Bis vor kurzem gab es gar keine bundesweite Plattform für digitale Lernmaterialien. Jetzt sind es gleich zwei – die sich in einen bizarren Streit verstrickt haben (Erweiterte Version eines Stücks aus Tagesspiegel Background Digitalisierung)

CHRISTIAN FÜLLER

Janine Bader ist eine digital affine Lehrerin. An ihrer Schule nahe Tübingen gibt es seit langem Tabletklassen, die digitale Lernplattform läuft störungsfrei. Fragt man die Lehrerin, wie sie die neuen zentralen Inhalteportale „Mundo“ und „WirLernenOnline“ findet, muss sie passen. „Noch nie gehört, was machen die?“

Die meisten Lehrer*innen kennen Mundo und WirLernenOnline (WLO) noch nicht. WLO gibt es seit März, als der Bund es als Pandemiehilfe aus dem Boden stampfen ließ. Mundo ging im September online, als die Kultusminister der Länder das Portal starteten. Mundo war schon 2019 im „DigitalpaktSchule“ von Bund und Ländern vereinbart worden. Das bedeutet: Die Länder haben wieder getrödelt. Und der Bund bezahlt beide Portale. 

Revolution der Schule

Ein zentrales Portal für digitale Lerninhalte bedeutet für die Schule eine Revolution: den Anfang vom Ende des Schulbuchs. Das Quasi-Monopol der großen Schulbuchverlage Cornelsen, Klett und Westermann wird gerade geknackt – vom Staat. Zum ersten Mal gibt es eine Stelle, die Lernvideos, digitale Arbeitsblätter, so genannte offene Lernmaterialien und so weiter katalogisiert und zugänglich macht.

Nur ist es eben nicht ein digitaler Zentralkatalog geworden, sondern es sind deren zwei. Das bedeutet Konkurrenz. Und die Giftpfeile zwischen Weimar, wo WLO zuhause ist, und dem „Medieninstitut der Länder“ in München, das Mundo betreibt, fliegen bereits. Die Leute von WirLernenOnline sagen maliziös, dass sie „schon seit März“ online seien. Der Mundo-Manager aus München, Andreas Koschinsky, verweist hingegen darauf, wer die Kulturhoheit innehat: „Wir vereinen alle Angebote der Länder, und wir sind dafür qua Unterschrift alle Kultusminister auch zuständig.“

„Deshalb ist es gut, wenn sich Angebote für das Onlinelernen ergänzen.“ Anja Karliczek

Bundesbildungsministern Anja Karliczek (CDU) schaut eher darauf, dass es auch funktioniert. „In dieser schwierigen Zeit geht es vor allem darum, dass wir auf allen Ebenen die Schulen unterstützen“, sagte Karliczek zu Tagesspiegel Background. „Deshalb ist es gut, wenn sich Angebote für das Onlinelernen ergänzen. Gerade in Zeiten von Schulschließungen oder Wechselunterricht ist das ein Weg, Unterricht zu gewährleisten – was wir alle wollen.“

Ein neuer Kaiser wird gekrönt

Mundo klappt indes schon ganz gut. Wer dort etwa zum Thema „Reichsgründung“ sucht, findet unter anderem ein Arbeitsblatt, das Teil einer reichhaltigen Webseite des Arbeitsministeriums zur Sozialgeschichte ist. Im Februar soll Mundo auf eine neue Stufe gehoben werden, berichtet Koschinsky. „Neues Aussehen, erweiterte Funktionen, offene Schnittstelle bei ‚Sodix‘ für die Länder. Jetzt geht’s richtig los.“ Das kann man sich durchaus wie die Reichsgründung in der digitalen Lernwelt vorstellen: ein neuer Kaiser wird gekrönt.

Mundo ist bislang nur das Schaufenster, wo sich die Lehrer umschauen können. Die Medieninhalte abholen müssen sie sich in einem großen digitalen Lager namens Sodix. Das ist eine Austauschplattform, deren Schnittstelle im Februar scharf gestellt wird – und alle Länderfürstentümer verknüpfen wird. Dann können die Bildungsserver, Medienzentren und Lernmanagementsysteme der Bundesländer sich an Sodix andocken. In diesem Moment wird sich die Zahl der bislang verfügbaren 35.000 Medieninhalte bei Mundo schnell vervielfachen. 

„Ich bin mir sicher, dass wir mit Mundo die Zukunft der digitalen Lerninhalte maßgeblich mitgestalten können“, sagt Koschinsky. Eine Vision wird dann Realität: Berliner Lehrer könnten ihren Schülern Lernvideos des bayerischen Lernmanagementsystems „Mebis“ zeigen, Dresdner und Düsseldorfer Lehrer sich zum Beispiel beim Bildungsserver Mecklenburg-Vorpommern bedienen. Perspektivisch soll Sodix Freie Lerninhalte und „Open Educational Resources“ (OER) sogar mittels Künstlicher Intelligenz aus dem Web fischen und aufbereiten. 

„Wir sind zuständig“

Wozu braucht es dann eigentlich noch WirLernenOnline? Darauf weiß niemand eine einfache Antwort. Der Generalsekretär der Ständigen Konferenz der 16 Kultusminister, Udo Michallik, sagte zu Tagesspiegel Background Digitalisierung: „Zur Frage der Förderpraxis des Bundes müssen sie sich an das BMBF wenden.“ Er meint damit: Wir, die Länder, sind zuständig!

Auch das Bundesbildungsministerium tut sich schwer, die Doppelförderung zu erklären. Es habe zwar einen Mehrwert, die Medienserver der Länder bei Mundo zu vernetzen. „Doch dann fehlen immer noch die aktuellen, und in ihrer Vielfalt wertvollen Angebote aus anderen Quellen und aus der Praxis, die für Open Educational Resources typisch sind“. Diese Inhalte solle WLO erschließen, „ohne auf eine Qualitätssicherung zu verzichten.“ Auf gut deutsch sieht die Arbeitsteilung in den Augen des BMBF so aus: Mundo verknüpft die Länderserver. WirLernenOnline bereitet, erstens, OER auf und stellt, zweitens, eine Redaktion, welche die Qualität der Angebote prüft. Nur: selbstverständlich hat auch Mundo eine Redaktion – und wird ebenfalls OER integrieren. 

Zunächst wird hier deutlich, wie groß die Revolution ist, die bevorsteht, wenn das Leitmedium Schulbuch durch andere Medien ergänzt wird. Das Schulbuch hängt eng an den Lehrplänen – und an der Zulassung der Materialien durch die Länder. Landesfürsten wollen eben genau wissen, welche Inhalte an ihren Schulen gelehrt werden. Einerseits schwer vorstellbar, dass sie sich die Kulturhoheit wegnehmen lassen. Ist andererseits diese Art von Vorzensur eigentlich noch zeitgemäß, wenn das Web vor Lernmaterialien nur so überquillt? 

Beteiligung der Vielen

Spricht man mit der Managerin von WirLernenOnline sieht man eine neue Zeit anbrechen. Annett Zobel von „EduSharing“ in Weimar, das WLO betreibt, denkt nicht in Zuständigkeiten. „WLO entwickelt sich durch die Beteiligung von Vielen. Die Community nimmt unabhängig von staatlichen Vorgaben Einfluss auf die Entwicklung von WLO“, sagt Zobel. „Dadurch entsteht echte Nachhaltigkeit.“ 

„WLO entwickelt sich durch die Beteiligung von Vielen. Die Community nimmt unabhängig von staatlichen Vorgaben Einfluss auf die Entwicklung von WLO“

Zugleich baut Zobel Fachredaktionen auf, die insgesamt aus 30 Redakteuren bestehen sollen. Nur, wie sollen 30 Leutchen bei WLO die Hunderttausenden Lernmaterialien, die im Netz herumschwirren, finden, prüfen, mit Metadaten versehen und verfügbar machen? Im Vergleich dazu stellen die Schulbuchverlage mit Hunderten Redakteuren eine regelrechte Armee. Dessen ist sich Zobel bewusst. „Selbst wenn wir alle IT-Expert:innen im Bildungsbereich zusammenlegen, wäre der Aufbau einer digitalen länderübergreifenden Bildungscloud immer noch eine riesige Herausforderung. Ungesunde Konkurrenzen brauchen wir daher nicht.“ 

Während die beiden Inhalteportale sich zanken, arbeitet Janine Bader meist noch mit Schulbüchern. „Die werden bei uns als digitale Variante auf die Tablets gespielt“, erzählt sie. „In Englisch finde ich das ganz gut, weil damit der Aufbau des Wortschatzes gut abgedeckt ist. Aber in Geschichte würde ich schon gern freier und aktueller arbeiten“. Bei WirLernenOnline ist sie fündig geworden. Unter dem Stichwort „Reichsgründung“ erscheinen 71 Materialien.

Vielleicht sollten Bund und Länder dort mal nachschlagen, was die Grundregel für die Einigung eines zerklüfteten Reichs ist: es kann nur einen Kaiser geben.