Wer etwas über das Netz, seine neue Kultur des digitalen Exhibitionismus und seine Naivität erfahren will, muss das Interview von Philippe Wampfler zu Sexting lesen. Philippe ist einer des besten Kenner des Netzes und seiner jugendlichen Bewohner. Es ist stets ein Vergnügen, seiner Kompetenz zu folgen – und seinen Wirrungen.

Sexting, so sagt er, werde „ausgeschlachtet und dramatisiert“. Philippe bringt dazu im Interview mit Watson-Beta einen Vergleich: Das Netz sei halt wie der Straßenverkehr – nur dass man dort nicht jeden Unfall aufbauschen und dramatisieren würde, um Autos zu verbieten.

Straße relativ sicher, Netz relativ unsicher

Der Vergleich passt – und so, wie ihn Philippe verwendet, ist er eben auch falsch. Auf der Straße nämlich gibt es ein Minimum an Sicherheit. Eltern und Schule geben ihren Kindern Verkehrserziehung, und die Polizei passt am Ende auf, dass das alles irgendwie auch auf der Straße klappt. Obendrein gibt es ein weit ausgebautes halbstaatliches Ver/sicherungswesen. Im Netz gibt es davon – so gut wie nichts. Kaum Eltern, die Ahnung haben, keine funktionierende Verkehrerziehung, schon gar keine Cybercops oder Versicherungen.

Stellen wir uns vor, in einem Wohngebiet würden Mädchen, die über die Straßen gehen, längstens nach 90 Sekunden von Pädos und Pädosexuellen angequatscht. Es wäre die Hölle los.

Süßes Gesäusel

Im Netz geschieht das, jedenfalls an speziellen Orten wie Kinder-Chats, Games, sozialen Plattformen, und jeder, der darauf hinweist, wird mit dem Gesäusel von der neuen Zeit eingelullt. Dass es endlich Versuche geben muss, mindestens für Kids bestimmte Plätze und Foren im Netz sicherer zu machen, das wird brüsk zurückgewiesen.

Wampfler sagt dazu:

„Dieser Kontrollverlust lässt sich fast nicht mehr aufhalten.“
„Ich glaube aber, es braucht auch Vertrauen in das Urteilsvermögen der Jugendlichen.“
„Sexting ist also einfach eine Art, wie Sexualität ausgelebt wird.“

Das ist alles irgendwie richtig. Nur stelle man sich bloß mal vor, so etwas würde Eltern erzählt, die fragen, „wie kann man die Straße sicherer machen?“ Das würde sicher niemand akzeptieren. Zu Recht. Denn. Philippes Antworten sind intelligent, aber sie sind auch nicht sehr themenfokussiert auf die Fragen, die Sexting wirklich aufwirft.

Das Netz sicher quatschen, statt sicherer machen

Philippe versucht dann übrigens etwas, was nicht mehr naiv ist, sondern ideologisch. Er versucht, erstens, das Netz gesund zu quatschen und, zweitens, andere verantwortlich zu machen.

Er sagt,

„Mit Sexting hatte die Sache nur deshalb etwas zu tun, weil die spätere Tat über den digitalen Austausch von Bildern stattgefunden hat.“

Diese Passage bezieht sich auf den Fall, bei dem ein junger Schweizer in Serie Mädchen dazu brachte, sich Sexting-Bildchen zu schicken – und sie dann begann, mit dem ersten nur minimal anzüglichen Bild zu erpressen: Zum Verschicken expliziter Nackt- und Sex-Fotos und damit erpresste er sie wiederum zum Sex. Er vergewaltigte ein Mädchen infolgedessen, sprich er erpresste sie zum Sex mit ihm.

Auf den ersten Blick hat diese Tat nichts mehr mit dem Netz bzw. mit Sexting zu tun. Es ist Erpressung und sexuelle Gewalt, wie sie im realen Leben auch vorkommt. Aber, der Ausgangspunkt ist die Straße des Netzes, dort wurden die Mädchen angebaggert und niemand würde behaupten, dass das jemals ganz zu verhindern wäre. Das Sexting war der Anfang – und deswegen hat genau dieses Tat sehr wohl mit dem Netz zu tun – und dem „Sex“, wie er dort praktiziert wird. Derzeit ist das Netz eben maximalst unsicher – und ich behaupte, Philippe, hilft nicht wahnsinnig, diese Unsicherheit abzubauen, er wiegt uns in falscher Sicherheit – indem er Sexting ent-dramatisiert.

2) „Man muss die Organisation aber auch verstehen: Die Arbeit, die sie macht, muss auch finanziert werden. Da ist ein Thema wie Sexting natürlich sehr dankbar.“

Das geht nun Philippe noch einen Schritt weiter. Man muss sich das vorstellen. Die Organisation Pro Juventute versucht aufzuklären – und wird nun beschuldigt, die Situation zu dramatisieren. Kurz: Nicht das unsichere Netz, der digitale Exhibitionismus dort und die Schönrederei sind die Ursachen, sondern die Mahner sind die Schuldigen. Au weia.

Das Netz ist am Ende eben ganz anders als die Straße. Es hat andere Phänomene, es benötigt andere Kulturen, Umgangsformen und ein vielleicht anderes Verhältnis von Selbstermächtigung und extern organisiertem Schutz. Keiner von uns kann das heute bereits genau bestimmen. Man kann es, wie Julia Weiler es tut, digitalen Exhibitionusmus nennen. Sprich: das Netz provoziert uns durch seine Aufmerksamkeitsökonomie, seinen Zwang zur Selbstdarstellung dazu uns auszuziehen – im ganz generellen Sinne, seelisch, intellektuell, körperlich. Das ist interessant und eine große Herausforderung, eine großartige Chance, aber noch nicht sehr bestimmt. Aber sicher ist eins: Das Netz ist unsicher. D.h. wir brauchen mehr Schutz, denn es sind dieselben Kinder, die hochaufgeklärt und gezielt geschützt über Ampeln gehen. Aber im Netz quasi schutzlos sind.