Muss mein Kind aufs Gymnasium? – Buchmesse Leipzig

Gespräch mit Ludger Ikas und Gästen von Leipzig liest über das Buch

Am Donnerstag werde über eine wichtige These mein neuen Buchs diskutieren.: Was ist der Zusammenhang von Aboboom, Inklusion, Integration von Kindern auf der Flucht und digitale Bildung? Es ist das Ende der Homogenität – und der Beginn individualisierten Lernens. Wir treffen uns am 21. März, 12:30 Uhr in Halle 2, Stand A601/B600. Forum Kinder-Jugend-Bildung 

12 Thesen zu  Muss mein Kind aufs Gymnasium? 

Presse: Interviews und Texte zum Buch im MDR Der Tanz ums Gymnasium Deutschlandfunk, in Deutschlandfunk Kultur, im Mannheimer Morgen, bei Spiegel Online, Heilbronner Stimme und gleich (um 12 Uhr am 2. Oktober) im Kulturradio vom RBB.

1. Das Abitur war in Deutschland noch nie so einfach (zu erringen) wie heute. Und das ist auch gut so. Dabei wird das Schulsystem aber noch komplizierter als bisher – weil die Länder eine Vielzahl von Schulformen neben das Gymnasium setzen, in denen das Abitur abgelegt werden kann.

Das Buch ist ein Wegweiser durch das Schullbayrinth: wie sieht das neue Lernen aus, woran können Eltern Schulen erkennen, die das andere Lernen anbieten, was ist ein gutes Projekt und vor allem: wie heißt welche Schulform in welchem Land?

2. Ist es schlecht, wenn so viele Abitur machen? Nein, das ist Teil eines historischen Umbruchs. Wir leben im 21. Jahrhundert, da hilft eine Schulstruktur aus dem 19. Jhd nicht mehr weiter. Wir müssen alle Talente entwickeln, die es gibt. Die neue Schulstruktur plus neuem Lernen hilft Jugendlichen bei Bildungsaufstieg und bereitet das Land auf eine neue Qualifikationsstruktur vor

3. Heute muss kein Kind mehr aufs Gymnasium, um Abitur zu machen. Wir sehen eine regelrechte Explosion der Schulformen, die einen sanften Weg zum Abitur bieten: die Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Oberschule, Integrierte Gesamtschule, Integrierte Sekundarschule usw. In der Statistik des Bundesamtes wird sie als „integrierte Gesamtschule“ gelistet. Das hat zwei Aspekte:

4. SlowAbi/sanftes Lernen: In den Slow-Abi-Schulen lernen Schüler anders: individuell und selbstbestimmt. Statt Frontalunterricht im 45-Minutenrhythmus finden sich Lernbüros und -ateliers, große Projekte, die bis zu sechs Wochen dauern, „Herausforderungen“, das sind dreiwöchige Exkursionen, bei denen Schüler allein auf sich gestellt sind. Die experimentellen Gemeinschaftsschulen organisieren Lernen nicht in Fächern, sondern nach den Freiheitsgraden der Schüler

5. Bildungsexpansion: Wir beobachten damit die Vollendung der Bildungsexpansion, die in den 1970er Jahren unter Willy Brandt stattfinden sollte (aber in einem regelrechten Gesamtschulkrieg endete). Nun boomen die Slow-Abi-Schulen. In den Jahren zwischen 2007 und 2017 sind diese Schulformen um 313 Prozent expandiert – der mit Abstand stärkste Zuwachs unter allen Schulformen. Die Gemeinschaftsschulen, Stadtteilschulen etc. zählen heute bereits über 2.000 Schulen – bei insgesamt 3.000 Gymnasien in Deutschland. Die Entwicklung im Vergleich: integrative Gesamtschulen 2058 (+ 300 Prozent); Gymnasium 3.110 (+ 1%); Hauptschulen 2.600 (-52%) Realschulen 2070 (-41%)

6. Der erste Abi-Boom: Nach der ersten Pisastudie (veröffentlicht 2001) setzte der Run auf das Abitur ein: die Eltern flohen mit ihren Kindern aus den Haupt- und Realschulen – und eine Völkerwanderung auf die Gymnasien setzte ein. Zweiter Treiber war der Wechsel der Lernzeit am Gymnasium von G9 auf G8. Zusammen lässt sich ein Zuwachs von 214.000 auf 506.000 Abiturienten zwischen 2001 und 2011 beobachten, d.h. ein Plus von 136 Prozent in zehn Jahren. Die Zahl der Abiture liegt seitdem bei 450.000 bis einer halben Million.

7. Tod der Hauptschulen: Nach der Pisastudie verlieren die Hautschulen mehr als die Hälfte ihrer Schüler – minus 66 Prozent seit 2001. (Von 1,1 Mio Schüler auf 385.000) Das Ende der Hauptschulen ist ein absehbarer und richtiger Prozess. Die Hauptschule ist eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform. Umbenennungen wie in Bayern (in Mittelschule) oder Baden-Württemberg (in Werkrealschule) helfen nicht gegen den Tod der Hauptschulen.

8. Krise der dualen Bildung: Die Veränderungen in der Bildungsbeteiligung haben allerdings dazu geführt, dass das zweite Prunkstück, die duale Ausbildung, in eine tiefe Krise gerät. Die Zahl der neu abgeschlossenen Lehrverträge plumpst auf 500.000 – die niedrigste Zahl seit 1976.

9.Tipps: Die Eltern müssen ein Gespür dafür bekommen, wie sie die neuen Slow-Abi-Schulen erkennen, wie gute Lernprojekte funktionieren, wie sie den Durchblick im deutschen Schullabyrinth behalten können und wie eine moderne Schülerberatung aussehen könnte

10. Inklusion/Digitalisierung: Das Buch hat Schwerpunkte auf den Gebieten Inklusion und Digitalisierung, bei denen jeweils die Gymnasien eine Schlüsselrolle spielen: sie versuchen sich davor zu drücken, gemeinsamen Unterricht mit Kindern mit Handikaps zu ermöglichen. Gymnasien können helfen, die bevorstehende Digitalisierung der Bildung zu zähmen. Auch hier gibt es Tipps zu „digitaler Mündigkeit“.

11. Digitalisierung ist der bestimmende Megatrend. Wir können nicht nicht an der Digitalisierug teilnehmen. Gemeinschaftsschule und Gymnasium können viel voneinander lernen: die GemSchule bezieht Schüler viel stärker mit ein und ermöglichen große Projekte – das Gymnasium ist Träger der klassischen philosophischen Hinterfragung von Themen, d.h. sie können mit ihren Schülern zusammen die Folgen der Digitalisierung zum Thema machen

12. Schulpolitik: das Buch beschreibt am Beispiel der G8/G9-Reform und dem Nichtausbau der Hochschulen, wie die Kultusminister die Bildungsexpansion fahrlässig verschlafen haben. Die Konferenz der Kultusminister befasste sich zum ersten Mal offiziell mit dem Turbogymnasium G8 erst sieben Jahre nach seiner Einführung

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Debatte mit Jürgen Böhm, Realschullehrerverband

Heute diskutiere ich mit dem Vorsitzenden des Bundesverbandes der Realschullehrer, Jürgen Böhm, über die Rolle der Realschulen in einem zweigliedrigen Schulsystem. Dazu drei Thesen:

1) Der Wandel der Schulstruktur in Deutschland ist seit Pisa dramatisch. Obwohl die Kultusminister die Schularten nach der Pisastudie zum Tabu erklärten, erodiert das dreigliedrige Schulsystem seitdem: es expandieren die Zahl der Abiturienten und die der Gemeinschaftsschulen dramatisch:  + 136 Prozent Abiturienten auf rund 500.000, plus 200 Prozent Gemeinschaftsschulen (Integ. Gesamtschulen, Stadtteilschulen, Oberschulen mit Oberstufe etc) seit 2006: von 670 auf über 2.000. Die Zahl der Hauptschulen und auch der Realschulen geht deutlich zurück – um 35 Prozent seit 2005.
2) Wir erkennen also einen deutlichen Trend zu einer zweigliedrigen Schule: Gymnasium plus eine Schulform, die auch das Abitur anbietet. Welche Rolle spielt die Realschule in einem zweigleidrigen Schulsystem? Da, wo sie mit Hauptschulen in Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen, Regelschulen etc aufgeht, geht alles schiedlich friedlich vonstatten und man kann sich auf ein neues gemeinsames Lernen konzentrieren. Da, wo die Realschule auf ihrer Existenz beharrt, kommt es zu bösen Schulkämpfen, die niemandem etwas bringen (Siehe Schleswig-Holstein, jetzt Baden-Württemberg)
3) Am Ende sollte es nicht um die Struktur der Schule gehen, sondern darum, wie man am besten lernen kann. Der Trend geht bei allen großen gesellschaftlichen Entwicklungen und Reformen (Abiturboom, Inklusion, Integration von Flüchtlingskindern) hin zu individuellem Lernen. Die dramatischste Reform aber wird die Digitalisierung: Sie wird das Lernen und die Schulen so grundlegend verändern, dass es geradezu albern ist, auf Schularten zu gucken. Denn es kommt aufs Lernen an – und auch hier heißt der Trend: Individualisierung.