Nach den beiden jüngsten Schulleistungsstudien formiert sich so etwas wie Pisa-Kritik – beinahe 12 Jahre nach Erscheinen der ersten bahnbrechenden Studie der OECD nehmen die Kritiker noch einmal Anlauf. Allein, die Kritik ist meines Erachtens blind und oft schlecht informiert.
Lesen auf dem Niveau von Viertklässlern
Zur Erinnerung. Vor wenigen Tagen hatte die OECD die PIAAC-Studie veröffentlicht, die eine Art Pisa für Erwachsene ist. Dort wurden sprachliche, mathematische und auch Computerkompetenzen von Personen zwischen 16 und 65 Jahren gemessen. Das Ergebnis war das übliche des inzwischen in Deutschland legendären Schulleistungstests namens Pisa: Viele Deutsche lesen nur auf dem Niveau von Viertklässlern, und zwar ist es jeder sechste Erwachsene, der dieses Problem hat. Auch die soziale Abhängigkeit der so genannten Literacy-Leistungen war wieder stark, auf deutsch: Die Kompetenzen hängen stark vom sozialen Status der Getesteten ab. Pisaversteher hat dies in einem Kommentar für den SWR2 zusammen gefasst. Auf der Seite der OECD kann man die gut aufbereitete Studie schön anschauen.
Schon gegen diese Studie gab es wütende Proteste. Wenige Tage später, als der Bundesländervergleich der Kultusminister veröffentlicht wurde (Pisaversteher dazu im Interview mit dem Deutschlandfunk), erneut das gleiche: Pisa-Tests seien neoliberales Teufelszeug, die zur Ökonomisierung von Bildung beitrügen usw. usf. Das Problem: Die Pisakritiker um Georg Lind, Andreas Gruschka, Hans Peter Klein und Thomas Jahnke sind schon vor vielen Jahren spektakulär gescheitert. Pisaforscher wie Manfred Prenzel machten, kurz gesagt, den Scheibenwischer, als sie damals die teils wirren und unsortierten Kritiken vernahmen. Das Buch Pisa&Co, das die Kritik bündelte, fand demnach keinen Nachhall, die Öffentlichkeit bestrafte die Kritik mit Nichtbeachtung.
Der Rechner tickt nicht richtig
Ich will an dieser Stelle nicht auf die statistische Kritik eingehen, wonach es methodische Fehler gebe, es gar nicht möglich sei, z.B. japanische und deutsche 15jährige Schüler in ihren Kompetenzen zu vergleichen oder ob der zentrale Pisa-Rechner in Australien nicht richtig ticke.
Es geht mir um den zentralen Einwand, man könne Bildung nun mal nicht messen. Diese vermeintliche Pisa-Kritik will den Menschen weiß machen, die Bildung des einzelnen sei einfach nicht vermessbar, weil Bildung ein so ungeheuer komplexer Vorgang sei. Genau! So ist es! Nur, mit Pisa-Kritik hat das nichts zu tun. Denn Pisa beansprucht nicht und tat es nie, die Bildung von Menschen zu messen. Es geht darum, bestimmte Kompetenzen von Schülern zu ermitteln und sie dann zu vergleichen.
Pisa ist ein Röntgenappart
Dazu gehören fundamentale Kompetenzen wie etwa Lese- und Rechenfähigkeiten. Die Pisakritiker haben aber vor allem eines nicht verstanden: Es soll nicht die Bildung des einzelnen Menschen bewertet werden, sondern man will durch Pisa-Studien herausfinden, wie die Kompetenzen unter den 15jährigen SchülerInnen verteilt sind und in welchen Schulen welche Leistungen erbracht werden. Mit diesen Daten kann man Schulen helfen und damit auch SchülerInnen. Pisa ist also eine Art Röntgenapparat für das Bildungsgerippe – man erkennt, wo es Brüche und Stauchungen gibt. Kurz: In die BlackBox Bildungssystem wird alle drei Jahre ein Lichtlein geworfen – Pisa schafft Transparenz. (Ob und was Politik und Öffentlichkeit aus dieser Transparenz machen, ist eine ganz andere Frage.)
Bildungsschwafelprofessoren entmachtet
Ich persönlich verstehe die Wut vieler Professoren auf Pisa; diese Lehrstuhlinhaber finden seit Pisa keine Beachtung mehr in ihren klugen, oft sehr weitschweifigen und leider auch macnhmal völlig unverständlichen Theorien über Bildung. Kurz: Pisa hat die Bildungsschwafelprofessoren entmachtet. Deswegen üben sie jetzt den Aufstand – in Namen der „Bildung“. Philosophische Gedanken über Bildung wurden in Deutschland seit Schiller und Schleiermacher viele angestellt – leider wurde ganz oft vergessen zu fragen, wie sich Bildung in der Bevölkerung verteilt, wer sie bekommt und wenn nein, warum nicht. Pisa hilft an dieser Stelle. Es hat gezeigt, dass Deutschlands Schulsystem in Teilen dysfunktional ist, ungerecht und teilweise zu unmodern für das 21. Jahrhundert. Die Pisa-Kritik übersieht diesen wichtigen Aspekt, den Pisa uns verstehen hilft. Stattdessen ist sie weitgehend irrelevant, etwa weil sie Pisa nicht versteht und auch einfach (grotesk) falsche Behauptungen aufstellt. Ein Beispiel: G.L. vermerkt als ersten Punkt auf den Nachdenkseiten zur jüngsten Pisastudie:
„Rangplätze, die von der Testindustrie gern verwendet werden, weil sie in den Medienredaktionen begeistert aufgenommen werden, sind völlig sinnlose Messwerte.“ (G.L. Nachdenkseiten)
Eine Testindustrie namens KMK und IQB
Es ist bezeichnend, dass ein solcher Wirrwarr auf so genannten Nachdenkseiten als erster, also spannender Punkt genannt wird. Das wichtigste: Von welcher Testindustrie wird hier gesprochen? Der us-amerikanischen (die es lange vor Pisa gab und die in der Tat problematisch ist)? Der skandinavischen (die aus unabhängigen, nicht-profitorientierten Testagenturen besteht, die Schweden, Norwegen, Finnland etc seit vielen Jahren wertvolle Informationen über Schule liefern)? Oder der bösen deutschen „Testindustrie“ namens KMK und IQB – diversen staatlichen Lehrstühlen und Instituten also, die im Auftrag der superbürokratischen Kultusministerkonferenz das Schulmonopol gegen Private verteidigen?
Pisakritik auf dem Niveau von Erstklässlern
Das ist, pardon, Pisakritik auf dem Niveau von Erstklässlern. Man kann viel an Pisa herummäkeln: Wieso die Kultusminister aus dem exzellenten Steuerungswissen, das ihnen Pisa liefert, keine Konsquenzen gezogen haben. Wieso die Lehrerbildung immer noch so chaotisch ist. Wieso der Westen nicht aufholt, sondern immer weiter abgehängt wird. Wieso es dem Bund verboten ist, den schwachen Schülern und vor allem den hoffnungslos abgehängten Kindern in Stadtstaaten zu helfen. Das ist alles wichtig und berechtigt.
Und man muss die Pisa-Tests auch nicht in den Himmel heben. Für die Bildung des einzelnen haben sie nur wenig Bedeutung. Aber mit dem zynischen Spruch, vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter, Pisa zu bekämpfen, das ist menschenverachtend. Und macht keinen Schüler besser.
Ich vertraue PISA und ähnlichen Studien. Sie messen das, was sie messen, und die Ergebnisse sind interessant. Kann ich als Bayer auch leicht sagen… Ob die Ergebnissen sinnvoll interpretiert werden, steht auf einem anderen Blatt.
Es stimmt, PISA will und kann nicht „Bildung“ messen, sondern misst – sinnvoll – manche Fähigkeiten. Allerdings führt das in der Praxis dazu, dass die messbaren Fähigkeiten geübt, gelernt, gewünscht werden, und die nicht messbaren unter den Tisch fallen. Ich merke das an den Englischkompetenzen, von denen es eine ganze Reihe gibt. „Soziokulturelles Orientierungswissen,“ „verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz“, „praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssiutationen“, „an Gesprächen teilnehmen“, „Lernstrategien“, „Lernbewusstsein und Lernorganisation“ — ist schlecht messbar, wird nicht geprüft, wird weniger geübt. Aber das ist ein Problem vom Umgang mit PISA, nicht von PISA.