Forscher fordern Internetsucht als Krankheit einzustufen. Sie tun das im Bundestag – aber die Abgeordneten hören weg

Morgen  Gerade erschien im „Freitag“ ein langes Stück über Internetsucht, „Die neue Volksdroge“. In einem Interview warnte der Psychologe Matthias Brand von der Uni Duisburg-Essen „vor einer Lawine, die da auf uns zurollt.“ Anlass war die öffentliche Anhörung im Bundestag am 9. Juni, und man muss dazu einige Worte über das vermeintlich Hohe Haus verlieren. Es ist schwer zu glauben, mit welcher Mischung aus Indolenz und Ignoranz die Abgeordneten mit Risiken im Netz umgehen. Es klingt wie Wirklichkeitsverweigerung. Es ist eines Parlaments unwürdig, weil die MdB sich offenbar nicht informieren wollen, sich lustig machen oder gar nicht erst hingehen, wenn seriöse Wissenschaftler ihnen Unangenehmes über das Netz erzählen.


Ausriss aus dem Text im Freitag:

Ziel der Psychologen, Suchttherapeuten und Forscher ist es nicht, Netzsperren zu errichten oder Online-Games zu verbieten. Keiner der Gutachter fordert das. „Man kann ohne Schnaps leben“, sagt etwa die Leiterin der Psychosomatik an der Medizinischen Hochschule Hannover, Astrid Müller. „Aber ohne Internet kommt man heute nicht mehr zurecht.“ Gleichwohl ist wichtig, so das Gutachten, „Internetsucht sowie die zugehörigen Subtypen als echtes Suchtphänomen zu bewerten“.
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Die Beispiele Online-Süchtiger sind lange bekannt. Bisher wurden sie aber meist als Einzelfälle abgetan. „In Wahrheit sprechen wir von Hunderttausenden Verhaltenssüchtigen, die ihren Internetkonsum und oft auch ihr Leben nicht mehr steuern können“, sagt der Psychologe Bert te Wildt, der in der Suchtstelle der Uni Bochum arbeitet.
Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung werden bei Studien als netzkrank eingeschätzt. Bei Jugendlichen sind es zwei bis drei Prozent. Das klingt erstmal nach nicht so viel. In konkreten Zahlen heißt das aber, dass rund 250.000 Jugendliche als schwer internetabhängig gelten. So steht es auch im Bericht der Drogenbeauftragten.
(Hier ein Vortrag von te Wildt zum Thema)


Die Geschichte der unerhörten Anhörungen begann lange vor dem ersten Termin für den Bericht über „Digitale Medien in der Bildung“ im Bundestag. Das Papier, verfasst vom „Büro für Technikfolgenabschätzung“ (TAB), sollte intern im „Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung“ diskutiert werden. Niemand konnte erklären, warum man ein politisches Schwerpunktthema des Jahres 2016, digitale Bildung – das auf drei IT- und Internetgipfeln gefeiert wird – unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorstellen sollte.

Abgeordnete nicht zuständig

Pisaversteher bekam das Papier vorab (FAZ). Es ist – so viel vorweg – kein Technikfolgenbericht. Dazu würde selbstverständlich gehören, Chancen UND Risiken einer neuen Technologie zu benennen. Das hat dieser Bericht erkennbar nicht getan. Recherchen bei einigen Abgeordneten ergaben folgendes Bild: Manche kennen den Bericht, viele aber haben das Papier nicht gelesen, andere äußern sich dazu erst gar nicht. Stell´ Dir vor, es ist das Jahr der digitalen Bildung – und Parlamentarier des dafür zuständigen Ausschusses wollen nicht zuständig sein.

Höhepunkt ist die Grünen-Abgeordnete Beate Walter-Rosenheimer, die Mitglied der Kinderkommission ist, und sich trotzdem als nicht zuständig erklärte. Bislang war die Kinderkommission der einzige Teil des Parlaments, der sich auch kritisch mit dem Netz auseinandersetzte. Walter-Rosenheimer beendet diese gute Tradition.

Die erste Anhörung musste verschoben werden, da einer der Berichterstatter einen Unfall hatte. Der Folgetermin wurde – auf Antrag der Opposition – nun öffentlich angesetzt. Das gab einer Reihe interessierter Gäste die Möglichkeit zu beobachten, wie der Ausschuss mit Netz-Risiken umgeht. Es wäre wohl besser gewesen, die Öffentlichkeit auszuschließen.

Parlament falsch informiert

Am Tag der Vorstellung des Berichts im Bildungsausschuss fand nämlich ein Theater statt, das man in einem Parlament nicht für möglich gehalten hätte. Der Berichterstatter des TAB behauptete, es habe nicht zum Untersuchungsauftrag des Berichts gehört, die Risiken digitaler Medien zu erörtern. Das ist falsch. Jeder kann hier im Auftragstext nachlesen, dass die Erörterung von Risiken Teil des Auftrags war. Risikobericht

In anderen Parlamenten wird man – zurecht – dafür belangt, wenn man den Souverän als wichtigsten Vertreter der Öffentlichkeit unvollständig oder falsch informiert. In einem Untersuchungsausschuss hätte sich die betreffende Person strafbar gemacht. Im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung erntete der Berichterstatter für eine offensichtliche Falschaussage aber sogar Zustimmung von den Bänken der Regierungsfraktionen. Erst einige Abgeordnete der Opposition klärten auf, dass die Erörterung von Risiken digitaler Medien Gegenstand des Auftrags war. Im Bericht aber werden Risiken einfach ausgespart, dort ist nur von Herausforderungen die Rede, sprich Hindernissen, welche die Einführung digitaler Medien verzögern könnten.

Während der Ausschusssitzung verwiesen nun mehrere Abgeordnete darauf, dass die Erörterung der Risiken für den Donnerstag 9. Juno vorgesehen sei. Dann nämlich wenn ein weiterer TAB-Bericht vorzustellen war – diesmal von vorneherein öffentlich. Der Bericht hieß „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten“, und auch er wurde eine Lehrstunde des Parlamentarismus. Jetzt, da es um Suchtgefahren des Internets ging, waren so gut wie keine Abgeordneten anwesend. Genau acht von 630 Abgeordneten verloren sich im weiten Rund von Saal 3.101 im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. Wegen einer wichtigen Abstimmung verließen aber auch sie den Saal nach etwa einer Stunde. Es kamen nur vier Abgeordnete zurück.

Das war deswegen besonders peinlich, weil der Saal der Untersuchungsausschüsse im Lüderhaus gut gefüllt war, viele Schüler waren anwesend, Lobbyisten, Gäste. Als die Leitung der Sitzung die Abgeordneten um Fragen bat, wurde das blöde Schauspiel deutlich: Die Abgeordneten hatten keine – sie waren ja nicht da. Also kamen Gäste zu Wort.

Das Verhalten mancher Abgeordneten zum Thema war verstörend. Noch vor Beginn der Sitzung etwa verspottete die SPD-Abgeordnete Saskia Esken die „Internetsucht“ in einem Tweet. Sie habe sofort den Handydoktor gewechselt, als der ihr Smartphone 24 Stunden haben einbehalten wollen, twitterte Esken. Das sollte offenbar lustig sein.

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Was es wirklich ist, konnte man erleben, als Ärzte, Psychologen und Wissenschaftler mehrerer Universitätskliniken den Bundestag dringend dazu auffordern, die Abhängigkeit von der Nutzung des Internets als Sucht einzuordnen.

Der passende Kommentar zum Verhalten der Politik kommt von Bert te Wildt, Psychologe an der Ruhr-Universität Bochum.

„Ich finde es beinahe zynisch, wenn Wirtschaft und Politik das Thema als Problem einzelner Personen verharmlosen. In Wahrheit sprechen wir von Hunderttausenden Verhaltenssüchtigen, die ihren Internetkonsum und oft auch ihr Leben nicht mehr steuern können. Aber es gibt offenbar wirtschaftliche Interessen, die verhindern, dem Thema Onlinesucht ins Auge zu schauen. Politiker scheuen sich unbequeme Worte wie Sucht oder Abhängigkeit auszusprechen, weil sie dann unmodern wirken.“