Beim Katholikentag findet eine Diskussion über Bildungsgerechtigkeit statt. An ihr nehmen teil Andrea Nahles, Anna Grebe, die Auszubildende Evelina Danyte und Pisaversteher. Hier ein paar Thesen zu der Grundsatzfrage, ob das deutsche Schulwesen Chancengleichheit verwirklicht. Do, 27. Mai, 14 Uhr.
These 0: Es geht um Chancengleichheit!
Wir sollten die Begriffe Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit am besten nicht mehr verwenden. Warum? Weil das richtige Wort Chancengleichheit heißt. Nein, das ist keine Korinthenkackerei. Wer genau hin hört, wenn jemand von Chancengerechtigkeit spricht, der wird ganz schnell merken: das gegliederte deutsche Schulwesen sei chancengerecht – weil für eine bestimmte Klientel eine niedrigere Schulform ausreiche. Dem entkommt man am besten, indem man von Chancengleichheit spricht – auch wenn sie niemals erreichbar sein wird. Aber als Maßstab ist sie so unverzichtbar wie der Anspruch auf Vollbeschäftigung, die ja auch nie erreicht wird.
These 1: Dreigliedrigkeit spaltet.
Bestimmendes Merkmal und zugleich DIE Wunde des deutschen Schulsystem ist die Gliederung in drei (mit den so genannten Förderschulen zehn) Schultypen. Die Pisa-Studien haben gezeigt, dass diese vertikale Spaltung Bildungsarmut erzeugt – und Chancengleichheit verhindert.
(In Berlin hatten 2004 rund 90 Prozent der Hauptschulen eine soziale Komposition, die mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar ist. Das sagte der deutsche Leiter der Pisastudien Prof. Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Entsprechende Vergleichswerte aus anderen Bundesländern und Schulformen sind ähnlich katastrophal.)
These 2: Zweigliedrige Schule, bei der beide Stränge zum Abitur führen (können)
Wer Chancengleichheit anstreben will, muss die Dreigliedrigkeit aufheben. Das tun alle Bundesländer seit 2002 – inoffiziell. Die Zahl der integrativen Schulen z.B. hat sich seit 2010 verdreifacht, und Hauptschulen sterben definitiv aus. Wichtig ist: eine Schule NEBEN dem Gymnasium ohne die Möglichkeit zum Abitur wird zur Restschule, egal wie sie heißt. Beispiel: die „Oberschule“ in Sachsen (Fusionierte Haupt- und Realschule) leidet trotz ihres Namens unter akutem Schüler- und Lehrerschwund.
These 3: Corona/Digitalisierung und Lehrermangel vertiefen Spaltung
Die Coronakrise und der dramatische Lehrermangel vertiefen die Spaltung des deutschen Schulsystems. In der Pandemie wurden die Schüler guter Schulen mit guten digitalen Möglichkeiten besser – die an schlechten Schulen mit benachteiligten Kindern und schlechten technischen Möglichkeiten wurden abgehängt. Den selben Effekt hat der Lehrermangel: In bestimmten Ländern und Schulformen (Grundschule, Sekundarschulen) finden bestimmte Fächer gar nicht mehr statt. Am Gymnasium würde man so etwas niemals tolerieren.
These 4: Rettet die Berufsausbildung – aber bitte nicht mit Hauptschulen!
Wer glaubt, die deutsche Berufsausbildung dadurch retten zu können, dass er Haupt- und Realschulen wieder stärkt, täuscht sich. Die Krise des dualen Systems liegt daran, dass die Bildungsarmut inzwischen so groß ist, dass nicht genug geeignete Absolvent:innen für zum Teil hochkomplexe Berufe zur Verfügung stehen. Das beste und progressivste Pisa-Papier aus Baden-Württemberg, dem Land der Weltmarktführer, empfahl bereits 2002: die dreigliedrige Schule abschaffen, dabei Haupt- und Realschulen fusionieren und über die Berufsbildenden Gymnasien mit einer Oberstufe versehen.
PS. Die deutsche Berufsausbildung ist toll – aber ganz sicher kein Exportschlager. Kein Land der Welt könnte die Duale Ausbildung einführen, ohne ein Hunderte Jahre altes Zunftwesen und das deutsche Kammersystem mitaufzubauen.
>> https://pisaversteher.com/2018/10/01/slow-abi/
Kurzfassung von: Christian Füller. „Muss mein Kind aufs Gymnasium? Bildungserfolg ohne Druck“. 2018