Yes, we can: Wie kann man digitale Bildung in Schulen einführen – und die Lehrer mitnehmen?

Jetzt ist die Debatte über digitale Bildung also bei „Hart aber fair“ angekommen. Es verheißt nichts Gutes, wenn der bekennende Lehrervermeider Frank Plasberg den Diskurs über das Digitale in seine Krawallbude/Boxstudio holt. Und so ging es dann auch aus. Jöran Muuß-Merholz, so etwas wie der Klassensprecher der Digi-Lehrerschaft, saß meist konsterniert mit offenen Mund da (Siehe Foto), um über Manfred Spitzers fixe Alarmthesen zu staunen. Und wenn Jöran, der zweifellos der klügste und eloquenteste Digitalisierer Deutschlands, mal zu Wort kam, dann drängelte Plasberg ihn und bat um kurze Sätze.

In Göttingen wollen wir das ganz anders machen! Kein Krawall, sondern gepflegte Kontroverse unter kritischen Freunden soll bei den „Göttinger Schulmedientagen“ am 19. September stattfinden – mit Aussicht auf gelingendes Digitalisieren. 380 Lehrer*innen haben sich angemeldet, um auf Einladung des NLQ (Niedersächs. Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung) in der Uni Göttingen zu diskutieren, zu workshopen und, Neuheit!, zu barcampen. Wie das geht, dazu gleich mehr. Das Programm findet ihr hier.

Den Auftakt bildet Pisaverstehers Digitales Quartett, ein Format, das die DiskutantInnen zu selbstbewussten Teilgebern macht (und zu dem sie Verweise hier und hier finden). Mit dabei sein werden die Leuphana-Juniorprofessorin Henrike Friedrichs-Liesenkötter, die sich zuletzt mit digitaler Bildung für Geflüchtete befasst hat, der Gymnasiallehrer und Medienpädagoge Maik Riecken sowie Carl-Martin Wilken, Rektor des Studienseminars für Sonderpädagogik. Die Thesen der DiskutantInnen inklusive meiner finden Sie am Ende des Textes. So viel vorneweg: es wird spannend und kritisch, wenn etwa Wilkens zu dem neuen Mantra „Wir digitalisieren, damit Inklusion besser klappt!“ schreibt:

Inklusion braucht Pädagogik! Digitale Medien dürfen nicht zur „Ruhigstellung in zieldifferenten Lernphasen“ genutzt werden, weil wieder kein Sonderpädagoge greifbar ist.

Noch einmal zurück zu Jöran und der doofen TV-Krawallrunde. Der Verlauf des Abends ist typisch für den beleidigten Digital-Diskurs: der alarmistische Manfred Spitzer bestimmte die Debatte im Fernsehen weitgehend. Das heißt, dass er, erstens, die Hoheit über den Wohnzimmertischen hat. Und, zweitens, auf der Ebene des großen gesellschaftlichen Diskurses viel Hysterie im Spiel ist. Bei Twitter waren die Nerds belustigt bis entsetzt. Wenn man sich die Reaktionen ansieht, muss man sich ernsthaft fragen: Was war eigentlich schlimmer: „hart aber doof“ – oder die Tweets einer arroganten Netzgemeinde?

Bei Plasberg ging es ums Handyverbot. Dass dieser Gassenhauer immer noch funktioniert, ist Frankreichs Präsident Macron zu danken, der in den Schulen ein Handyverbot hat verabschieden lassen. Dass es zwei bedeutende Ausnahmen gibt, wird gern übersehen: Auch in französischen Schulen kann man selbstverständlich mit digitalen Geräten arbeiten – im Unterricht. Chapeau! Die selbe Debatte gibt es übrigens in Niedersachsen, leider ohne dass sie wirklich geführt wird.

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Niemand muss aber glauben, dass der Diskurs unter den Feinschmeckern rationaler verläuft. Jöran hatte pünktlich ein kleines Video gedreht, bei dem er die – wie er meint – wesentlichen Fragen des Mehrwerts, den die Tools digitaler Bildung vermeintlich haben müssen, und des Nur-Werkzeug-Charakters ein für allemal klären wollte.

Jöran ist ein wunderbarer Erklärer, diesmal hat ers – finde nicht nur ich – verhauen.

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Aber es geht hier nicht drum, ob Jöran etwas erklären kann. Was so zutiefst verstört ist eine schwer zu verstehende Annahme: ein Teil der Digi-Community gefällt sich darin, den Lehrern, die noch nicht den richtigen digitalen Bewusstseinsstand erreicht haben, folgende oft aufgestellten Ansprüche auszureden, im Grunde sprachpolizeilich zu verbieten:

Die Tools der digitalen Bildung sind nur Werkzeuge. 

(Ich habe das nach einer Kritik von Krommer ausgeschrieben, damit auch er es versteht. Vorher hieß es: Digitale Bildung ist nur ein Werkzeug.)

Digitale Bildung bringt einen Mehrwert fürs Lernen.

Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen. Digitale Bildung darf – jedenfalls im Spezialistentalk – keinen Mehrwert für Lehrer oder Schüler haben! Und sie muss mehr als „nur ein Werkzeug sein. Sie muss gewissermaßen stets im Bewusstsein der digitalen Weltrevolution betrieben werden. Und sie darf, bitteschön!, von der Schule1.0 nichts mehr übrig lassen.

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(Einschub und update 12.9.18, 11:00 Uhr)

Wenn ich Schulen besuche, die irgendwas in digitale Bildung machen wollen, passiert immer das gleiche. Die Lehrer fragen mich, welche Tools (Tablets, Gadgets, Apps, Plattformen…) sollen wir verwenden? Die Antwort darauf, muss man konkret geben können. Es reicht nicht zu sagen: das musst doch Du selber wissen! Oder: Du, das Lernen wird sowieso ganz anders! Wenn mir ein Medienpädagoge sagt, dass eine umstellungswillige Schule 2 Jahre auf Tablets warten soll, um erst mal herauszufinden, was sie eigentlich damit wollen, dann ist das zu wenig. Solche Zwickmühlen gibt es auch beim Geld, bei den Konzepten, bei den Fachleuten, die eine Schule braucht.

Wie kann man – ganz pragmatisch – aus dieser Zwickmühle raus. Schulen und Lehrer brauchen m.E., auf drei Ebenen Hilfe:

  1. Sie sollten eine Konzeptblaupause bekommen, die sie auf ihre je eigene Schule konkretisieren und anwenden
  2. Sie sollten einen Sack voll Geld bekommen, genauer sollte jede Schule einen Sack voll Geld anzapfen können, und zwar unkompliziert, bitteschön. Und zwar um Werkzeuge (!) einzukaufen und Mehrwert (!) zu erzielen.
  3. Die Schulen sollten auch Zugriff auf digital-kompetentes Personal bekommen. D.h. wenn eine Schule entsprechend ihres Konzepts Kompetenzen definiert hat, die ihr fehlen, so muss sie unkompliziert Medienberater und -pädagogen, Administratoren, Gamer, Programmierer anheuern können. Das muss Teil des Digitalpakts werden, sonst ist er wahrscheinlich nicht hilfreich.

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(Einschub, Ende)

Mit der Methode Joeran geht es (ausnahmsweise!) aber nicht. Wer soll das verstehen, was Joeran da in seinem Pinguin-Video sagt? Welche Lehrer*innen will man mit diesem Brainwash-Programm gewinnen? Wie soll man Eltern an einem Elternabend in der Schule erklären, dass digitale Tools auf keinen Fall was bringen sollen! Nein! Sie sind zur Transformation da, aber nicht für die Kinder!

Ich spitze das nur ein bisschen zu und verweise auf einen Text, der noch kryptischer und unpraktischer als das Video von Jöran ist. Auszug:

„Der Begriff [des Mehrwerts, cif] ist unklar, fußt auf einem unreflektierten Verständnis von Medienintegration, reduziert Medien in naiver Weise auf bloße Werkzeuge, verstärkt konservativ-bewahrpädagogische Tendenzen, verhindert oder verlangsamt Innovationen und ist insbesondere durch die etablierten Prüfungsformate fest in der Buchkultur verankert.“

Axel Krommer, der ihn auf viele Fußnoten aufgetürmt hat, gilt übrigens als einer der führenden Leute in der Digitalisierung der Bildung in Deutschland. Noch Fragen, warum da nix vorwärts geht?

Wir werden das in Göttingen besser machen: dort darf jeder alles fragen! Die Lehrer*innen können sich nach dem Mehrwert erkundigen, ohne dass ihnen jemand über den Mund fährt. Sie können Zweifel äußern, Ideen einbringen, von Erfahrungen berichten – und auf einem Barcamp ihre KollegInnen mitnehmen. Ja, mitnehmen! Nicht auslachen, ausstoßen, ausgrenzen, nicht als bedauernswerte Lehrer-Pinguine herabwürdigen, die nur eatscheln, aber nicht fliegen können. Ich finde: Jeder Lehrer soll digitales Lernen machen dürfen – und er muss dabei nicht den Kampfanzug der Industrie4.0 anziehen.

Die Thesen:

1) Maik Riecken

  1. Schreiben am Smartboard und Ausfüllen von Arbeitsblättern auf dem Tablet sind keine Formen des digitalen Unterrichts. Es ist weniger als vorher.
  2. Ohne informatische Grundbildung ist keine Medienbildung sinnvoll zu erlangen.
  3. Bildungsforschung ohne Transformationsforschung ist wertlos. Benennen ohne Umsetzung ist zu wenig.

2) Carl-Martin Wilken

· Digitale Medien sind phantastische Werkzeuge für individuelles und kollektives schulisches Lernen. Werkzeuge benötigten kompetente Nutzer*innen, die sich in einer kritisch-aktiven Auseinandersetzung mit diesen Werkzugen emanzipieren.

· Die medien-systemische Initiative zur Ausstattung von Schulen mit digitalen Tafeln, basiert auf einer frontal-kollektiven Unterrichtsgestaltung im Gleichschritt. Richtig eingesetzt ermöglichen digitale Medien das Gegenteil: Dezentralisierung und Individualisierung!

· Lehrkräfte brauchen einen sichereren Rechtsrahmen, der die rechtliche Ambiguität und die innewohnende Grenzüberschreitung des digitalen Medieneinsatzes absichert.

· Inklusion braucht Pädagogik! Digitale Medien dürfen nicht zur „Ruhigstellung in zieldifferenten Lernphasen“ genutzt werden, weil wieder kein Sonderpädagoge greifbar ist.

3) Christian Füller/Pisaversteher

Digitalisierung hat für Schule drei Dimensionen:

1. Sie überfordert die Institution Schule – und wird sie auf kurz oder lang hinwegreißen

2. Sie wird die Lehr-Lern-Kultur, die Schule bisher kennt und praktiziert, von Grund auf verändern (Schule kann mit Lernen2.0 nichts anfangen)

3. Digitalisierung erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen – und verängstigt und verschreckt sie damit nachhaltig

4. Wer erfolgreich transformieren will, muss an den Punkten 2 und 3 ansetzen: Konzeptbaukästen, Hilfe zur Mehrausstattung!

Prof. Dr. Henrike Friedrichs-Liesenkötter

Juniorprofessur für Bildungswissenschaften, insb. Bildung mit digitalen Medien,
Leuphana Universität Lüneburg

1. Digitale Bildung darf nicht nur heißen, dass Whiteboards die Tafel ablösen. Zentral ist, dass die Medienkompetenz der Schüler_innen gefördert wird. Schüler_innen müssen in die Lage versetzt werden, digitale Medien kritisch-reflexiv einzuschätzen und diese kreativ zu nutzen.

2. Jede Lehrkraft – von der Grundschule bis zur berufsbildenden Schule – benötigt zur Umsetzung von Medienbildung in der Schule medienpädagogische Kompetenzen. Hierzu sind eine Verankerung von Pflichtmodulen und zusätzlichen Vertiefungsmöglichkeiten an den Universitäten sowie groß angelegte Fortbildungsinitiativen dringend notwendig.

3. Es reicht nicht, Medienbildung als Querschnittaufgabe für den Unterricht zu benennen. Es wird ab der Grundschule ein eigenständiges Fach benötigt. Die Schulen brauchen Tablets für alle Schüler_innen und Wlan in allen Klassenräumen.