„Es gibt in der Tat große Erfolge“: Wie ein Buch die Katastrophenstimmung bei der Ebert-Stiftung aufhellt.
Kommenden Am heutigen Donnerstag (2. Juno) beweint die Friedrich-Ebert-Stiftung (wieder einmal) die Chancenungleicheit – und das obwohl die Abiturquote eines Jahrgangs noch nie so hoch war wie heute. Wir stehen mitten in einer zweiten Bildungsrevolution, sechs von zehn Jugendliche eines Jahrgangs machen Abitur. Längst hat die Mission Abitur eine Kehrseite – nämlich dass es in den Gymnasien strukturell keine Berufsberatung gibt. Aber Eberts jammern über Chancenungleichheit?!? (Siehe Abiturentwicklung 2010ff)
Was ist da los?
Wer den Widerspruch zwischen dem lauten Wehklagen über die Chancenungleichheit und der Realität des neuen deutschen Bildungsbooms verstehen will, sollte bei Oliver Nachtwey nachschlagen. Der Ökonom und Soziologe, der derzeit den Lehrstuhl für „Soziale Ungleicheit“ an der Frankfurter Goethe-Uni vertritt, klärt das Paradoxon auf. Seine Lektüre ist ein intellektuelles Vergnügen; freilich kann es die Analyse der sozialen Wirklichkeit des Auf- und Abstiegs-Paternosters nicht aufheitern. Nachtwey nennt das vorherrschende ökonomische Modell nämlich „Die Abstiegsgesellschaft“.
Breite gesellschaftliche Schichten fahren in den Bildungseinrichtungen einen Stock höher – und werden dort auf einem Arbeitsmarkt abgeladen, der gespickt ist mit den Falltüren der Projekt-, Teilzeit- und Befristungsgesellschaft der High Potentials.
Mehr zu dem aufschlussreichen Buch von Oliver Nachtwey hier im Freitag.
Auch die Ebert-Stiftung gibt am 2. Juni bei ihrer Konferenz ein bemerkenswertes Buch heraus. „Gerechtigkeit fängt bei der Bildung an — Eine sozialdemokratische Erzählung.“ Hrsg: Burkhard Jungkamp und Marei John-Ohnesorg. FES Netzwerk Bildung, 2016
Es ist erstens besonders, weil darin viele kluge Leute über Bildung und Chancengleichheit räsonieren, von der beeindruckenden Ute Ersiek-Rave über Benjamin Edelstein (mit einem großartigen Interview mit Humboldt, Dahrendorf und Picht) bis zu dem Superduperminister Jürgen Zöllner. Es finden sich ziemlich ungewöhnliche Formate in dem Text, ich habe selten ein so kreatives SPD-Buch gesehen ;-): Gedichte, Szenarien, ein Multiple-Choice-Fragebogen. Das beste Stück ist meines Erachtens der erstklassige Leitartikel von Matthias Anbuhl – und ein Interview, das die Ex-Bundestagsabgeordnete Ulla Burchardt mit dem Journalisten Karl-Heinz Reith führt. Dazu unten die wichtigste Passage, deren Kernsatz lautet:
Es gibt in der Tat große Erfolge.
Das Buch ist zweitens besonders wegen seines beinahe peinlichen Widerspruchs zwischen dem katastrophischen Vorwort von Pia Bungarten, der Leiterin der Studienförderung bei Eberts, und den anderen Autoren. Bungarten schreibt immer noch so und trommelt, als wäre die Bildungsrepublik nicht durch einen tiefgreifenden Reformprozess gegangen. Ihr Referenzpunkt ist ungebrochen die Hiobsbotschaft der Pisastudie von 2001. Dass seitdem im Grund kein Stein auf dem anderen im Bildungssystem geblieben ist, bemerkt sie nicht. Glücklicherweise stimmt keiner der Autoren dieses spannenden Buchs in das Vorwort mit ein.
Selbst der sehr kritische Karl-Heinz Reith nicht; sein Interview fasst kurz zusammen, was passiert ist: es ist deutlich besser geworden.
Ulla Burchardt: Konstitutives Element der Geschichte der sozialdemokratie war der Kampf um Bildung als Voraussetzung für emanzipation des einzelnen und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Hat sich diese historische mission erfüllt angesichts der über 50 Prozent Abiturient_innen sowie der mehrheit weiblicher Studierenden?
Karl-Heinz Reith: Es gibt in der Tat große Erfolge, die Anerkennung verdienen. Die Beteiligung an Bildung in der Gesellschaft ist insgesamt gestiegen. Es gibt heute deutlich mehr Abiturient_innen und mehr Studierende. Das gegliederte Schulsystem ist ein wenig durchlässiger geworden, integrative Schulsysteme mit längerem gemeinsamem Lernen behaupten sich aller konservativer Anfeindungen zum Trotz. Der Trend bei den Eltern geht weiter in Richtung Ganztagsschule. niemand bestreitet mehr den wert frühkindlicher Bildung – anders noch als Anfang der 70er Jahre. CDU-geführte Landesregierungen, die Studiengebühren einführten, wurden abgewählt und auch in Bayern lenkte die CSU unter dem politischen Druck ein. Das BAföG sichert weiterhin vielen bedürftigen Studierenden den Lebensunterhalt – trotz mehrfacher konservativer ‚Kahlschlag‘-Versuche.
P.S. Jürgen Zöllner kann es natürlich nicht lassen, seiner Partei in die Suppe zu spucken. Sein Resümee fällt etwas pragmatischer aus als das der anderen Autoren:
Die Sozialdemokratie sollte mehr Mut zur Ehrlichkeit wagen. Das bedeutet:
– Man kann nur Geld ausgeben, wenn man es vorher verdient hat.
– Fördern und Fordern ist eine leere Phrase, wenn die Betroffenen nicht auch negative Konsequenzen zu tragen haben.