200 Jahre verpasster Schul- und Lernreform. Aber jetzt geht’s los
Daniel Tepaße hat vor ein paar Tagen ein Interview gegeben – und sich hinterher wahnsinnig geärgert. Warum eigentlich? Herr Tepaße ist ein toller, selbstbewusster Lehrer. Er fand es doof, dass die Zeitung einfach eine Überschrift und ein Bild wählte, die ihm nicht gefielen. Besonders aufgebracht hat den stellvertretenden Schulleiter des Gymnasiums Harsewinkel in NRW aber, dass die Zeitung sein Interview manipuliert habe. Manipuliert, so wütend twitterte Tepaße wirklich. Weil die Redakteure ihm eine besonders wichtige Passage herausgestrichen hätten. In dem Interview sagt Tepaße: „Wir können Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Zeitalter des Internets nicht mehr dahingehend bewerten, dass sie gut Dinge auswendig gelernt und sich der Schule angepasst haben.“ Die beiden Sätze, die er anfügte, kürzte die Zeitung weg: „Das ist keine Qualifikation, die sie noch brauchen und die zeitgemäß ist. Das sagt auch Andreas Schleicher, internationaler Koordinator der Pisa Vergleichsstudie.“
Seltsam. Wer das Interview in Gänze liest, wird feststellen: David Tepaße illustriert einerseits und bringt andererseits exzellent auf den Punkt, was Schule neu machen muss, wenn sie nicht untergehen will. Tepaße klingt kein bisschen frustriert: „Schule kann das!“ Auch wenn er weiß, dass die Zeit reif ist, überreif. „Wir können uns nicht mehr leisten, Systembewahrer zu bleiben“, sagt er. Sein Lernziel für Schüler im 21. Jahrhundert: „Asynchrones, selbständiges, persönliches Lernen, dass nicht unbedingt vor Ort im Gleichtakt in der Schule passieren muss.“ Kurz: Ein richtig gutes Interview.

Dass ein fortschrittlicher wie besonnener Mann wie David Tepaße sich dennoch so aufregt, zeigt m.E. wo die Schulen zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen: inmitten eines Wandels – und zugleich in-the-middle-of-nowhere. Wenn man sich das Tohuwabohu von Hygieneregeln, Lehrermangel und verschärfter Digitalisierung ansieht, bekommt man es mit der Angst zu tun. Keiner weiss genau, wie es jetzt weiter geht. Und Tepaße ist nicht der einzige, der hoffnungsvoll ist und dennoch Alarm schlägt. Die beiden Krisen der Schule, „Lehrermangel und Pandemie prallen knallhart aufeinander“, so drückt es die Vorsitzende des Bayerischen Lehrerinnenverbandes aus, Simone Fleischmann: „Die Karre fährt an die Wand.“
Um zu verstehen, warum im Jahr 2020 die Avantgarde des Lehrerzimmers emotional derart aufgewühlt ist, hilft ein Blick auf Herrn Zumbansen. Wir sehen dabei: das war alles schon mal da. Der Reformer 2020 ist ein Sisyphos, den es gibt, seit Schulen gegründet wurden.
Herr Zumbasen erinnert sich
Herr Zumbansen ist ein pensionierter Lehrer. Als er das Interview von David Tepaße las, erinnerte er sich spontan an seine Zeit als Lehrer in den 1970er Jahren. Zumbansen gehörte damals, wie Tepaße heute, zu den Reformern. Als solcher schrieb er einen Leserbrief an eine Zeitung, um auf CDU-Politiker zu reagieren. Zumbansen und ein paar andere Studenten der Pädagogischen Hochschule ärgerten sich im Jahr 1974, dass die CDU sich einer anderen Schule in den Weg stellte. Obwohl das inzwischen fast 50 Jahre her ist, gab es eine ganz ähnliche Situation. Zumbansen wollte Schüler nicht mehr in die vorgefertigte Schubladen des dreigliedrigen Schulsystems aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium stecken. Aber das war nicht so einfach. In den 70ern fand ein regelrechter Schulkrieg statt. Die Reformer damals wollten die Schule und das Lernen verändern. Statt der Schulschubladen forderten sie, eine Schule für alle zu errichten, die so genannte Gesamtschule. Damit die Schüler dort besser lernen konnten. Und nicht mehr am Aufstieg gehindert wurden, weil sie zum Beispiel einer Hauptschule zugewiesen wurden, wo sie weniger Chancen hatten.
In dem Leserbrief des Herrn Zumbansen von 1974 ging die Zeitreise sogar noch weiter zurück. Bis ins Jahr 1803 – das ist jetzt über 200 Jahre her. Und trotzdem gab es Argumente der selben Art wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Schüler sollten, so verordnete es damals Friedrich Wilhelm III., „weder Vorleser, noch Kanzlei-Offizianten, noch Kalkulatoren werden. Sie sollen ihren Katechismus, Bibel und Gesang lesen, ihren geringen und eingeschränkten Verhältnissen gemäß schreiben und rechnen.“ Da steht tatsächlich, ihren geringen Verhältnissen gemäß schreiben und rechnen.
So verstand man Chancen- und Bildungsgerechtigkeit damals. Die Kinder kleiner Leute in die Volksschule, die vollgestopft war mit bis zu 80 Schülern; die Sprösslinge des Adels hingegen kamen ins Gymnasium, eine Schulform, die sich das gehobene Bürgertum als Ersatz für die verhinderte politische Revolution und die verwehrte Partizipation erkämpfte: eine Schule für die gehobenen Schichten, in der der Pöbel nichts verloren hatte. Diese Schulstruktur hat viel kaputt gemacht. Etwa führen Experten die didaktische Verarmung des Gymnasiums auf die Tatsache zurück, dass Studienräte davon ausgehen, dass alle Eleven der Klasse mitkommen und sich die Lehrer daher keine Mühe geben müssen. Die Schwierigkeiten von Gymnasiallehrern, heterogene Leistungsgruppen pädagogisch zu integrieren, ist sattsam bekannt. Warum sollten sich Studienräte darum bemühen, kein Kind zurück zu lassen? Ist es doch alte Praxis, langsame Schüler auszusortieren und abzuschulen. Ein ekelhaftes unschönes Wort, das es wohl nur im Deutschen gibt.
Das alles wird wie in einem Brennglas gebündelt, wenn Herr Zumbansen bei einem Reforminterview des Jahres 2020 auf 200 Jahre verpasster Schulreform zurück blickt. Ist es ein Wunder, dass die Tepaßes dieses Landes verzweifelt und wütend sind, wenn nach dem schrecklich-wunderbaren Coronahalbjahr alles Neue und Wunderbare wieder unter Vorschriften, Lehrplänen und Prüfungen beerdigt werden soll?
Das heißt, Kindern die Chancen im Leben zu verbessern oder zu verschlechtern, indem man sie in verschiedene Schulformen steckt, ist nicht gerecht, sondern ungerecht, undemokratisch, unmenschlich
Wo sind wir heute? Es herrscht großer Aufbruch und zugleich größte Verwirrung: über die Schulbücher, über die Lehrerbildung, über die Lehrer als solche, über Abschlüsse, alles ist ins Rutschen gekommen. Eigentlich ist es schon lange rutschig – wg Pisa, wg des irren Rein-Raus beim G8, wg der verantwortungslosen Personalentwicklung der Kultusminister, die rund 15 Jahre lang zu wenig Lehrer eingestellt haben. Nun kommt die Digitalisierung und macht alles total chaotisch.
Wir sprechen zum Beispiel immer noch über Bildungsgerechtigkeit – obwohl das ein fest stehender Begriff für die gegliederte Schule ist. Denn gerecht ist es, wesentlich ungleiches ungleich zu behandeln, sprich, danach wäre es gerecht, manche Kinder in die Hauptschule zu schicken und andere in die Realschule und wieder andere ins Gymnasium. Das übersieht aber, dass alle Menschen gleich sind, auch wenn sie unterschiedlich schlau sein mögen. Das heißt, Kindern die Chancen im Leben zu verbessern oder zu verschlechtern, indem man sie in verschiedene Schulformen steckt, ist nicht gerecht, sondern ungerecht, undemokratisch, unmenschlich. Ein klarer Verstoß gegen das Menschenrecht auf Bildung. Deswegen sollten wir von Chancengleichheit sprechen. Nur dieser Begriff stellt klar, dass alle Menschen gleich sind und deswegen auf die gleiche Schule sollten – auch die Kinder mit Handicaps.
Auch Telly@5 las das Interview. Und schrieb. Ihre Hauptschüler hätten schon Recht, wenn sie sagten: „Die investieren nicht in uns, weil die wollen, dass wir die einfachen Arbeiten machen.“
Frau Holitzki verwirrt uns
Das klingt so, als verstünden Schüler im Jahr 2020 das, was Preußens König 1803 verfügte.
Und es verwirrt. Denn was sind „meine Hauptschüler in der IGS“, wie es Telly@5 ausdrückt? Also die Hauptschüler ihrer Integrierten Gesamtschule. Wirklich wahr, sprechen wir davon, dass eine „Schule für alle“ noch identifizierbare Hauptschüler kennt? 200 Jahre kämpfen die Zumbansens und die Tepasses und ihre Vorgänger darum, das Teufelszeug gegliederte Schule abzuschaffen – und wenns endlich klappt finden wir in den Köpfen mancher Lehrer*innen immer noch Hauptschüler?
Lasst uns aufhören mit der Separierung. Zuerst im Kopf, dann sofort auch in der Realität. Es wird Zeit, modernes Lernen zu fördern, das jedem einzelnen Schüler gerecht wird. Dazu brauchen wir keine Schulformen mehr. Herr Tepaße soll sich nicht mehr ärgern. Herr Zumbansen soll sich glücklich erinnern. Und Frau Holitzki muss nicht mehr von „Hauptschülern meiner IGS“ sprechen.
25/7: Frau Holitzki hat via Twitter geantwortet; ein spannender Thread.
Aber… an keiner Schulart wird so viel pro Kopf investiert wie an der Hauptschule? Und IGS kriegt mehr als Gymnasium? Das Investitionsargument in dieser Form ist jedenfalls ein ganz schlechtes.
Und: „Wir können Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Zeitalter des Internets nicht mehr dahingehend bewerten, dass sie gut Dinge auswendig gelernt … haben“ ist doch hoffentlich auch Quatsch. In meinen Fächern galt das noch nie – bei anderen kenne ich mich zu wenig aus, vermute aber auch, dass das allenfalls nur für wenige gilt.
Claudia Holitzki verwirrt gerne:
zu meiner Person: Ich habe Referendariat an einer Hauptschule in einem Brennpunktviertel in Frankfurt gemacht, habe dann als (off. Bezeichnung) Haupt- und Realschullehrerin an einer IGS angefangen vor 25 Jahren. Schwerpunkt in meinem Referendariat: Binnendifferenzierung. Später die Max-Brauer Schule, Schule im Aufbruch, Beatenbergschule usw. als Vorbild genommen und individuelles Lernen mit anderen KuK aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Storylinemethode aus Dänemark/Irland an die Schule gebracht.
Die Eltern unserer Schule haben eine Demonstration gegen die Erweiterung der Europäischen Schule auf unserem Gelände initiert und meine Schüler haben diesen Prozess aktiv begleitet. Sie hatten den Mut im Bildungsausschuss zu sprechen und im Ortsbeirat. Die Schule wartet schon seit 20 Jahren auf die Sanierung, die Außenwände sind mit Netzen verhangen, damit den SuS die Kacheln nicht auf den Kopf fallen. Die Ausstattung für digitales Lernen mäßig. Keine Präsentationstechnik in den Klassenräumen, kein W-Lan, nur 1 Overhead. Unsere Schule war die erste Schule in Hessen mit Integrationsklassen. Die Klassen werden immer größer und die Förderschulstunden immer weniger. Für eine Großstadtgesamtschule ist die Atmosphäre erstaunlich friedlich und die KuK den SuS sehr zugewandt. Ich bin gerne an dieser Schule, wegen der tollen SuS und der tollen Kolleginnen und Kollegen.
Als wir über die politischen Zusammenhänge der Erweiterung der ESF auf unserem Gelände und die seit 20 Jahren versprochene Sanierung in der Klasse sprachen, kam die Frage: „Warum nehmen die uns ständig etwas weg? Warum investieren die denn nicht in uns. Sind wir es denen nicht wert?“
Und einer meiner Schüler, der sich vom Lernhilfeschüler zum Hauptschüler entwickelt hat (und verdammt stolz auf seinen Abschluss ist) beantwortete die Frage mit:
„Die investieren nicht in uns, denke ich mir, weil die Leute brauchen, die die einfachen Arbeiten erledigen.“
Dieser Satz hat mich sehr berührt und er ist mir eingefallen als ich den Artikel von 1974 gelesen habe, der nicht anderes ausssagt.
Herzliche Grüße Claudia Holitzki
Was Hase (wir nennen uns Schnucki und Hase) daraus gemacht hat, ist jounalistische Arbeit, die macht er bestimmt sehr gut, aber die fehlende Recherchearbeit wollte ich hiermit gerne ergänzen.
Und die Dramatik dieses Satzes entwicklete sich aus einem Gespräch mit einem Fortbildner einige Tage zuvor, der mir ganz vertraulich zuraunzte: „Sie können mit den Schülern machen was Sie wollen. Das interessiert sowieso keinen. Die Geschicke dieses Landes werden von den Eliten gelenkt und die bleiben sowieso unter sich. Ihre Schüler kann sowieso keiner in Zukunft gebrauchen.“ Und als dann die Schulschließung kam, habe ich wie eine Mutterlöwin darum gekämpft, dass alle SuS am Digitalen Lernen teilhaben können, damit sie Fortschritte machen. Mein Mann und ich haben Laptops besorgt, der Nachbar hat 15 Webcams gesponsort und ich habe gefühlt Tag und Nacht mich in die Materie eingearbeitet, gemeinsam mit meinen Lerngruppen.
Danke für die kurze Geschichte der pädagogischen Idee von Claudia Holitzki. Das ist interessant und erklärt viel.
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Schnucki sagte auf Twitter: „Und das findet Schnucki übrigens auch genau richtig.“
Hase: „Wieso redest Du dann von meinen Hauptschülern in der IGS?“
Deine tolle Ergänzung zu meinem Post da oben zeigt ja, dass Du schon lange keine IGSlerin alter Schule mehr bist, sondern dieses Schweinesystem hinter Dir lassen willst. Möglicherweise bist Du jetzt verletzt, weil Du im Gespräch mit Dritten merkst: Shit, genau da wollte ich vor vielen Jahren mal abbiegen. Und jetzt holt die Realität meine Nicht-Entscheidung ein.
Ich bin vielleicht einfach müde.