, hineingekommen sein. Oder besser: der gesellschaftliche Einfluss der Pädophilen und all jener, die zwar nicht als sog. „Kernpädophile“ angesehen werden, aber dennoch gerne AUCH mit Kindern sexuell verkehren wollen, erstarkte bereits durch die sog. „sexuelle Revolution“, und zwar flankiert von Wissenschaft, Justiz und Politik. In der Partei der GRÜNEN fanden sie dann offenbar ebenso politischen Niederschlag wie in anderen gesellschaftlichen Einflussgrößen wie bspw. Pro Familia, dem Kinderschutzbund usw. Wer also nach den Opfern der GRÜNEN fragt, muss nach den Opfern der „sexuellen Befreiung“ im Zuge der 1968er/1970er Jahrzehnte fragen. Und er/sie muss nach denjenigen fragen, die diese Bestrebungen hatten und ihnen zu Ansehen (!!) verhalfen. Muss danach fragen, wie es geschehen konnte, dass sexuelle Gewalt an Kindern durch Erwachsene plötzlich zu etwas „Gutem“ werden konnte. Muss beleuchten, welche „wissenschaftlichen“ und anderen Theorien solchen Entwicklungen Vorschub leisteten. Muss die Sexualisierung bzw. sexuelle Aufladung von Kindern/Jugendlichen im allgemeinen Verständnis untersuchen (z.B: war die „Schulmädchenreport“-Serie von 1970-1980 mit 100 Millionen Zuschauern die bisher erfolgreichste deutsche Kinoproduktion. Der erste Teil wurde mit rund sechs Millionen Zuschauern einer der fünf erfolgreichsten deutschen Filme! Aber auch der SPIEGEL titelte 1977 schon mal mit einer sexualisierten Darstellung einer 13-Jährigen). UND SO WEITER….!!!
Wenn die GRÜNEN sich nun also hinstellen und behaupten, dass es durch sie keine Opfer gäbe, so ist das einfach schamlos und dreist. Denn sie entstanden ja nicht aus dem Nichts. Sie entstanden aus der gesellschaftlichen Subkultur, in der sexuelle Übergriffe auf Kinder als „gesund“ und „richtig“ galten. Ihre Wählerschaft gründet zu großen Teilen in den linksliberalen und Intellektuellenkreisen, die in den 1968er und 1970er Jahren (ff) die „sexuelle Revolution“ begründeten, vorantrieben und „wissenschaftlich“ untermauerten. Die GRÜNEN reihen sich also ein in ein gesellschaftliches Phänomen, das bislang (auch in der sogenannten Aufklärung in der Folge der Aufdeckungen nach Canisius usw.) noch völlig tabuisiert blieb: Die gesellschaftlich akzeptierte und propagierte Sexualisierung von Kindern zur Befriedigung der Bedürfnisse von Erwachsenen (die im übrigen nicht nur „Pädophile“ sind/waren, jedenfalls nach derzeitiger Definition). Damit können sich weder die GRÜNEN noch andere gesellschaftlich relevante Gruppierungen (Intelligenzia, Kulturschaffende, Wissenschaft/Sexualwissenschaft, Psychoanalyse, Justiz, Parteien, Politik, Verbände, Jugendschutz, Reformbewegung, usw.) freisprechen, keine Opfer erzeugt zu haben. Sie haben es, wenn auch nicht auf direktem Wege.
(Anmerkung an Christian Füller: Ich schreibe aus persönlichen Gründen unter Pseudonym, bin aber über die angegebene Emailadresse jederzeit erreichbar/verifizierbar)
Es waren tatsächlich andere Zeiten als Pädokriminelle die Gelegenheit bekamen, eine recht starke Lobby zu bilden. Ich finde Winfried Ponsens von der Initiative „Missbrauchsopfer Johanneum Redemptoristen e.V.“ hat das in einem taz-Interview sehr differenziert dargestellt http://www.taz.de/!128749/
Wie fast alles im Leben hatte auch die „sexuelle Befreiung“ zwei Seiten. Für Viele war sie eine Ent- für manche eine schwere Belastung.
Wenn wir heute offener über sexuelle Ausbeutung und Misshandlung sprechen können, hat das auch damit zu tun, dass Sexualität an sich zu etwas Normalerem geworden ist. Und heute weder verteufelt, noch mystifiziert werden muss. Volkmar Sigusch hat sich dazu schon im Mai 2010, vier Monate nach dem Canisiusday geäußert:
„Ein Grund ist sicher, dass das Sexuelle in unserer Kultur in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an symbolischer Bedeutung verloren hat. Es ist gewissermaßen normalisiert worden und nicht mehr die große Metapher der Revolution, des Rausches und des Glücks. Wir wissen heute ja sogar, dass es Liebesbeziehungen ohne Sexualität geben kann, die sehr viel befriedigender sind als vor Sex strotzende Beziehungen.“
http://www.zeit.de/2010/20/Interview-Sigusch
Alles was frei zugänglich, normal, erreichbar ist, verliert auch einen Teil seiner Attraktivität.
Die Zurückhaltung bei den Grünen, was die mutige Aufklärung aller Zusammenhänge betrifft hat sicherlich auch damit zu tun, dass etliche der derzeit Verantwortlichen noch von der Zeit geprägt sind, in der Sexualität eine Art Verheißung darstellte. Und manche es als jüngere Menschen mit dem Alter ihrer Sexualobjekte nicht so genau genommen haben. Was damals als ganz normal und durchaus akzeptabel galt. Das Beispiel, was Lilly Meier oben angeführt hat, die Kinorekorde des „Schulmädchenreports“ sind typisch für die Zeit damals. Solche Mädchenjägerei betrieb man in jedem Milieu. Ob in der Hausbesetzerszene, in der evangelischen Kirche oder auf dem Familienfest. Dabei hielten diese übergriffigen Typen besonders nach Kindern am Anfang der Pubertät Ausschau. Die älteren waren nämlich schon gewarnt und wussten, wie sie diesen Kerlen entkommen konnten. Und erst der Mut der Männer, die sich 2010 als Opfer zu erkennen gaben hat der Öffentlichkeit klar gemacht, dass Jungen genauso sexuell ausgebeutet werden. Und Frauen/Mütter genauso missbrauchen wie Männer. Allerdings mit anderen Strategien.
Sexualität wurde vor Jahrzehnten noch idealisiert. Für per se attraktiv erklärt. Allerdings nur solche, die die Kriterien für das erfüllte, was dem Klischee über das männliche Sexualverhalten entsprach: gierig, mechanisch, grob, dreckig. In so einer Atmosphäre sind Kinder genauso Freiwild wie Frauen, sofern sie niemanden haben, der ihren Besitz beansprucht und ihn verteidigt.
Die Grünen könnten entscheidend dazu beitragen, eine ganz böse und primitive gesellschaftliche Tradition aufklären, aufarbeiten und verändern zu helfen.
Einige Parteimitglieder haben sich dazu in entsprechenden Arbeitsgemeinschaften auf den Weg gemacht. Sie brauchen unsere Unterstützung und unseren Zuspruch, damit sie möglichst viele ihrer KollegInnen davon überzeugen können, dass dies notwendig und letztlich vorteilhaft sein wird. Und es ihnen nicht so geht wie vielen Missbrauchsopfern, die als Überbringer der schlechten Nachricht von deren Empfängern über die Burgmauer geworden werden. Anstatt dass die sich mit dem Inhalt der Botschaft auseinanderzusetzen.
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden