Weltuntergangsstimmung in der Enquete-Kommission: Digitales Lernen gefährlicher als Atombomben!

Der hessische Landtag hat 2014 eine Enquete-Kommission zur Bildung eingerichtet. Jüngst tagte das auf Antrag der SPD eingerichtete Gremium zur Digitalisierung der Bildung, und dabei waren drei „Gutachten“ derart katastrophisch und weltuntergangsgeschwängert, dass es sich lohnt, mal einen Blick in den Abgrund zu werfenschauen. Matthias Burchardt und Ralf Lankau von der Gesellschaft „Bildung und Wissen“ forderten, jede Form von Digitalgeräten in Schulen komplett zu untersagen. Lankau suggerierte, dass Computer so gefährlich wie Atombomben seien, nein: gefährlicher. Der dritte von fünf Gutachtern war der bekannte Internet-Pessimist Manfred Spitzer.

Ralf Lankau beginnt sein Gutachten mit der Frage, was gefährlicher sei, die Atombombe oder der Computer. Und er beantwortet die Frage knapp:

„Welche Technik ist gefährlicher, die Atombombe oder der Computer? … Aus heutiger Sicht wird man antworten können: Es ist der Computer“. [Ralf Lankau]

Wohlgemerkt: Wir sprechen von einem Gutachten über die Wirkungen digitalen Lernens für die Enquete-Kommission „Kein Kind zurücklassen“ des hessischen Landtags, vorgetragen am 14. Oktober 2016. Hier die Passage im Original – falls jemanden Zweifel beschleichen sollten, ob ich hier einen Witz reissen will.



Lankau ist Professor an der Fachhochschule Offenburg für Medien und Informationswesen, er kam auf Einladung der CDU in den Landtag.

Die hessischen Grünen schickten Manfred Spitzer als Gutachter ins Rennen. Der Leiter der Klinik für Psychiatrie am Ulmer Universitätsklinikum ist – obwohl schwer umstritten –  natürlich ein anderes Kaliber als Lankau. Spitzers Gutachten ist voller Literaturverweise und Studien, die sich nicht einfach vom Tisch wischen lassen. Trotzdem klingt seine Antwort auf die Frage nach den Wirkungen extremer Mediennutzung bei Kindern drastisch:

Digitale Medien schadeten der geistigen und körperlichen Entwicklung, so Spitzer. Sie verursachten bei unkritischer Verwendung „Übergewicht, Schlafmangel, Sucht, Stress, hohen Blutdruck, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Depression“ 

Auch hier die Passage von Spitzer im Original:


spitzergutachtenhessen


Schließlich lud auch Die Linke einen Gutachter ein, um etwas über die Effekte des digitalen Lernens zu erfahren. Matthias Burchardt von der Uni Köln rollte eine ganz große Kugel. Er hielt digitales Lernen für unvereinbar mit dem humanistischen Bildungsbegriff. Und er empfahl:

Schulen sollten die Nutzung von digitalen Endgeräten während der gesamten Schulzeit kategorisch untersagen. (…) Soziale Netzwerke und Nachrichtendienste (Facebook, WhatsApp usf.) sind für Minderjährige nicht zu empfehlen.

Burchardt sieht eine „Umerziehung der Schülerinnen und Schüler zu einer Form des selbstgesteuerten Lernens, die der digitalen Lernumgebung angepasst sein soll.“ Digitalisierung der Bildung ist für ihn Ausdruck eines Willens zur „Umformung des elementar menschlichen Lern-Phänomens im Sinne einer Maschinengängigkeit der Schülerinnen und Schüler„. Sie sollen sich, so Burchardt „den Erfordernissen der Soft- und Hardware unterwerfen“ und „quasi-maschinenhafte Konfigurationen ihrer selbst hervorbringen.“ Das soll wohl heißen:

Digitales Lernen macht aus Schülern Cyborgs

So sehr man sich wünscht, dass die Digitalisierung endlich auch einmal kritisch betrachtet wird, so sehr scheinen Lankau, Spitzer und vor allem Burchardt über das Ziel hinauszuschießen. Der digital divide besteht inzwischen nicht nur in einer Spaltung in Nicht-Nutzer und Nutzer, sondern vor allem in einer Frontstellung von Evangelisten des Digitalen und Kassandren. Immerhin ist es erstaunlich, dass der hessische Landtag – anders als etwa der Bundestag in seiner Digital-Enquete – nicht nur Fans des Digitalen eingeladen hat.



Die Texte der beiden anderen Gutachter sind übrigens auch lesenswert. Besonders Peter Holnick vom Institut für Medienpädagogik hat eine bemerkenswerte „Kritik an Industrie und Bildungssystem“ formuliert:

Die Unterhaltungsindustrie hat die Medienbildung übernommen. Großkonzerne bieten medienpädagogische Projekte an – obwohl das die Aufgabe der Schule sei.  

Bei Holnick scheint so etwas auf wie im Beitragsbild oben, das eine Installation von Joseph Beuys zeigt: Richtkräfte einer neuen Gesellschaft.

Lankau, Spitzer und Burchardt beschreiben etwas anderes: den übelgelaunten Untergang der alten Gesellschaft.

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