Wieso eine Lehrerin aus dem Soldiner Kiez für mich die Frau des Jahres ist

Im Rückblicken fallen einem so manche Frauen oder Männer des Jahres auf. Positive wie negative Helden. Der TV-Redakteur, der sich exklusives Material erbeutet, ohne Claims zu setzen; der grüne Aufklärer, der dreimal lügt, ehe der Hahn auch nur gekräht hat; aber auch der Chefredakteur, der seinen allzu bequemen Lesern unbequeme Texte zumutet und die mutige Frau, die noch 30 Jahre später jedes Detail über den Missbrauchs-Horror in Berlin-Kreuzberg auszusprechen bereit ist, den die Alternative Liste zu verantworten hat. 

Aber das sind vergangene Geschichten, die dereinst von der Geschichte ganz allein wieder aufgestoßen werden. Da muss man nur warten. 

Die Frau, die Zukunft möglich macht

Berliner Bildungsbericht 2013, Lesekompetenzen
Berliner Bildungsbericht 2013, Lesekompetenzen

Die Zukunft ist woanders, und die Frau, die Zukunft möglich macht, habe ich Mitte des Jahres im Wedding im Soldiner Kiez kennen gelernt, einem der unwirtlichsten Orte für Kinder, die in Deutschland denkbar sind: Sechs von zehn Kindern können dort in den dritten Klassen nur so miserabel lesen, dass ihre berufliche Zukunft höchst prekär sein wird. Und genau da, im Bezirk der Unterprivilegierten, unterrichtet Ursula Huber diejenigen, die Zuflucht vor Armut und Krieg gesucht haben: Die under-underclass, die in so genannten Willkommensklassen lernt. Ich bin der jungen DaZ-Lehrerin (Deutsch als Zweitsprache) dorthin gefolgt, und ich musste bald einen zweiten Anlauf nehmen, weil mich die Verhältnisse beim ersten Mal zum Davonlaufen gebracht haben. 

Heute + Morgen = Zukunft
Heute + Morgen = Zukunft

Ich hab´ sie allein gelassen, die schmächtige starke Frau mit ihrer total überfüllten Lerngruppe, der zuvor schon eine Lehrerin (wegen Krankheit) und eine Erzieherin (wegen keine Ahnung) verloren gegangen war. Aber Uschi blieb, und sie hat Spaß bei ihrer Arbeit, auch wenn die Umstände manchmal buchstäblich zum Abhauen sind.

Zum Davonlaufen

Uschi Huber ist eine der knapp 10.000 LehrerInnen, die sich bereits jetzt um die Flüchtlingskinder kümmern, von denen bis Februar oder März schätzungsweise 250.000 bis 300.000 in den Schulen sein werden. Sie macht wie ihre Pädagogen-KollegInnen einen unfassbaren, nervenaufreibenden Job, und mit den Widrigkeiten sind nicht Nour, Samir oder Sarah gemeint, die aus dem Irak, aus Syrien, Pakisten, Serbien oder weiß der Himmel woher geflohen sind. 

Nicht treten!
Nicht treten!

Das bezieht sich auf die Kultusbürokraten auf allen Ebenen, die diese Lehrer allein lassen, ihnen nicht genug helfen, ihnen zu wenig Erzieher und Sozialarbeiter und schon gar keine Schulpsychologen zur Verfügung stellen. Ihnen vor allem die vielen Kollegen Lehrer vorenthalten, die sie bräuchten, um ihren Job adäquat zu machen. „Zeitbomben ist nicht das richtige Wort“, sagte mir dieser Tage ein Sozialarbeiter, „aber wir züchten uns da sehr problematische Fälle heran“. Wieso: Weil wir mehr tun könnten, weil wir genau wissen, was zu tun ist, um Flüchtlingen in der Schule zu helfen. Aber weil wir es nicht tun. Wir brauchen offenbar erst ein zweites Rütli, um zu kapieren, dass Integration nicht vom Himmel fällt.

„Wenn die Feuerwehr mit Sirene vorbeifährt oder die Polizei auftaucht, dann dreht meine Klasse schnell durch“ 

Uschi Huber wartet nicht darauf. Sie hat ihren Job beim BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, hingeschmissen, wo sie Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrer ausbildete, um direkt in die Schule zu gehen. Das war wohl ein Jahr bevor der große Treck aus Syrien sich auf den Marsch machte, um dem Tod durch Fassbomben oder IS-Henker zu entfliehen. Etwa ein Drittel der Kinder, die bei ihr lernen, sind traumatisiert, berichtet Huber. Das äußere sich in der Regel nicht in Aggressionen nach außen, sondern in einer stillen Art. Die Kinder, die Furchtbares erfahren haben im Land, aus dem sie kommen oder bei der Flucht, sie sind oft in sich gekehrt und stumm. „Aber wenn die Feuerwehr mit Sirene vorbeifährt, wenn die Polizei auftaucht oder sich ein Kind verletzt, dann dreht meine Klasse schnell durch“, sagt Huber. „Die Schüler haben dann große Angst und sind nachhaltig verstört. Man ahnt, dass viele von ihnen Zeugen massiver Gewalt geworden sind.“

Didaktische Finesse und starkes Führen

UschiHuberSpiel
Lernspiel

Uschi Huber ist 33 Jahre alt, eine zierliche Frau mit einer feinen Stimme, aber sie hält das ganz alles gut aus. Sie hat ein klares Konzept, eine Mixtur aus didaktischer Finesse und starkem Führen. Immer wieder, wenn die Lautstärke aufbrandet, weil sie dem Journalisten ihr 5×5-Meter kleines Lernreich erklären muss, hebt sie den Finger und dann wissen alle in ihrer Gruppe, dass Ruhe sein muss. Das klappt nicht immer. Gerade dann nicht, wenn sie statt ihrer acht Kinder in der Gruppe, die sie normal hat, plötzlich 17 vor ihr sitzen. Als Pädagogin ist Huber ein Mischwesen, halb Reformpädagogin, halb Respekt heischende Autorität. Sie lässt ihre Schüler viel alleine machen, sie sollen sich die Sprache auch selbst erobern. Sie geht von Tisch zu Tisch und hilft allen, wenn sie etwas nicht verstanden haben.

Frau Hubers Zimmer, so beengt es anmutet, ist eine gute Lernstube. Vorne stehen die Regeln auf bunten Postern so aufgemalt, dass man sie auch versteht, wenn man nicht lesen kann. Nicht schubsen, nicht treten, sich melden. In einem großen Korb stapeln sich Bilder- und Lesebücher für Anfänger. Mitten durchs Zimmer führen Wäscheleinen, an denen hübsch gebastelte Namen der Schüler und kleine Fahnen hängen. Hinten an der Wand klebt eine große Weltkarte, auf der mit Reiszwecken viele exotische Länder angepinnt sind. Afghanistan, Bosnien, Syrien, Gaza, Bangladesh und einige mehr. Die Welt lernt gerade Deutsch. Fragt man die Kinder, woher sie kommen, strahlen sie: Aus Deutschland!

Sie macht aus der Unterschichtsfabrik eine Wundertüte

Es gibt Leute, die nennen die Schulen im Wedding Scheißehaufen, andere nennen sie Unterschichtsfabriken, denn nirgendwo in der Republik haben die Kinder schlechtere Chancen als in den Ghettoschulen im Soldiner-Kiez oder dem Areal um den Gesundbrunnen. Uschi Huber nennt ihre Klasse eine Wundertüte, „man weiß nie, was alles kommt.“ Wundertüte ist keine Schönrederei, sondern es stimmt einfach. Es ist ein Wunder, wie schnell viele Schüler aus Kriegsgebieten hier lernen. Etwa Raschid aus Al Hassaka. 

Es ist ein Wunder, wenn der verhaltensgestörte Treibauf Goran still und glücklich da sitzt, weil seine Lehrerin morgens alle mit sphärischer Musik und einem Kopfmasseur begrüßt. Wenn die kleine Nour aus Syrien einen Text liest und Geschichten schreibt, als wenn sie schon Jahre hier wäre, um Deutsch zu lernen. Aber sie ist erst ein dreiviertel Jahr dabei. Wenn der Junge aus Gaza, das Geschwisterpaar aus Bangladesh und die anderen aus Pakistan, Afghanistan, Serbien und dem Irak zusammen ein Wort-Sing-Spiel machen und alle lachen – und nur der bekloppte Reporter denkt an Bomben über Aleppo, die Enthauptungen in Al Hassaka und einen Typen namens Seehofer. Oder wenn Sarah aus Damaskus nach sieben Monaten hinüber wechselt in eine Regelklasse. Sie wird ihren Weg machen.

*Raschid ist nicht in der Weddinger Schule, und er heißt auch anders. Er stammt aus einer Einsteigerklasse in einem anderen Bundesland.

Nicht wegen der Förderung durch die Kultusminister, sondern trotz. Die Frau, die ihr den Weg bereitet, aber auch den Nervösen, Verunsicherten, den Alleingelassenen und Nicht-Ertrunkenen, sie heißt Uschi Huber. Oder wie die anderen Lehrer, die den Job nach dem Klatschen am Bahnhof übernommen haben. 

P.S. Die Kultusminister haben sich im Oktober zusammen gesetzt, um über Flüchtlinge in Schulen zu sprechen. Sie haben dabei festgestellt, dass rund 325.000 neue Schüler erwartet werden und dafür 20.000 Lehrer nötig sind. Auf Nachfrage bei der Sitzung, wie viele Lehrer denn schon eingestellt seien, meldete sich Hessens neuer Kultusminister, der seinen Namen hinter einem lange Professorentitel versteckt. Um zu zeigen, wie eifrig er ist, berichtete er von einer neuen Fortbildung, die er für Deutsch als Zweitpsrache-Lehrer eingerichtet habe. In ihr haben 47 Personen Platz. 

Als die BILD-Zeitung im Dezember bei den Ländern nachhakte, kam heraus, dass 2016 rund 8.000 neue Lehrer eingestellt werden sollen