Zurückpöbeln reicht nicht. Man muss kritische Fragen ans digitale Lernen richten – trotz des Ausrasters Mahners aus Ulm
Ein schneller Post, weil der geschätzte Martin Lindner heute wegen Manfred Spitzer aufgedreht hat. Freilich ist der Spitzer ein elender Zuspitzer, einer der auch seine Zahlen manchmal überdehnt und in Talk-Shows ausrastet. Weder seiner Gesamtthese noch seiner Art des Auftretens ist zuzustimmen: „Sie haben ja keine Ahnung! Lassen Sie mich mal ausreden.“ Aber so einfach isses halt auch nicht. Nur weil Spitzer wie ein Spinner und Austicker auftritt, sind seine kritischen Fragen ans digitale Lernen und an die exzessive Mediennutzung Jugendlicher nicht obsolet. Ganz im Gegenteil.
Nur weil Spitzer wie ein Spinner und Austicker auftritt, sind seine kritischen Fragen ans digitale Lernen und an exzessive Mediennutzung Jugendlicher nicht obsolet
Martin Lindner hat nun lässig behauptet, die Crowd habe den Spitzer nicht nur wider-, sondern sogar zerlegt. Davon kann nun wahrlich keine Rede sein. Ich kenne bislang keinen Text, der sich a) sachlich mit Spitzers Themen und Thesen auseinandersetzt und ihn dabei b) gewissermaßen neutralisiert. Die meisten Spitzer-Kritiker übernehmen seine – in der Tat unmögliche – Tonlage und pöbeln einfach zurück. Zudem gibt es eine Reihe von Widerlegungen, die von schwacher Qualität sind. Vor allem die von Medienpädagogen gehören in diese Rubrik: Sie haben halt ne andere Meinung als Spitzer und können sich benehmen – aber sie entkräften viele seiner wichtigen Fragen keineswegs.
Sechs Stunden Internet pro Tag
Mein Lieblingsbeispiel ist Beat Döbeli Honegger. Er hat sich in vielen vielen Blogposts an Spitzer abgearbeitet. Allerdings ist die Art seines Anti-Spitzerns nicht hilfreich. Was sagt es uns, wenn Honegger Spitzer nachweist, dass der tägliche Internetkonsum von Mädchen nicht etwa bei horriblen 6:50 Stunden liege, sondern nur bei läppischen 6:10 Stunden? Klar ist es doof, dass sich Spitzer da verrechnet hat. Ein Fehler, ja! Aber der Fakt eines Sechs-Stunden-Medien-Konsums pro Tag macht die Sache weiter nachdenkenswert: Was verändert sich da? Was macht das mit den Jugendlichen? Was bewegt die? usw. usf.
Ich finde die übliche Feststellung, dass digitale Medien „halt“ nicht mehr virtuell, sondern real seien, geradezu dämlich. Das fade Argument, „das Internet ist nunmal da, da kann man nix machen“ hilft nicht. Schulterzucken. Sorry, das ist mir zu wenig. (Auch wenn ich Spitzers Vergleich, Internet sei wie Schnaps, falsch finde und hier Sascha Lobo zustimme: Spitzer schürt Panik und Ängste, das hilft keinem.)
Billige Polemik und schwache Wissenschaft
Aber es hilft leider auch niemandem, mit billiger Polemik und/oder schwacher Wissenschaft zurück zu hauen. Es ist total easy, sich über Spitzer zu erheben, wie doof, laut, dement er sei (ein besonders geistreiches Wortspiel auf „digitale Demenz“). Aber bringt die Debatte nicht weiter, wenn man die wichtigen kritischen Stichworte wie Sucht, Datenschutz, Cybergrooming, Cybermobbing, Hatespeech, Sexting einfach ignoriert, nur weil sie bei Spitzer vorkommen.
Beispiel Sucht: Martin Lindner in seiner üblichen „ich-weiß-eh-alles-besser“-Methode dazu gesagt, „ich kenne nur #sucht-diskussion (sehr zweifelhaft) & die hirn-wird-verformt-diskussion (sehr zweifelhaft)“. Die Sucht-Diskussion ist durch vielfache Literatur und durch klinische Studien und durch Erfahrungen aus den Suchtambulanzen ziemlich eindeutig auf den Weg gebracht. Es gibt eine nicht-stoffliche Sucht namens „Internet-Abhängigkeit“, die sich sogar in Teilsüchte wie „Internet-Games-Sucht“ oder „Internet-Sex-Sucht“ oder „Internet-Kauf-Sucht“ usw. untergliedern lässt. (Mehr dazu hier und hier) Dazu gab es eine Anhörung der Suchtambulanzen im Deutschen Bundestag, im Jahr 2016, also sehr aktuell. Die alle vorschlagen, nein verlangen, Internet-Sucht als Krankheit zu klassifizieren. Die WHO ist übrigens dabei, eine „internet gaming disorder“ zu definieren.
Wer ist eigentlich schädlicher für süchtige Jugendliche: Wer wie Spitzer dramatisiert? Oder wer wie Martin Lindner bagatellisiert?
Davon aber hat Martin Lindner nichts gehört: „sehr zweifelhaft“, unkt er. Nein, null zweifelhaft. Ich frage mich – um Lobos Punkt aufzunehmen –: Wer ist eigentlich schädlicher für netz- oder gamesabhängige Jugendliche, denen es verdammt dreckig geht: Wer wie Spitzer dramatisiert (aber in seiner Psychatrie in Ulm eben auch hilft); oder wer wie Martin Lindner mehr oder weniger ahnungslos bagatellisiert? Ich rate, sich die Sachlage z.B. bei Bert te Wildt und anderen anzusehen. Er definiert zwei Probleme in der Debatte: Erstens, dass es noch kein Krankheitsbild Internet-Sucht gibt, weil und das die Kassenfinanzierung und die Therapie komplizierter macht; und, zweitens, die elende, nerdgesteuerte Debatte, dass es keine Games-Sucht gebe.
Krommer hat eine seriöse Arbeit der Medienpädagogen Markus Appel & Constanze Schreiner vorgeschlagen, die angeblich Spitzer sauber widerlege. Tatsächlich ist die Arbeit wissenschaftlich. Aber gelingt es ihr, Spitzer zu widerlegen? Etwa wenn sie im Jahr 2014 auf Studien von 2006 mit einem Literaturkorpus bis 2003 (!) verweist, um eine These zu entkräften. Wer als Medienwissenschaftler in einem derartig explosiven Feld wie der Ausbreitung des Smartphones mit Daten von 2003 und früher arbeitet, der hat sich als Wissenschaftler für mich ins Abseits begeben. Die These lautete „Mythos Internet und die Verringerung gesellschaftlicher Partizipation“. Die exponentielle Ausbreitung des Smartphones in den Händen der Jugendlichen beginnt im Jahr 2010 (!), sie liegt im Jahr 2015 bei sagenhaften 92 Prozent. Aber die Medienpädagogen beziehen sich auf Daten aus dem Jahr 2003, als unter Jugendlichen noch nicht mal das Mobiltelefon verbreitet war. So viel zu seriöser Wissenschaft contra Spitzer.
Spitzer hat die Vortragssäle in der Hand
Das Problem der Nerds, der Medienpädagogen und der Anti-Spitzer-Wissenschaftler ist ein anderes. Niemand, außer der Twitteria, liest ihre Pöbeleien und Widerlegungen. Die Hütten und Paläste auf dem Land aber sind fest in Spitzers Hand: „Spitzer begeistert 900 Zuhörer“. Man kann für seine Auftritte 15 Euro Eintritt verlangen, und die Bude ist voll. Warum wohl? Weil er ein Idiot ist? Oder weil er ein Problem adressiert, das die Menschen bewegt?
ich hatte mir ja gewünscht, dass du mal drei (oder so) klare thesen/aussagen aus dem spitzer-universum aufschreibst, idealer weise mit links zu seinen belegen, damit man vernünftig diskutieren kann. also etwa das, was bert tewildt mit seiner „internet-sucht“ schon tut. der bringt das in eine seriöse form (das hat noch gar nichts mit rechthaben zu tun), so dass man darüber diskutieren kann. spitzer macht das nicht. (jedenfalls nicht in „digitale demenz“, das neue buch habe ich mir gespart.)
spitzer widerlegen:
– ja, der aufsatz von appel, auf den du hinweist. ich kenne bisher buchstäblich kein wissenschaftliches paper, das spitzerst thesen stützt. sein eigenes buch ist _nicht_ wissenschaftlich argumentierend, trotz des literaturverzeichnisses. spitzer selbst hatte 2012 studien, die überwiegend von 1999 und 2002/3 stammten! vgl dazu meinen absatz „studien“ in der carta-buchrezension: http://www.carta.info/47569/zwischenbilanz-zu-spitzers-digitaledemenz/, und weiters dort zur „wissenschaftlichkeit“.
– zu seinem paradebeispiel, den „londoner taxifahrern“, aus denen er den zusammenhang von hirnplastizität und lernen/verlernen ableitet, habe ich dir die diskussion aus den kommentaren herauskopiert: https://zumpad.zum.de/p/ml-spitzer2016
das ist schnell hingeschrieben von den leuten, aber es ist viel differenzierter als spitzer selbst. er diskutiert übrigens NIE mögliche gegenargumente zu seinen behauptungen, was völlig unwissenschaftlich ist.
– es gab noch eine reihe von anderen texten damals, die sich alle ernsthaft mit dem auseinandersetzen, was spitzer so schlampig heraus haut. oliver tacke hat damals viel zusammengetragen: https://de.wikiversity.org/wiki/Benutzer:O.tacke/2012/DigitaleDemenz
das sollte reichen als antwort, oder? es gab auch vernichtende, lange rezensionen in SZ und FAZ.
bleibt also die sucht-these: „es gibt internet-sucht“.
oder spezieller: internet-game-sucht, internet-porno-sucht, internet-social-media-sucht, oder auch – in meinem durchaus neurotischen fall – die daswissenderweltdurchlesen-sucht. das ist natürlich alles überhaupt nicht dasselbe, aber egal.
vorbild ist (weiß ich von tewildt) die „glücksspiel-sucht“, und die wurde als eigenes „krankheitsbild“ erschaffen, indem man klassische rauchgiftsucht auf undeutlichere kulturelle „gifte“ übertrug.
„sucht“ ist erstmal ein phänpmenologischer begriff, der nützlich ist, wenn man feststellen will, ob ein verhalten krankhaft ist: schädigt sich ein mensch mit seinem verhalten? über eine bestimmte schwelle hinaus? körperlich oder als schwere „psychische erkrankung“? und wenn ja, was tut man da? eigentlich muss in sucht-behandlungen jemand selbst leidensdruck haben und die sucht loswerden wollen.
das alles hat nichts mit dem „stoff“ zu tun. man kann nach etwas selbstschädigend süchtig sein („shoppen“ z.b.), was in keiner weise ein „schädlicher stoff“ ist, der per se im hirn „belohnungen“ auslöst, die dann wieder einen wiederholungszwang auslösen. das ist die begründung, warum man gewisse drogen verbietet: die sucht wird physisch verankert und verslbständigt sich.
gilt das nun für „das internet“? und was soll man da machen? inwiefern soll/darf man in das leben von leute eingreifen? auf deren wunsch, oder auch gegen deren wunsch?
erziehung müssen wir davon unterscheiden: natürlich versuche ich als elternteil manchmal, durch beeinflussung und auch verbote das verhalten meines kindes zu steuern, mit mehr oder weniger großem erfolg. klassisches beispiel: beschränkte fernsehzeit, oder auch: router nachts abschalten. das hat mit sucht-diagnosen nichts zu tun.
nun gibt es aber eine sucht-therapie-industrie, die daran interessiert ist, diese diagnose zu etwas zu machen, für das es bezahlte sanatorien und therapien geben muss. das ist nicht meine erfindung: diese diskussion wird geführt, und wo die sinnvolle sucht-behandlung (und diagnose) aufhört und die sinnlos-selbstzweckhafte anfängt, ist auf jeden fall umstritten.
das ist das, was ich bisher sage: der sucht-begriff ist klar definiert, ja, aber da geht es nur darum, eine schwelle von „selbstschädigung“ zu definieren. damit ist keine „krankheit“ definiert und keine ursache gefunden (was ja bei psychischen problemen generell sehr schwer ist.)
der öffentliche „internet-sucht“ diskurs ist extrem unscharf, springt ständig zwischen den ebenen hin und her, und es ist völlig unklar, welche konsequenzen man daraus für den gesellschaftlichen umgang mit „das internet“ ziehen soll. ich würde sagen: in 90% der fälle ist es ein falscher gebrauch des begriffs. natürlich gibt es depressive, neurotische, leidende und selbstschädigende menschen, die sich ins internet flüchten, und ich hoffe, tewildt kann ihnen irgendwie helfen, aber auch da muss er sie primär von ihrer sucht-disposition selbst befreien.
Warum sollte ich etwas tun, was Dein Part ist? Thesen von Spitzer stelle ich nicht auf, ich teile sie noch nicht mal.
Zu Sucht: Deine Analogie zu Glückspielsucht stimmt, aber Du hast nicht verstanden, dass damit so genannte nicht-stoffgebundene Süchte definierbar geworden sind. In Korea sind es weit über 10% der Jugendlichen, die abhängig sind.
Dass Du Appel/Schreiner toll findest, spricht für sich. Die beiden haben Pilze auf einer Teerstrasse gesucht – und waren ganz stolz, dass sie keine fanden. Und du klatscht Beifall, weil sie ne grosse Lupe dabei hatten. Martin!
ich habe appel/schreiner nicht für toll erklärt, sie haben sich nur detailliert mit der validität seiner studien und der schlussfolgerungen auseinander gesetzt. das war mir zu speziell. mir reicht es, dass ich keinen seriösen aufsatz von spitzer selbst oder von einem spitzer-adepten kenne.
bis jetzt gibt es noch keine entgegnung zu meinen kritikpunkten von 2012, oder denen zur „hirnforschung“ (der man sowieso in bildungsfragen nichts glauben sollte, auch nicht dem hüther zum beispiel.) da liefere ich gern noch wissenschaftliche kritikpunkte zu dieser von hirnforschung generell nach, die nicht von mir sind.
kurz gesagt: spitzers aussagen sind nicht wissenschaftlich. im sinne von: man kann sie nicht mal richtig widerlegen, weil er die regeln nicht einhält. er schafft es nicht mal, diskutierbare thesen zu formulieren, sondern schwallt eben herum.
nicht-stoffgebundene süchte: ja, das wurde so (per beschluss) definierbar. aber was sagt es aus? ich behaupte mal: genau nichts über „das internet“, sondern etwas über die situation und disposition derer, die „süchte“ entwickeln. das ist der sinn des begriffs in der klnischen praxis. das ist KEINE beschreibung einer „krankheit“, die man zb mit alzheimer oder was immer vergleichen kann. und ob es „hirnschäden“ gibt, in dem sinn, wie man sie meth zuschreibt, würde ich jedenfalls schwer bezweifeln, bis zum beweis des gegenteils.
Bei psychologischen Diagnosen sollte man sich niemals ums Wort streiten. Es handelt sich so gut wie nie um eingrenzbare Indikationen wie bei körperlichen Gebrechen, z.B. wie man einen gebrochenen Arm sicher und klar diagnostizieren kann, sondern eher um unscharfe Felder, die zudem sich noch mit anderen Feldern überlappen. Der Stempel „Sucht“ ist höchstens beschreibend, erklärt aber praktisch gar nichts.
Wie immer man nun die Übernutzung von Smartphone bzw. bestimmter Anwendungen nennen mag – Sucht, Verhaltensstörung, Missbrauch oder positiv als „Leidenschaft“ oder „große Engagiertheit“ – Präventionen und Therapien können in dieser Perspektive nur individuell greifen. Es sei denn… man richtet den Blick vom Individuum weg auf die Technik. Das hat sehr interessant Natasha Dow Schüll getan („Machine Zone: Technology and Compulsion in Las Vegas“) , wobei sie sich (15 Jahre lang!) die Las-Vegas-Süieler angesehen hat (aus einem ursprünglich kulturanthropologischen Blickwinkel). Die Frage: Wie schaffen es die Maschinen, die Leute bis zum letzten Cent auszunehmen? Und das liegt eben weniger an den Menschen als vielmehr am Design der Maschinen. Der wesentliche Punkt: “ Slot machines are solitary, continuous, and rapid.“ Bei Games und Smartphone-Anwendungen oft das gleiche. Interessant hier ein Interview mit Schüll: http://bit.ly/2fap6tw (Hervorhebungen von mir).
Ganz ähnlich neulich hier die Beschäftigung mit der „kapitalistisch-technologischen“ Seite des Problems: http://bit.ly/2favCAy
Wenn man dann schaut, wer in besonderer Gefahr ist, sich an diese modulierten Activity-Streams zu verlieren, kommt man vermutlich auf psychisch Kranke, Arbeitslose, einsame Lebende, Ausgegrenzte etc. Insofern finde ich den Hinweis von Schüll sehr richtig: Es gibt hier in die Technologie eingebaute Probleme, die mindestens „moderiert“ werden müssen. Wenn man genau sein will, hat das nichts mit Web oder Mobile Phones zu tun, sondern damit, wie bestimmte Firmen im Internet ihre Geschäftsmodelle aufziehen. Übrigens im TV die gleiche Entwicklung zu mehr Beschleunigung und mehr Pausenlosigkeit – idealerweise merkt man gar nicht, wo die eine Sendung aufhört und die nächste anfängt.
Fritz Iversen
danke, sehr interessant. ja, das glaube ich gern.
die frage ist aber weiter offen: was tun die armen, einsamen usw., wenn sie NICHT in der spielhalle sitzen bzw. ihre speziell designten apps (welche?) benutzen? sind sie gesund, geht es ihnen besser? ziemlich sicher nicht. allerdings haben sie möglicherweise etwas mehr geld.
Vielen Dank für die wie immer kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Wenngleich ich viele Kritikpunkte teile, halte ich eine oberflächliche Ablehnung wissenschaftlicher Publikationen auf Grund von verwendeten Jahreszahlen für nicht tragfähig. Die erwähnte Studie von 2003 war als Langzeitstudie angesetzt und fokussierte auf Veränderungen im schriftsprachlichen Bereich, was ja genau einer der Kritikpunkte Spitzers ist. Schreiner und Appel haben den Artikel dann auch später in der Psychologischen Rundschau veröffentlicht. Des Weiteren wurde Herrn Spitzer Gelegenheit gegeben, darauf zu reagieren (Spitzer, M. (2015). Über vermeintliche neue Erkenntnisse zu den Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik. Psychologische Rundschau.). Auch dieser Erwiderung haben sich Schreiner und Appel gestellt (Appel, M., & Schreiner, C. (2015). Leben in einer digitalen Welt: Wissenschaftliche Befundlage und problematische Fehlschlüsse. Psychologische Rundschau.). Nicola Döhring (Mitautorin des Grundlagenwerkes Bortz/Döring: Forschungsmethoden & Evaluation) befindet sich ebenfalls auf Seiten von Schreiner und Appel wenngleich etwas differenzierter, siehe Döring, N. (2014). Psychische Folgen der Internetnutzung. DER BÜRGER IM STAAT, S. 261. Problematisch ist, dass Spitzer mit vermeintlich neurowissenschaftlichen Befunden daherkommt und diese von Nicht-Neurowissenschaftler häufig auch als logische Erklärung auftretender Effekte gewertet werden (siehe bspw. Weisberg, D. S., Keil, F. C., Goodstein, J., Rawson, E., & Gray, J. R. (2008). The seductive allure of neuroscience explanations. Journal of cognitive neuroscience, 20(3), 470-477.). Das alles ist nicht neu, sollte aber m.E. wenigstens mit einbezogen werden, wenn eine grundlegende Auseinandersetzung zu diesem Thema erfolgen soll. Ansonten, weiter so 🙂
Viele Grüße
Matthias
Zur „Internetsucht“: Ich habe jetzt den kritischen Standpunkt von Fachleuten hier zusammengefasst und referiert:
https://microinformation.wordpress.com/2016/11/03/internetsucht/
Zum Thema „Internetsucht“ muss man tatsächlich gezielt suchen, um auf kritische Experteneinschätzungen zu stoßen. Das spricht nicht für, sondern eher gegen das Konzept: Komplexe theoretische Konstrukte brauchen Kritik und Selbstkritik. Wenn solche Kritik nicht leicht zugänglich ist, ist das seltsam.
Das ist natürlich falsch. Man findet wahnsinnig viele Leute und Pseudo-Experten wie Dich, die Sucht rundweg ablehnen. In der herrschenden Meinung setzt sich allmählich durch, dass das abhängige Verhalten bestimmter Netznutzer eindeutig die Kriterien für Sucht erfüllt. Und damit selbstverständlich nicht so etwas wie Lesesucht gemeint (so etwas gibt es nicht, kein Mensch ist psychisch so abhängig von Lesen, dass er alles andere vernachlässigt und sein Leben nicht mehr auf die Reihe kriegt). Der Zeitgeist kann übrigens – ein gern angeführtes Argument etwa von Kalbitzer – keine Sucht definieren. Das ist ein langwieriger Prozess, der von der Erfüllung medizinischer und wissenschaftlicher Kriterien abhängt.
Als Inhaber eines Nachhilfeinstituts mache ich mir schon seit einigen Jahren ernstlich Sorgen über den Gang der Dinge und kann gar nicht anders, als dem Spitzerschen Alarmismus weitgehend zuzustimmen. Wer dieses Thema bagatellisiert, spielt der Nachhilfeindustrie in die Hände, die einiges dazu zu sagen wüsste, damit aber natürlich hinterm Berg hält. So lässt unsere Generation in unverantwortlicher Weise diese viel zu jungen Menschen mit einem ungeheuerlich stark wirkenden Suchtmittel völlig alleine. – Spitzer kann gar nicht zu laut polemisieren und toben; ungewöhnliche Entwicklungen erfordern solch ungebührliche Auftritte!