Der Technikfolgenausschuss lässt sich einen aufgehübschten Bericht über „Digitale Medien in der Bildung“ schreiben, in dem die wichtigsten Risiken und Nebenwirkungen nicht zu sehen sind

Making of zum heutigen Bericht in der FAZ: „Abgeordnete mit verbundenen Augen“

Der Bericht über „Digitale Medien in der Bildung“, den der Ausschuss für Technikfolgenabschätzung am Mittwoch (9.6.) diskutiert, ist ein mittlerer Skandal. Der Bundestag hatte zum ersten Mal die Chance, sich wirklich kritisch mit den Folgen der Digitalisierung für Kinder und Jugendliche auseinanderzusetzen – aber das Papier ist eine Lobhudelei geworden. Und das ausgerechnet im Jahr 2016, das von Industrie, Lobbyverbänden und Bundesregierung zum Jahr der digitalen Bildung ausgerufen wurde. Nicht weniger als drei „Gipfel“ (Forschungsgipfel, MINT-Gipfel, Nationaler IT-Gipfel) befassen sich 2016 damit, den Schulen und Hochschulen bei der Digitalisierung Beine zu machen. Bildschirmfoto 2016-06-07 um 15.43.09

Doch die Chance einer auch kritischen Würdigung hat der Bundestag – erneut – vertan.

Soziale Chancen – und Risiken

Technikfolgenabschätzung heißt seit Jacob Christian Schäffer 1766, die sozialen Chancen und Risiken einer neuen Technologie abzuschätzen: Damals ging es um die erste Waschmaschine und ihre Auswirkungen auf den Beruf der Waschweiber. 

Schäffers Waschmaschine von 1766
Schäffers Waschmaschine von 1766

Das Büro für Technikfolgeabschätzung des Bundestages (betrieben vom KIT Karlsruhe) definiert das in dem Bericht kurzerhand um: Risiken werden in dem Bericht zu „Herausforderungen“ transformiert, also Hindernisse, welche die Einführung digitaler Klassenzimmer und Tools blockieren. Damit wird die Idee der Technikfolgenabschätzung (TA) ad absurdum geführt. Nun sind nur noch die Chancen im Blickpunkt – und die Böswilligen, die sich ihnen in den Weg stellen. 

Diese Sichtweise war ganz offensichtlich gewollt. Einer der Berichterstatter für TA sagte bei der Recherche plötzlich: „Das können Sie vergessen, dass da was gedreht wurde.“ Wenn Politiker ungefragt einen Vorhalt abwehren, den man ihnen nicht gemacht hat, heißt es aufgepasst. Denn diese Aussage deutet ganz klar daraufhin: Man muss nachprüfen, ob an dem Auftrag durch die Fraktion „Die Linke“ nachträglich Veränderungen angebracht wurden (und sei es im konsensuellen Verfahren). Wichtig ist auch zu fragen, wie das Büro für Technikfolgenabschätzung seine Literatur- und Expertenauswahl vornahm. Es ist ja interessant, dass der wichtigste Stichwortgeber der Autoren der Lobbyverband der Digitalindustrie Bitkom war – und das bei einer Technikfolgenabschätzung. TBABitkom

Was in dem Bericht steht, kann sich jeder heute 10:30 Uhr morgen im Bundestag ansehen. Eine kurze Inhaltsbeschreibung mit ScreenShots aus dem Bericht findet sich hier. Interessant ist, was im Laufe der Recherche geschah (bei der insgesamt sieben MdBs und eine Reihe von Experten befragt wurden).

Meine Abgeordnete des Monats wurde dabei Beate Walter-Rosenheimer von Bündnis 90/Die Grünen. Die Abgeordnete ist von Haus aus Psychologin, Mutter von fünf Kindern und Mitglied in der Kinderkommission des Bundestages. Sie schien geradezu prädestiniert, um über ein so wichtiges Thema Auskunft zu geben: wie kann man Kinder und Jugendliche in Schulen adäquat auf die digitale Welt und ihre Erscheinungen vorbereiten?

Die Abgeordnete des Monats: nicht zuständig

Frau Walter-Rosenheimer meldete sich auf Anfrage tagelang erst gar nicht, meistens hieß es, sie sei im Urlaub oder im Wahlkreis. Dann erklärte ihr Büroleiter, die Abgeordnete sei „nicht zuständig“.

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Forderung der Kinderkommission 10/2015

Das war ein interessanter Hinweis. Walter-Rosenheimer ist ja Mitglied der Kinderkommission des Bundestages, die sich bislang als einziges Subgremium des Bundestages auch mal kritisch mit dem Netz auseinandergesetzt hatte. Könnte es also sein, dass die grüne Abgeordnete und Psychologin die Sichtweise der Kinderkommission mit in die Diskussion einbringen könnte? 

Nein, wurde dann von der Abgeordneten schriftlich mitgeteilt. Sie sei nicht zuständig, sondern vielmehr die Kollegen für Bildung und für Medien.

Um der Abgeordneten genauer zu zeigen, wie weit die Zuständigkeit von Volksvertretern reicht und um was es im Detail geht, formulierte ich konkrete schriftliche Fragen:

Frage: Hat das Büro [für Technikfolgenabschätzung, die das Papier erstellten] die kritischen Anstöße der Kinderkommission zum Thema Digitalisierung aufgenommen oder nur erwähnt?

Walter-Rosenheimer: „Die von Ihnen erwähnte Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen Bundestages wurde erst im Oktober 2015 veröffentlicht, während das TA-Projekt ‚Digitale Medien in der Bildung‘ bereits Ende 2014 gestartet ist.“

Frage: Die Veränderungen digitaler Dauernutzung von Web2.0 durch Kinder und Jugendliche greift nach Experten tief in die psychosoziale Entwicklung von Kindern ein. Finden insbesondere Sie als Psychologin, dass dieser Aspekt in dem Gutachten zu den sozialen Folgen der Einführung der digitalen Technologie Rechnung getragen wird? Kommt er überhaupt vor?

Die Fragestellung an das TAB war nicht, was die psychosozialen Auswirkungen von Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen sind oder sein können, sondern eher eine funktionale: ‚Zugang zu digitalen Medien und Sicherstellung der technologischen Infrastruktur in Bildung, Wissenschaft und Hochschule‘.“

Was die Kinderhilfe sagt: Risiken aus den Augen verloren

Cybermobbing per Nachricht
Cybermobbing per Nachricht

Experten sehen das ein bisschen anders. Kevin Vennewald von der Deutschen Kinderhilfe, begrüßte „grundsätzlich eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Einsatzes digitaler Medien in Schulen, Hochschulen, Berufsschulen und Weiterbildungseinrichtungen“. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung habe das ausführlich getan, „dabei jedoch die eigentlichen Gefahren und Risiken für Kinder und Jugendliche im Umgang mit den ’neuen‘ Medien aus den Augen verloren.“ Vennewald vermisste die wichtigsten Stichworte wie Cyber-Mobbing, Sexting und Cyber-Grooming. „Genau diese Themen erhalten Einzug in die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen in Deutschland“. Und er mahnte auch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema Jugendmedienschutz an. (Siehe das ganze Statement hier.)

Der Auftrag: umfassende Veränderungen abwägen

Rosemarie Hein von der Linksfraktion hatte die ursprüngliche Idee zu dem Antrag. Ihr ging es zum einen um den „Zugang zu digitalen Medien“, um „Sicherstellung der technologischen Infrastruktur in Bildung, Wissenschaft und Hochschule“ und die „Entwicklung von Medienkompetenz bei Lehrenden und Lernenden“. Zum anderen wollte sie aber auch die „kulturkritischen und kulturpessimistischen Standpunkte“ erörtert wissen.

Mit dem Einzug neuer Technologien sind stets umfassende Veränderungen in der Lebensweise von Menschen verbunden, in ihrer Weise zu kommunizieren und die Gesellschaft zu verändern. Sie haben soziale Auswirkungen. Sie bergen Chancen und Risiken. Diese umfassenden Veränderungen und ihre Folgen wollten wir abgewogen wissen.“

Was lernt man daraus? reichstag-49123

Der Bundestag will nicht wirklich wissen, was im Netz vor sich geht, schon gar nicht, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Und man ist durchaus trickreich dabei, wie man vermeidet, dass die hässliche Seite des Internets am besten nicht zu sehen bekommt. Als die Enquete zu Internet und digitale Gesellschaft zum Beispiel Arbeitsgruppen festlegte, gab es dazu ingesamt 14 – aber keine einzige befasste sich im Titel und hauptsächlich mit kritischen Themen wie – zum Beispiel –  Kinderschutz. Dabei sollte die Enquete ursprünglich nur vier Arbeitsgruppen haben.

Was die Enquete wollte, hat einst der Abgeordnete Jimmy Schulz (FDP) deutlich gemacht:

Wenn Politik vorher übers Internet sprach, dann war ausschließlich die dunkle Seite Thema, das schmuddelige Bahnhofsviertel“, sagte Schulz. „Wir wollten in der Kommission einmal über die 97 Prozent Chancen sprechen, und wir sollten als Gesellschaft generell mehr darüber nachdenken, was es alles Gutes im Netz gibt.“

Das ist nun so. Kritische Seiten werden einfach nicht mehr erörtert.

Ob das die geeignete Form ist, den digitalen Tsunami zu überstehen, den Technologie, Industrie und Regierung entfalten.