Die Abiturienten laufen dem dualen Ausbildungssystem davon. Dafür scheren Zehntausende Flüchtlinge dort ein.

Hören Sie meinen Beitrag dazu in Deutschlandradio Kultur.

Seit einigen Monaten recherchiere ich, was wirklich passiert, wenn die Abiturzahlen explodieren – und gleichzeitig Zehntausende neue Schüler ins Land kommen. Man könnte das auf den Nenner bringen:

Die Flüchtlinge retten das deutsche Ausbildungssystem – jedenfalls helfen sie kurzfristig, seinen Kollaps zu verhindern. 

Die erste erstaunliche Bewegung ist die beinahe unheimliche Expansion der Abiture. Viele, auch Forscher übersehen, welche Revolution sich da zuträgt. Deutschlands Schulsystem war in der Lage, binnen zehn Jahren von rund 43 Prozent auf 60 Prozent Abituranteil am Altersjahrgang zu kommen. Das ist erstaunlich. Sie sagen, das gab’s doch 2012 schon! Ja, das stimmt – aber da waren es doppelte Abijahrgänge aus dem G8, die kurzfristig die Zahl der Abiturienten auf über 500.000 steigen ließen. Schon 2016, also vier Jahre danach, sind wir nun – nach einem kleinen Absacker auf rund 435.000 in 2014 – wieder bei 470.000 angekommen. Nur diesmal ohne Doppelabiturjahrgänge. (Das sind vorläufige, nichtamtliche Zahlen, hochgerechnet aus den Daten des Statistischen Bundesamtes für die Oberstufen von Gymnasien, Gesamtschulen und berufsbildenden Schulen.)

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Entwicklung der Abiturzahlen 2010 bis 2015; 2016 geschätzt, cif. Statistisches Bundesamt, Allgemeinbildende Schulen 2014/15, Fachserie 11, Reihe 1. S. 484 [zur besseren Erkennbarkeit montiert, cif]
Dieses Plus hat tiefgreifende Auswirkungen auf das gesamte Bildungssystem: Gymnasien, duale Ausbildungen, Universitäten, alle müssen so große Änderungen in so kurzer Zeit erstmal verarbeiten. Ein paar der Probleme habe ich in der FAS, hier und hier auf Spiegel-Online und hier im Freitag beschrieben. Vor allem für die duale Ausbildung ist das kein Zuckerschlecken.

AsylAbitur

Da kommen nun die rund 350.000 jungen Flüchtlinge wie ein historisches Geschenk. Sie sind die zweite Revolution, die vor unseren Augen abläuft. Geschichtsschreiber werden dereinst Angela Merkel für ihre Weitsicht loben. Sie hat den dringend benötigten Nachwuchs für die berufliche Bildung ins Land geholt/gelassen. Was da vor Ort passiert und was es für’s System bedeutet, habe ich gerade im Freitag beschrieben. Man wird zu den Irakern, Eritreern, Afghanen etc einst sagen:

„Ah, Sie waren das, der damals ins Land kam, um das Handwerk – den Stolz der Nation – zu retten!“

Aber wird das halten? Die Wiedervereinigung rettete 1989 das duale System vor dem Kollaps. Damals war die Zahl der neuen Azubis binnen wenigen Jahren von 723.000 (1984) auf 538.000 (1990) gesackt. (Siehe Tabelle rechts unten) Das ist ein Minus von stolzen 25 Prozent in fünf Jahren. Die Ost-Jugendlichen stabilisierten das duale System – allerdings nur für ein paar Jahre.

Inzwischen rafft im Osten der Wende-Geburtsknick im Verein mit dem Abi-Boom das duale System langsam dahin. Zum Beispiel plumpste die Zahl der Berufsschüler (plus Teilnehmer Berufsgrundschuljahr) in Sachsen-Anhalt von 76.6000 jungen Leuten (2003) auf 40.000 (2014) – fast eine Halbierung in zehn Jahren.

Wie geht es weiter? Das kann niemand vernünftig vorhersagen. Dafür laufen zu viele Prozesse parallel ab. Und nun kommt auch noch die Digitalisierung hinzu. Sie stellt alles infrage – zuvörderst die duale Ausbildung, wie sie es bisher gab. Siehe das Beispiel hier auf Pisaversteher