Nicht Pisa macht dumm. Die Pisakritik macht dumm

Ein Gespenst geht um in Deutschland – und es heißt Pisa-Kritik. Pisa ist ein Skandal! wird gerufen. Und: Pisa macht dumm! Wie auf einen heimlichen Startschuß hin erhebt sich 13 Jahre nach dem ersten Vergleichs-Test 15jähriger Schüler ein Chor der Lästerer. Es sind ganz schön viele, denen etwas verspätet auffällt, dass an Pisa irgendwas faul sei. Liest man hinein in Spiegel und Süddeutsche oder schaut bei den so genannten Nachdenkseiten, dann wird dreierlei deutlich:

Erstens hat keiner auch nur ein einziges Ergebnis aus der aktuellen Studie vorzuweisen; es ist die pure Pisamüdigkeit, die sich breit macht.

[Die deutschen Schüler steigen im Pisaranking auf, und zwar rasant in allen Fachgruppen. In Mathematik, Naturwissenschaften und beim Lesen liegen die deutschen Schüler erstmals deutlich über dem OECD-Schnitt. Es gibt erneut leichte Zugewinne bei den Kompetenzen. Aber die Rangfolge zwischen den Staaten ist egal. Die wirklich gute Nachricht lautet: Der enge Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft schwächt sich ab. Das hat damit zu tun, dass die jetzt insgesamt fünfte internationale Studie für die deutschen Schüler eine bemerkenswerte Entwicklung zeigt. Der Sockel der Bildungsarmen wird kleiner. „Die leistungsschwachen Schüler sind nicht nur weniger, sondern auch besser geworden“, sagte die deutsche OECD-Direktorin Barbara Ischinger.]

Zweitens fußt die Kritik auf ein paar wenigen Zeugen, deren Ruf in der bildungspolitischen Landschaft schlecht ist, genauer: die keinen haben. Das hat auch einen Grund, den jeder ganz leicht nachvollziehen kann – man versteht ihre wirre Kritik an Pisa nicht recht.

Drittens ist das stärkste Argument, das vorgetragen wird, jenes aus der Süddeutschen: „dass es internationale Pisa-Studien nunmehr seit dreizehn Jahren gibt.“ Ich muss zugeben, ich habe Thomas Steinfeld, einen sonst exzellenten Feuilletonisten, schon fundierter argumentieren hören.

Ermüdungsbruch bei Journalisten

In der Tat ist die Pisa-Kritik zuallererst auf einen Ermüdungsbruch bei Journalisten zurück zu führen. Als der Autor noch für eine wichtige Berliner Tageszeitung schrieb, hieß es einmal zum Thema: „Ach, Pisa. In der Redaktion gibt es eine gewisse Studienmüdigkeit.“ Sowas kommt von sowas.

Aber der Reihe nach. Zunächst hat das Programme for International Student Assessment (das ist: Pisa) im Jahr 2001 etwas aufgezeigt, was seitdem in Studien verschiedenster Forscher, national und auch lokal – wie es in der Wissenschaft heißt – beständig repliziert wurde, auf deutsch: Es hat mit großer Stetigkeit immer wieder belegt, was man getrost einen Skandal nennen kann.
Schule in Deutschland zeichnet sich durch dreierlei aus:

  1. Einer ausgesprochen dünnen Leistungsspitze und einer großen Bildungsarmut, also einem hohen Anteil an Risikoschülern
  2. Einem ausgesprochen großen Leistungsabstand zwischen den – vereinfacht gesagt – guten und den schlechten Schülern; und, damit verknüpft, dem größten Abstand in den Leistungen zwischen den Schulen, den es weltweit gibt
  3. Eine deutlich ausfallende soziale Abhängigkeit der erzielten Kompetenzen, sprich: Der Friseurs- oder Zuwanderersohn hat viel schlechtere Leistungen als die Arzt- oder Beamtentochter, er bleibt häufiger sitzen, kommt seltener ins Gymnasium, hat eine viel geringere Chance auf die Hochschule. Die Sozialerhebung des Studentenwerks beklagt dieses Problem seit beinahe 30 Jahren – aber erst Pisa hat diesen skandalösen Befund so skandalisiert, dass alle aufgehorcht haben.

Pisa sei Dank! Gut, dass wir das seit 2001 endlich wissen, das solide empirisch belegt. Und etwas unternehmen können könnten.

Aber das Grundproblem bleibt: Soziale Spaltung

An der sozialen Spaltung der Schule hat sich bis heute wenig geändert. Auch wenn es starke kognitive Fortschritte in den ostdeutschen Bundesländern in Mathematik und Naturwissenschaften gibt (die man gut begründen kann) und wenn die soziale Schere in Bremen ein wenig kleiner geworden ist – das Grundproblem bleibt: In einem durch und durch meritokratischen System gibt es eine Schule, die durch und durch ständische Wirkungen entfaltet.

Die Gretchenfrage lautet nun: Sollen wir, Bürger einer Republik, die Augen davor verschließen, dass unser Bildungssystem derart undemokratisch ist? Wollen wir das nicht wissen?

Acht von zehn können in innerstädtischen Schulen nicht lesen

Ist es akzeptabel, dass in Bremen vier von zehn Schülern nicht verstehen können, was sie lesen? Darf man es hinnehmen, dass in manchen innerstädtischen Schulen 80 Prozent der Schüler so gut wie Null Lesekompetenz aufweisen? Wie sollen wir damit umgehen, dass in den Bundesländern Hessen, NRW, Saarbrücken und den Stadtstaaten zwischen 60 und 90 Prozent der ehemaligen Hauptschulen von den Forschern unter der Hand als Marienthalschulen bezeichnet werden – als Schulen der Hoffnunglosigkeit?

Es ist mir ein Rätsel, wie man auf einer pseudolinken Homepage namens „Nachdenkseiten“ und in den liberalen Presse-Flaggschiffen bei Spiegel und Süddeutscher dieses Skandalon nicht nur nicht beachtet, sondern wie Thomas Steinfeld, sich darüber quasi lustig macht. Es würden nach Pisa ohnehin nur „die üblichen Probleme“ gewälzt:

Ob das deutsche, dreigliedrige Schulsystem noch immer dazu führe, dass die Herkunft eines Schülers in hohem Maße über dessen Leistung entscheide, ob mit Migrantenkindern nunmehr halbwegs angemessen umgegangen werde…

Nun gut, das ist gerade so, als wenn ein Fahrzeughalter in der Werkstatt folgenden Dialog führt:

Achsbruch – ach was, das ist schon lange so!

Mechaniker: Mensch, Du hast nen Achsbruch, dein Auto fährt gar nicht mehr geradeaus. Das musst Du reparieren lassen, dringend!

Fahrer Steinfeld: Ach, das geht jetzt schon 13 Jahre so. Übliche Probleme! Ich halte einfach händisch dagegen!

Nun ist Steinfeld Feuilletonist. Der immer wieder zitierte Hauptkritiker heißt Wolfram Meyerhöfer, und der ist Mathematik-Didaktiker. Versuchen wir in dem Interview auf den so genannten Nachdenkseiten einen Moment lang seiner Kritik zu folgen.

Pisaforscher geben gar keine Tipps!

Als allerallererstes sagt Meyerhöfer, er habe versucht, „mit Hilfe von PISA und ähnlichen Studien Wege zur Verbesserung von Schule zu finden.“ Und da gebe die Studie nichts her.

Uff. Was hat sich Meyerhöfer erwartet? Wer ist für Schulreformen zuständig? Weiß Meyerhöfer eigentlich, wie Schule gesteuert wird?

Mich hat das ratlos gemacht. Der Kritiker einer Studie fußt seine Kritik darauf, dass die Forscher gar nicht verraten, wie es besser geht. Auf deutsch: Er wirft ihnen vor, nur zu messen, aber nichts zu unternehmen. Ehrlich gesagt, finde ich die vielen Ergebnisse der Pisa-Studien auch manchmal etwas verwirrend, aber das haben eben empirische Messungen so an sich. Sie machen näherungsweise Angaben darüber, wie die kognitive Wirklichkeit an deutschen (und anderen) Schulen aussieht. Sie vergleichen zwischen 30 und inzwischen über 60 Schulsysteme weltweit. Was die Politik und Gesellschaft daraus macht, ist ihre Sache. Und muss es auch beiben! Oder will Meyerhöfer den Forschern allen Ernstes das Instrument in die Hand geben, die Schulsysteme auch noch selbst zu ändern? Natürlich will er es nicht, und ich will es auch nicht. Niemand kann das wollen, denn es wäre eine Art Diktatur der Bildungsforscher. Nur wieso ist das dann Meyerhöfers erstes Argument?

Pisa hat die Poesie zerstört…

Genau, weil er in der Sache selbst wenig beizutragen hat. Die Nachfrage des Kollegen, wieso die theoretischen und methodischen Elemente des Pisatests „brüchig“ seien, beantwortet Meyerhöfer mit einer Kaskade von Halbsätzen. Sie reichen von dem Vorwurf, das verwendete mathematische Modell könne Geistiges nicht abbilden, bis hin zu der rätselhaften Anmerkung, der Pisa-Deutschtest habe die Poesie gründlich zerstört.

Dieser Meyerhöfer ist ein Mirakel: Wer hat behauptet, Pisa wolle Geistiges abbilden? Niemand! Was hat Pisa mit Poesie zu tun? Nichts! Pisa ist der Vergleich von Kompetenzen zwischen Staaten, und zwar anhand der Kompetenzzuwächse von 15-jährigen Schülern. Das ganze geht nach dem Literacy-Ansatz, das hat mit Bildung überhaupt nichts zu tun. (Und ehrlich gesagt, was ein Glück! Bildung ist in Deutschland derart amorph und unbestimmt und heilig, wie sollte man das messen können!) Kein Pisa-Forscher hat übrigens behauptet, man messe Bildung. Es ist ein Vergleichstest, der anhand eines gegriffenen Mittelwerts von 500 Punkten fragt: Wo stehen die SchülerInnen der Nationen im Vergleich? Wie viele sind drüber? Wie viele sind drunter? Wie entwickelt sich das? Nicht mehr und nicht weniger. Ein absolut übliches Verfahren der empirischen Sozialforschung. Nirgends regt sich jemand darüber auf – außer in Deutschland und Österreich. Zwei entwickelte Staaten mit hocheffizienten Volkswirtschaften – die in den schulischen Leistungen durch eine extreme soziale Selektivität auffallen. Noch Fragen?+

Totschlagargument Neoliberalismus

Das Interview Meyerhöfers ist ellenlang und es gipfelt in einer Kritik des Neoliberalismus. Das musste ja kommen. Es ist DAS Totschlagargument. Anwendbar auf alles und jedes. Der deutschen Rechthaber liebste und hohlste Phrase. Gruselig.

Die Schule, so heißt es also, werde einer Testindustrie unterworfen. Aha, die deutsche Schule wird also von einer Testindustrie angegriffen. Na, da wünsche ich den Angreifern aber viel Mut und Ausdauer. Denn die teutschen Lehranstalten sind ein etatistisches Bollwerk, das sich, seit der Alten Fritz sich die Schule gegriffen hat, gegen jede Wieder-Öffnung zur Gesellschaft hin sperrt. Die Quasi-Monopolisten Kultusminister wehren z.B. höchst aggressiv und erfolgreich den Zuwachs von Privatschulen ab. Das hyperbürokratische deutsche Schulsystem als neoliberal zu bezeichnen – darauf muss man erstmal kommen. Das ist echt lustig.

Die Testindustrie besteht aus: einem Institut und viel Staat

Es gibt übrigens, wenn ich den Artikel im Spiegel richtig gelesen habe, vor allem ein Institut, dass die Messungen vornimmt und zwar nur den technischen Vorgang der Messungen. Die Interpretationen besorgt in der Regel das superstaatliche IQB, in dem wiederum die Kultusminister (ich glaube, die sind auch staatlich, oder?!) das Sagen haben. Oh Mann, oh Mann. Ich fordere dringend einen Pisatest für Pisakritiker. Erstes Testfach: Geschichte des deutschen Schulwesens.

Ich gebe zu, ich verstehe auch nicht alle statistischen Methoden, die Pisa anwendet. Das ist ein großes Manko, ich weiß, vor allem in der Zeit von Big-Data sollte ein Journalist eigene Korrelationen etc. mit seinem großen Zentralrechner herstellen können. Ich kann es nicht, tut mir sorry.

Aber eines kann ich aus eigener Anschauung bestätigen, und auf jeder Bildungskonferenz, bei jedem Schubesuch wird es wieder und wieder herunter gebetet: Die drei grundlegenden und wichtigsten GROSSEN Befunde von Pisa – Leistungsschwäche, Leistungsdifferenzen und soziale Abhängigkeit, alle groß! – sie sind von Pisa absolut zutreffend beschrieben. Es gibt sie. Jeder, der ab und zu in Schulen ist, kennt sie.

Und: Es wird Zeit, dass wir sie endlich angehen. Höchste Zeit.

Kurz:

Nicht Pisa ist der Skandal, sondern dass die Kultusminister in 13 Jahren auf dessen zutreffende und skandlöse Befunde keine Antwort gefunden haben.

Und:

Nicht Pisa macht dumm, sondern die lächerliche und demokratievergessene Kritik an ihr.

Siehe auch: Pisakritik für Erstklässler