Er war Schulleiter und Oberschulrat. Jetzt spricht Siegfried Arnz über die Rettung einer Schule in kritischer Lage – und das Startchancenprogramm, das Jahrzehnte später an 4.000 Schulen schaffen soll, was Arnz und seinem Kollegium gelang: Schule auf Schüler auszurichten.

Pisaversteher: Herr Arnz, ein Drittel der 15jährigen in Deutschland erreicht in Mathe nicht mal den Mindeststandard. In bestimmten Schulformen und Regionen fallen sogar acht von zehn Schülern durchs Raster. Haben wir seit dem 4. Dezember 2001, der Ergebnisverkündung der Pisa-Studie No. 1, eigentlich gar nichts gelernt?

Siegfried Arnz: Wir haben ganz viel gelernt. Aber wir haben davon viel zu wenig umgesetzt.

Warum?

Die Kinder und die Schulen, um die es hier geht, haben keine Lobby. Nirgendwo. Die handelnden Personen haben wohlbehütete Kinder. Die erleben nicht live, was es heißt, in einer Schule zu sein, wo lauter Kinder aus armen Verhältnissen lernen.

Aber die Praktiker wissen doch, dass sich in vielen Hauptschulen und einem Teil der Real- und Gesamtschulen Schülergruppen konzentrieren, die de facto verloren gegeben werden. Warum schreien Sie das nicht heraus?

Die Kinder und die Schulen, um die es hier geht, haben keine Lobby.

Siegfried Arnz

Wir schreien ja. Aber die Öffentlichkeit guckt nicht hin. Immer nur sehr kurz, wenn es ein Spektakel wie an der Rütli-Schule gibt. Danach geht’s wieder um die Gymnasien.

Wenn Sie der „chief advisor education“ mit Rederecht in allen Kabinetten wären, welche drei Punkte würden Sie bei Olaf Scholz und den MinisterpräsidentInnen stark machen?

Erstens, dass sie endlich in die Krisenschulen gehen und hinschauen! Zweitens, dass sie sich klar machen, dass Politik über diese Kids viel zu wenig weiß – und über das, was die zum Lernen brauchen. Und, drittens, dass sich Regierungen nicht einbilden sollten, über Vorgaben von oben erreichen zu können, dass die Schulen das machen, was richtig und sinnvoll ist.

Okay, also Schulen sind nicht einfach von oben steuerbar. Was wäre denn in Ihren Augen richtig und sinnvoll?

Das heißt zum Beispiel, von der Stundentafel abweichen zu können. Es bedeutet, einen völlig anderen Tagesrhythmus gestalten zu können. Mit den Kindern ganz andere Dinge zu machen als Unterricht. Ich wollte als Schulleiter mal das 40-Minuten-Modell einführen…

… das bedeutet, fünf Minuten weniger Unterricht pro Stunde…

… um in diesen fünf Minuten was anderes für die Schüler zu machen.

Wie viel Zeitgewinn kommt dabei pro Lehrkraft raus?

Es waren knapp drei Stunden pro Lehrkraft, die wir gewannen.

Fünf Minuten weniger Unterricht reichen für den Systemwechsel

Und diese fünf Minuten weniger pro Schulstunde reichen für einen Systemwechsel?

Ja, wenn man Lehrkräften die Möglichkeit gibt, diese Zeithäppchen anzusammeln und selbst zu verwalten. Aus den gewonnenen Zeiten kann man dann nicht nur Förderunterricht machen, sondern alle Arten von Unterstützung. Alle möglichen Dinge, die die Kids brauchen – und die nichts mit Unterricht zu haben. Das musste ich aber regelrecht durchsetzen. Gegen die Schulaufsicht. Und zwar mit Power. Weil es zunächst nicht genehmigungsfähig war.

Warum können Schulleiter nicht einfach das machen, was gut für ihre Schüler ist?

Weil die Rahmenvorgaben so eng sind. Als wir zum Beispiel 2011 die Berliner Strukturreform entworfen haben, waren fünf Stunden auf der Stundentafel als Pool vorgesehen. Das heißt, fünf Stunden konnten die Schulen so einsetzen, wie es ihre Kids brauchen. Die sind alle nach und nach wieder einzelnen Unterrichtsfächern zugeordnet worden.

Warum sind Poolstunden ohne Unterricht so wichtig?

Weil eine feste Stundentafel und vor allem Doppelstunden für ganz viele Kinder überhaupt nicht passen. Das ist zu eng und zu viel für die. Da hilft es auch nicht zu fordern, was gerade häufig geschieht, dass alle SchülerInnen mehr Deutsch machen sollen.

In meinen Augen klingt „mehr Deutsch“ richtig und sinnvoll.

Es gibt sicher Kinder, die brauchen erst mal überwiegend Deutsch und eben keine normale Stundentafel. Andere Kids brauchen zum Beispiel Praxis – und keinen normalen Unterricht. Weil man sie durch 45-minütige Frontbeladungen nicht motivieren kann. Aber solche Abweichungen erfordern Genehmigungen. Die zu bekommen ist mühsam. Da muss man sich auseinandersetzen – mit der Sache und mit Vorgesetzten. Vielen Schulleitungen ist das zu lästig.

Kein Sitzenbleiben: gute Gäste im nächsten Jahrgang

Haben Sie sich als Schulleiter die Genehmigung immer geholt? Oder bestimmte Freiheiten einfach genommen?

Beides. Ich habe um die Genehmigungen gekämpft. Aber ich habe mit dem LehrerInnen-Team Dinge einfach gemacht, wenn sie bedeutsam, aber ohnehin nicht genehmigungsfähig waren. Zum Beispiel, keine SchülerInnen mehr sitzenbleiben zu lassen.

Eine feste Stundentafel und Doppelstunden passen für ganz viele Kinder überhaupt nicht. Das ist zu eng und zu viel für die.

Siegfried Arnz

Sie haben das Sitzenbleiben abgeschafft?

Ich würde sagen, wir haben das Vorrücken auf Bewährung eingeführt. Dazu haben wir einen Trick angewandt. Wir haben die Schülerinnen und Schüler, die nicht versetzt werden konnten, einfach zu guten Gästen der nächsten Jahrgangsstufe gemacht. Und wenn bei denen z.B. in der neunten Klasse der Knoten geplatzt ist, dann haben wir gesagt: Jetzt können sie den Standard der zehnten Klasse erreichen. Jetzt packen die auch den mittleren Schulabschluss. Und das haben viele dann auch tatsächlich geschafft. Mit der Folge, dass wir kaum SchülerInnen verloren haben. Nur – diese Praxis hätte gar niemand genehmigen können.

Weil Sitzenbleiben ein deutscher Fetisch ist. Was passiert eigentlich bei einem Schüler, wenn er nicht sitzen bleibt? Was macht da den Kick aus?

Der Kick kommt sicher nicht durch’s Sitzenbleiben. Weil das ja sowieso in ihm drin steckt: keinen Bock zu haben. Das Sitzenbleiben verstärkt das. Denn dann ist er für jeden sichtbar ein Loser. Einer, der als 15-jähriger immer noch in der siebten Klasse sitzt. Bei manchen spitzt sich das zu. Die gehen dann gar nicht mehr in die Schule.

Trotzdem die Nachfrage: Könnte es sein, dass man auch durch den Verzicht auf Sitzenbleiben Null-Bock-Schüler produziert?

Erstmal ist diese Gefahr immer da. Wir reden hier von Pubertierenden, die sich für alles mögliche interessieren, aber nicht für Schule. In meinen Augen ist vor allen Dingen der Unterricht das Problem. Die Gefahr, Schülerinnen und Schüler zu verlieren, ist vor allem deswegen groß, wenn der Unterricht weiter so schlecht bleibt, wie er oft ist. Wenn sich aber neben dem Unterricht ingesamt etwas ändert und wenn die Schüler Teil dieser Änderung sind, dann ist viel zu gewinnen.

Klassischen Unterricht hinterfragen

Was gehört zu diesen mitbestimmten Änderungen im Schulablauf alles dazu?

Den klassischen Unterricht hinterfragen und stattdessen die Schüler radikal ernst zu nehmen. Dann schrumpft die öde Zeit des Unterrichts. Gleichzeitig öffnen sich Freiräume für Selbstbestimmung, in Schülerfirmen, Schulstationen und Arbeitsgemeinschaften. Insgesamt stellt das nicht weniger als einen Kulturwandel dar – ausgelöst durch eine Neuinterpretation von fünf Minuten Unterrichtszeit. So kann man auch Schüler neu motivieren, die sich aufgegeben haben. Das sagen die übrigens selber – wenn man sie 30 Jahre später auf der Straße trifft.

Was sagen die?

Wenn ich nicht an dieser Schule gewesen wäre, dann wäre ich unter die Räder gekommen.

Ist das nicht ein bisschen pathetisch?

Nein, wir hatten einen wunderbaren Kollegen, Reiner Haag, inzwischen leider tot. Der war der Held der Schülerpartizipation. Reiner hat immer gesagt: wir müssen die Böcke zu Gärtnern machen.

Also jene Schüler, die der Frontalunterricht zu Null-Bock-Attitüden provoziert?

Es geht um ihre Kräfte, sie entdecken ihre eigenen Kräfte.

Wie läuft das konkret ab?

Es hängt davon ab, wie man die Überregulierung und Fremdbestimmung des Unterrichts durch Freiräume ersetzt, in denen es so etwas wie Haltegriffe gibt.

„Ich bin etwas wert“

Was meinen Sie damit?

Dass es nicht um völlige Freiheit wie in Summerhill geht. Damit können viele der Schüler in benachteiligten Schulen nichts anfangen. Es braucht Freiheit – und Orientierungspunkte. Also zum Beispiel die Schülerfirma. Uns ist es damals gelungen, Schüler anzuspornen, weil sie in der Schülerfirma Erfahrungen gemacht haben, die sie vorher oft nicht kannten: ‚Ich weiß, was zu tun ist, ich bin etwas wert, ich bin wer.‘ Weil jene Schüler Verantwortung für ganz konkrete Dinge übernehmen. Oder weil sie zum Beispiel an der Kasse ihrer Schülerfirma die Erfahrung gemacht haben: Rechnen ist doch nicht so sinnlos, wie ich dachte.

Schüler kapieren über den Umweg der Schülerfirma, dass Mathe sinnvoll sein kann?

Ja, aber das ist nur ein Teil des Kicks. Hinzu kommt ein psychologisches Moment. Es geht einerseits um Mathe, andererseits um das Gefühl, beteiligt zu sein, dabei zu sein und sich dann auch nicht mehr auszuklinken. Selbst wenn etwas gemacht wird, was ich eigentlich doof finde, bleibe ich trotzdem dabei – sofern der Rahmen und das Klima stimmt. Wenn man mich also ernst nimmt.

Partizipation als Grundprinzip der Gestaltung von Schule ist übrigens überhaupt nicht einfach, sondern viel anstrengender, als 45 Minuten Dienst nach Vorschrift zu unterrichten.

Wenn es so einfach ist, Schüler durch Partizipation zurückzugewinnen, warum gibt es so viele, die sagen: die müssen gehorchen? Woher kommt der Widerspruch?

Das ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Ich galt für unsere Schüler zum Beispiel als strenger Schulleiter, obwohl ich ihnen gegenüber respektvoll, freundlich und zugewandt war. Weil ich das Prinzip Beteiligung von Schülern hochhalte. Partizipation als Grundprinzip der Gestaltung von Schule ist übrigens überhaupt nicht einfach, sondern viel anstrengender, als 45 Minuten Dienst nach Vorschrift zu unterrichten.

Warum?

Dazu gehört, dass SchülerInnen im gesamten Schulleben mitentscheiden. Es bedeutet, sie immer ernstzunehmen. In allen Abläufen des Schulalltags: bei der Frage, wo wird eine Raucherecke gebaut oder wird überhaupt eine gebaut; bei der Frage, wie werden die Klos gestaltet und warum sind sie so versaut? Wie können wir das ändern? Bis hin zum Ablauf des Unterrichts. Es heißt Schülern jederzeit zu vermitteln: Wir wollen euch hören! Was wollt ihr?

Machen die Lehrer denn mit, wenn das neue Lernkonzept (noch) anstrengender ist?

Wir gewinnen mit diesem Konzept auch Lehrkräfte auf eine andere Art. Weil wir ihnen helfen und sie wahrnehmen.

Drei Viertel der Lehrer können das nicht

Was meinen Sie damit?

Partizipation auf der Lehrerebene heißt für mich, erst mal ernst zu nehmen, dass nicht jede Lehrkraft dasselbe kann. Zum Beispiel kann nicht jede Lehrerin oder Lehrer in derselben Weise Unterricht machen. Wir haben geniale Pädagogen. Die kriegen sogar in den schwierigsten Klassen Frontalunterricht hin und begeistern die Kids. Aber drei Viertel der Lehrkräfte können das nicht. Die gehen unter dieser Kraftanstrengung kaputt.

Und wie heilt und gewinnt man diesen – offenbar gar nicht so seltenen – Typus von Lehrern?

Es bedeutet, mit den Lehrkräften zu überlegen: Wo und wie kommst du an deine SchülerInnen ran? Schülerfirma war da ein Beispiel. Aber es gibt auch ganz andere. Theaterarbeit oder was auch immer. Da sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Im Mittelpunkt steht stets die Frage: Was sind deine Stärken als Lehrer oder Lehrerin? Wie kannst du mit den SchülerInnen so arbeiten, dass du sie gewinnst? Das ist für mich eine Frage von Partizipation – und eines anderen Führungsdenkens.

Was ändert sich in dem Szenario „Alles, bloß kein Unterricht“?

Die Lehrer spulen nicht mehr fremdbestimmten Unterricht ab, sie lernen zu begreifen, dass Lehren und Lernen zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Sie nehmen sich in eigenen AGs, Schülerfirmen usw. etwas vor: Wir wollen mit unseren Schülern besser umgehen. Wir wollen sie erreichen, wir wollen sie anders gewinnen. Ein praktisches Beispiel: Wir haben damals aus den angesammelten fünf Minuten pro Stunde auch Personal für eine Schulstation gewonnen. Schulstationen sind der Ort, wo jene SchülerInnen aufgefangen werden, die im Unterricht durchknallen.

Also da, wo Schüler und Schülerinnen hingehen, wenn sie den Unterricht verlassen, weil sie nicht mehr können?

Oder weil der Lehrer sagt: Pass mal auf, Fritz, das geht so nicht, kühl mal runter. Die gehen dann in die Schulstation.

Was hat man mit diesen Schülern früher gemacht?

Man hat sie vor dem Klassenzimmer auf den Flur gestellt. Das war alte Schule – und zugleich das Kennzeichen schwieriger Schulen. Du gehst durch die Gänge und überall steht ein Schüler vor der Tür, der rausgeflogen ist. Das gibt’s auch heute noch.

Unvorstellbare Dinge in der Schulstation

Eine Schulstation ist ja keine Mondstation. Was haben Sie gemacht, damit dieses Szenario so viel bringen konnte?

Wir haben für die Schulstation, erstens, einen sehr schönen Raum ausgesucht und ihn mit den Lehrkräften und Schülern selbst gestaltet. Also mit Renovieren am Wochenende. Zweitens, konnten die Lehrkräfte selber entscheiden, was sie mit den gewonnenen Arbeitszeiten anfangen…

… von den gesammelten 5-Minuten-Häppchen.

Genau, unser Prinzip lautete, die Lehrkräfte machen damit, was sie am besten können – für sich und für ihre SchülerInnen. Also Arbeitsgemeinschaften nachmittags, eine Theaterarbeit oder doppelt gesteckt in die Schülerfirma reingehen. Dabei zeigte sich, dass in die Schulstation jene Lehrkräfte gingen, die einen besonderen Anspruch hatten. Oder eine bestimmte Zusatzkompetenz, eine psychologische Weiterbildung zum Beispiel. Das heißt, das waren Topleute.

War das so wichtig?

In meinen Augen, ja. Denn in diesen Schulstationen sind Dinge passiert, die eigentlich kaum vorstellbar scheinen. Wir haben das Komm-runter-Konzept zum Beispiel ganz offen mit den Schülerinnen und Schülern besprochen. Das heißt, die chaotischen SchülerInnen haben mit uns zusammen überlegt, was hilft uns, wenn wir chaotisch sind?‘ Man konnte darüber mit den verrücktesten Schülern reden. So etwas wäre in einer normalen Unterrichtsfabrik, was Schulen leider häufig sind, undenkbar.

Ich finde, das hört sich ein bisschen zu märchenhaft an. Gerade noch Krisenschule mit Null-Bock-Kindern und überforderten Lehrern – und plötzlich eine Schokofabrik, in der alle Spaß haben. Ein Wunder!

Nein, einfach das schüleradäquate Aufbrechen eines verknöcherten und autoritären Konzepts von Unterricht. Es hat vielen Schülerinnen und Schülern geholfen. Und uns Lehrkräften und der Schule. Das Ziel war, nach einer möglichst kurzen Zeit wieder fähig zu sein, im Unterricht mitzumachen. Manchmal reichte dafür, dass die Kinder und Jugendlichen da einfach eine halbe Stunde saßen. Und dabei runterkamen. Wir hatten aber auch SchülerInnen, von denen wussten wir, die sind im Unterricht immer nach einer Viertelstunde überfordert. ADHS-Schüler zum Beispiel. Und es gab auch Lernende, die in der Schulstation ihre Arbeiten geschrieben haben. Das ist insgesamt ein völlig neues Prinzip: ein anderes Herangehen an Schüler – und an Schulen.

Umso so etwas hinzubekommen, muss man Schulaufsicht neu denken!

Die Unterstützung von Schulen muss absolut im Vordergrund stehen, und zwar nicht nur als leere Worthülse. Das unterstützende Begleiten hat einen klaren Fokus: die Selbstständigkeit, die Eigenverantwortung und die Freiheit der Schule zu stärken. Die Schulaufsicht soll Schule darin unterstützen, sich etwas zu trauen und sie nicht etwa mit Vorschriften einzugrenzen. Das bedeutet, die Schule auch darin zu beraten: Was kann dieser Schulleiter und was kann jener nicht, und das in das Zentrum zu setzen. Und das alles findet immer unter dem obersten Ziel statt: Was brauchen die Schüler bei Euch in der Schule? Warum lernen die nicht?

Regelmäßig die Daten zur Lernentwicklung erfassen

Das hört sich so an, als sollte die Schulaufsicht so mit Schulen umgehen wie gute Lehrer mit Schülern? Also nicht zu sagen, hallo Schulleiter, du führst dies und das aus, sondern zu fragen: wie kann ich dir helfen?

Genau das. Und da gibt es das schöne Wort ermöglichen, also zu helfen, dass es gelingen kann. Als Schulaufsicht muss man erstmal bereit sein, diese Frage auch zu stellen. Das ist für mich die Leitfrage von Schule: zu akzeptieren, dass Schulen vor Ort ganz viel über ihre Schüler wissen. Und wenn sie es nicht wissen, dann ist die Aufgabe einer guten Schulaufsicht, das auch zum Thema zu machen. Warum wisst ihr so wenig? Dazu gehören dann auch Daten.

Welche Daten meinen Sie?

Wir müssen die Basiskompetenzen im Blick haben: Lesen, schreiben, rechnen. Es geht um das regelmäßige Erfassen und Nutzen von Daten zur Lern- und Leistungsentwicklung jedes einzelnen Kindes. Hamburg hat damit große Effekte erzielt.

Zurück zur Schulaufsicht. Leitbild ist nicht mehr der durchgreifende Schulrat, sondern der sanfte Schulversteher?

Ja und Nein. Die Schulaufsicht behält immer auch eine intervenierende Aufgabe. Wenn sie nämlich sieht, dass in ihrem Bereich Schulen sind, die es nicht gebacken kriegen; wenn sie erkennt, da ist ein Schulleiter, der das einfach nicht kann, dann muss man den auch ablösen und anders einsetzen. Und zwar unabhängig vom Beamtenrecht. Was auch geht. Ich habe es selber gemacht als Verantwortlicher.

Sie haben Schulleiter abgesetzt?

Ja, dreimal.

Verzeihen Sie, dass ich nachhake: heißt das, wir haben Schulleiter, die offensichtlich ihre Schulen gar nicht leiten können?

Ja, sicher.

Ist das nicht katastrophal?

Natürlich ist das eine Katastrophe. Es gibt seit Jahren eine Fortbildung, die inzwischen Voraussetzung ist, um Schulleiter zu werden. Trotzdem bringt auch sie keine Garantie, dass daraus wirklich klasse Schulleiter entstehen. Wir haben viele gute Ansätze. Aber es gelingt nicht, flächendeckend dafür sorgen, dass Schulleiter Schulen auch tatsächlich leiten können.

Mir sagt ein Forscher, dass ausgerechnet in den kritischen Schulen Schulleiter oft überfordert sind, mit einem eigenen Budget umzugehen.

Es gibt tatsächlich viele SchulleiterInnen, die nicht so richtig wissen, was sie jetzt mit dem Geld machen sollen und zwar so, dass es bei den Kids ankommt. Das heißt, es fehlt schon dieser Prozess, der in meinen Augen die Voraussetzung in den Schulen dafür ist, dass Erfolg für die SchülerInnen erzielt wird. Der passiert nicht.

Warum nicht?

Wir haben das in Berlin im so genannten Bonusprogramm erlebt. Die SchulleiterInnen kriegten plötzlich Geld, und dafür mussten sie Zielvereinbarung abschließen. D.h., sie mussten aufschreiben, was sie mit dem Geld tun sollen. Und das wurde hinterher abgehakt. Aber Geldflüsse und Schulerfolg sind kein Termingeschäft, das immer sofort klappt.

Im neuen Startchancenprogramm wird auch sehr viel vorgegeben. Zwei Drittel des Schulleiterbudgets sind von Anfang an festgelegt.

In den Chancen-Budgets, wie sie offiziell heißen, sind nicht zwei Drittel verbindlich vorgeschrieben. Es wird ein Katalog von Maßnahmen aufgezählt, der den Schulleitern Anregungen für die Verwendung ihres Budgets geben soll. Daraus können sie als SchulleiterIn wählen.

Weil so Dinge auf den Bildschirm geraten, die der Schulleiter vorher vielleicht nicht kannte?

Ich kann mir vorstellen, dass dieser Katalog hilfreich ist und die Eigenverantwortung des Schulleiters tatsächlich nicht einschränkt. Ich plädiere aber dafür, dass man nicht zwingend zwei Drittel des Geldes da einsetzen muss.

Nur, was passiert denn in so einer Schule in kritischer Lage, wenn der Schulleiter es nicht kann?

Wir wissen heute sehr genau, was funktioniert und was nicht. Wenn ich so einem failing headmaster nicht einen kompetenten Begleiter zur Schulentwicklung an die Hand gebe, dann wird der überfordert sein. Und jetzt sind wir wieder bei der Schulaufsicht.

Was wäre also eine neue Qualität von Schulaufsicht?

Ich würde Schulaufsicht eher in der Rolle der Teamcoaches sehen. Diese Coaches sollten zum Beispiel ein Netz aus fünf bis sieben Schulen begleiten, moderieren und unterstützen unter dem Leitmotiv: Was können wir für unsere Kids gemeinsam erreichen? Hier, in unserem Sprengel, in unserem Sozialraum. Was klappt bei euch? Was klappt bei uns?

Verbund von Schulen. Entlastung durch Kooperation

Aber sind nicht Lehrkräfte und Schulen jetzt schon zu sehr überlastet, um sich auch noch mit anderen Problemschulen auszutauschen?

Solche Netzwerke gibt es schon, und dort ist in Wahrheit eine doppelte Entlastung zu spüren. Netzwerke erleichtern, erstens, die Arbeit der Schulaufsicht. Weil die ihre Arbeit nicht mehr an der Zahl von Zielvereinbarungen mit Einzelschulen misst. Die wirken sowieso kaum, denn Papier ist geduldig.

Und wo ist der zweite Teil der Entlastung?

Den erzeugt der Schulverbund für sich selbst: von einander lernen, was gut gelingt. Wenn in einem Verbund beispielsweise Grundschulen, integrierte Sekundarschulen und Gymnasien zusammen sind, dann begegnen, die sich nicht mehr als gegenseitige Ankläger.

Sondern?

Dort wird auf einmal über die Frage des Übergangs nicht mehr vorwurfsvoll diskutiert: was liefert ihr Grundschulen uns eigentlich für schlecht vorbereitete Kinder! Sondern da entsteht ein Verständnis und ein anderer Drive.

Blöde Frage: braucht man Schulaufsicht dann überhaupt noch, wenn Schulen gegenseitig voneinander lernen?

Ja, denn das geht alles nicht automatisch. Die Schulaufsicht hat eine entscheidende Rolle: Sie ist der Motor für einen solchen Verbund, in dem sie übrigens auch selbst an Wirksamkeit gewinnt. Weil sie mit Ideen und Impulsen nicht nur eine Schule, sondern eine ganze Gruppe erreicht – und selber dabei lernt.

Die Berliner Reform zu einer zweigliedrigen Schule mit zwei Wegen zum Abitur gilt als vorbildlich. Wo hat sie eigentlich nicht funktioniert?

Ein konstitutiver Bestandteil der Reform war das Konzept dualen Lernens. Und das haben wir überhaupt nicht konsequent umgesetzt.

Für mich bedeutete Berliner Schulreform immer, auf zweigliedrige Schule umzustellen und den Unterricht zu verändern. Und Sie kommen jetzt mit dem dualen Lernen. Was ist duales Lernen?

Lernanreize in der Praxis quasi anzutriggern – und sie dann mit theoretischem, allgemeinbildendem Lernen verbinden.

Aber dafür kennen wir von Kerschensteiner und Fröbel bis hin zum praktischen Lernen schon 1000 Beispiele. Warum muss man das immer wieder neu beweisen?

Das Konzept geht natürlich auf. Wir haben gesagt, duales Lernen muss ein konstitutiver Bestandteil der gesamten Unterrichtspraxis in den integrierten Sekundarschulen sein. Das ist etwas anderes, als Schüler einmal im Jahr in ein Praktikum zu schicken. Und das ist auch was anderes als diejenigen, mit denen man gar nicht mehr klarkommt, an irgendeinen Träger outzusourcen. Für mich lautet die Schlüsselfrage: ob und wie die benachteiligten Kids davon profitieren? Ob es gelingt, sie zum Lernen zu gewinnen. Wenn wir sie nicht gewinnen, können wir Druck machen, wie wir wollen, dann kriegen wir sie nicht.

Warum, Herr leitender Oberschulrat, hat das nicht geklappt? Sie waren doch Teil dieser Reform.

Ich war sogar verantwortlich.

Kein ausreichendes Verständnis von Transformation

Warum haben Sie als Oberschulrat Ihre Erfahrungen mit praktischem Lernen nicht in die integrierten Sekundarschulen einbringen können?

Wir haben an dieser Stelle zwei Probleme. Das eine ist, dass dann andere für die Umsetzung der Strukturreform verantwortlich waren. Ich war Abteilungsleiter und war für die Schulaufsicht insgesamt zuständig – aber nicht mehr für die Fragen der Weiterentwicklung der integrierten Sekundarschulen. Die dann konkret Zuständigen hatten ein anderes, in meinen Augen nicht ausreichendes Verständnis der Strukturreform.

Insgesamt oder vom dualen Lernen?

Von der Bedeutung des dualen Lernens als konstitutivem Bestandteil von Schulen in komplizierten Lagen. Zudem haben sie ihre neue Rolle nicht verstanden. Wir haben die Strukturreform deshalb in so kurzer Zeit erfolgreich hingekriegt, weil sie ein partizipativer Prozess mit den Schulleitungen aller Schularten war. In meiner Arbeitsgruppe saßen Realschulleiter, Hauptschulleiter, gestandene Leute, mit denen wir die Konzepte gemeinsam entwickelt haben. Da haben die SchulleiterInnen mitgedacht und mitgemacht. Dieses Verständnis von Steuerung hat sich aber nicht durchgesetzt, bis heute nicht. So scheint es mir.

Kann man Ihre Philosophie von Schultransformation zusammenfassen?

Die Leitfrage heißt: Welche Schulaufsicht braucht die eigenverantwortliche Schule? Also die alte Top-Down-Idee umzudrehen – und die Handelnden vor Ort ins Zentrum zu holen. Mit ihrem wertvollen Wissen zu beteiligen. Das läuft in meinen Augen an vielen Stellen völlig schief.

Was meinen Sie damit?

Wir haben ja weiterhin dramatische Situationen in den Schulen. Massenschlägereien wie in einer Schule in Gropiusstadt vor ein paar Monaten passieren ja nicht nur in Berlin. Abgesehen von den Details, warum das dort konkret eskaliert ist, stellt sich hier das prinzipielle Problem, dass wir in der ganzen Republik in komplizierten Schulen haben: entweder du gewinnst die Schüler – oder du kommst unter die Räder.

Ihr Gewinnen-Ansatz hört sich prima an. Wie so vieles, was in Berlin als Zentrum pädagogischer Innovationen von Carl-Heinz Evers bis Siegfried Arnz so alles erfunden wurde. Aber Berlins Pisa-Ergebnisse sind trotzdem erbärmlich. Sollte man nicht besser die harten Vorschläge der Krisenbewältigung aus dem Startchancen-Programm anwenden?

Für mich ist das kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch. Natürlich helfen die Elemente dieses Programms wie das Schulleiterbudget, multiprofessionelle Teams und Mittel für bauliche Veränderungen. Das ist alles gut und wichtig. Aber wenn wir den Gedanken der Schüler-Partizipation nicht umsetzen – dann werden wir es m.E. nicht hinkriegen. Wenn wir festzurren, dass die Stundentafel immer für alle gelten muss – dann werden wir es nicht hinkriegen. Dann werden wir auch nicht den Ganztag anders nutzen können. Und dann werden selbst die Sozialarbeiter nichts ausrichten können. Wir brauchen einen Kulturwandel.