Mobiles Lernen, digitale Euphorie

vorbei: Hangout über Netzeuphorie und komplexes kompliziertes digitales Lernen: Heute, Donnerstag, 19:15 Uhr in der #OpenEd-Reihe des UnUniTV

update: der hangout mit jens und martin l sowie den beiden moderatoren kann hier nachgesehen werden. martin blieb während des gesprächs eher stumm, aber inzwischen hat er nachgeliefert in einem sehr interessanten blogpost. wenn man das liest (vorsicht, sehr sehr lang und etwas unsortiert), dann weiß man, woher martins große enttäuschung kommt. er ist ein in der wolle gefärbter anhänger des freien, demokratischen netzes - und er bezieht dieses web und seine eigenarten direkt auf das lernen: hier ein kurzer einschub zu martin l, dessen beitrag im rahmen der blogparade von christian ebel erschien; siehe auch hier mein stück auf pisaversteher.

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Das Web ist für Martin Lindner, der hier wieder als Intellektueller und nicht mehr als Staubsaugervertreter schreibt, das Web also ist für ihn ein…

„semantisches Graswurzel-Netz, das Schriftstücke verbindet. … Es geht nämlich also (cif) primär um Zugang zum Read/Write Web, an dem jede/r aktiv mitweben kann, und nur sekundär um die Art der Endgeräte.“

Das hat aus seiner Sicht unmittelbare lerntheoretische und schulpolitische Auswirkungen:

Das Web* — nicht aber “die Digitalisierung” als solche —  ist so etwas Ähnliches wie ein großes digitales Summerhill. Die Tendenz zur “Entschulung der Gesellschaft” (Ivan Illich) ist ihm quasi eingeschrieben.

Bemerkenswert ist, dass er tatsächlich einräumt, dass 

„viele, die mit digitalen Medien aufgewachsen sind, die enormen Möglichkeiten des Web als fremd, überwältigend und verunsichernd empfinden.“

Martin L lebt und denkt gewissermaßen schon in dem großen digitalen Summerhill. Aber die Alltagsschule ist halt nicht überall so weit. Das sieht Martin Lindner.

Kann man dem Hangout auch entnehmen.

Morgen Heute abend ist es soweit, da wird die Debatte zwischen dem Netzeuphoriker und Web2.0-Berater Martin Lindner, dem 1.0/2.0-Schulpraktiker Jens Großpietsch und Pisaversteher steigen.

Was ist und zu welchem Ende machen wir ‚digitales Lernen‘?“

– heißt das Thema. Und die sofort anschließende Frage:

Wieso jubeln Euphoriker das mobile Lernen gern zu einer digitalen Erlösung hoch?“

update 4/6/15: Als wäre es für unseren Hangout heute abend bestellt, unterband ein Lehrer in Florida den nervigen Handygebrauch seiner Schüler mit einem Störsender. Der Schule sagte der Lehrer laut SPON, er habe das „große Problem bekämpfen“ wollen, dass die Schüler ständig in ihre Mobilfone starren. „My intent for using the device was to keep students academically focused on schoolwork“, schrieb Liptak in einem Brief. Ich empfehle, diesen Brief zu lesen: Er fasst auf einer Seite zusammen, was das reale Problem digitaler Endgeräte sein kann – jenseits aller hochfahrender Lernen2.0-Phantasien.

Zurück zum Talk: Die Moderation haben die beiden netzerfahrenen AC Wagner und Markus Deimann übernommen, die aus dem OpenEd-Talk eine inzwischen 18 Folgen lange Reihe gemacht haben.* (*Siehe unten)

Ich finde, man sollte heute Abend ein realistisches Bild für folgende Fragen an das digitale Lernen zeichnen:

  • Gibt es einen Mehrwert des digitalen Lernens für Lernen und Schule? Worin besteht er?“ [Bitte nicht in DigiSprech, sondern für Otto Normalverbraucher]
  • Wie können wir Lehrer für digitales Lernen begeistern und bilden? Gibt es eine spezielle digitale Didaktik?“
  • Wir bekommen wir die nötigen Geräte und die technische Infrastruktur fürs digitale Lernen in die Schule – und zwar funktionabel und gerecht?“
  • Wie werden wir der Risiken Herr? Das sind: Prokrastination durch Wegtauchen in den Geräten in der Schule und zuhause. Cybermobbing und digitaler Exhibitionismus als tägliche Erfahrung von Schülern und Lehrern (und Eltern ;-))

Zwei Erlebnisse in Vorbereitung auf den Talk zeigen, wie zwiespältig die Debatte über das digitale Lernen ist. Und wie (an)gespannt und nervös die Community – im positiven wie im negativen Sinne.

Erst das Positiv-Beispiel, dann die Lüge Irreführung durch Martin Lindner.

Ich sandte als Vorbereitung einen Tweet raus, in dem ich die sehr prägnante und einfache Formel von Seb Schmidt des „flipped classroom“ zitierte. 

Daraus enstand ein reger Twitter-Trialog mit Seb Schmidt und Herrn Rau, bei dem sich schnell andere einklinkten. 

Er begann so:

Und endete so:

Um das Ganze als einfaches Storify anzusehen, bitter hier hin klicken.

Und nun das Negativbeispiel

So einfach ist das ja nicht, mal ein paar simple und naheliegende Fragen zum Lernen2.0 wie oben zu stellen. Martin Lindner wäre ja nicht ML, wenn er nicht schon vor dem Beginn des Diskurs bewerten würde. So isser, von gaaanz ganz oben herab zu den kleinen doofen Falschfragern.

Ich twitterte eine der vernünftigen Fragen, auf die man sich ganz leicht einigen könnte, am Mittwoch als Einladung:

Darauf antwortete sogleich Martin: Irreführung! Falsche Frage!

Das interessante daran ist: Martin Lindner verschob die Frage einfach mal, damit sie in sein Konzept passt. Vom „Mehrwert für den Unterricht“ hatte ich gar nichts wissen wollen, mir ging – ganz bewusst – es um Lernen&Schule. Für den Unterricht interessierte sich allein Martin. Er führte also die Edu-Twitteria, die ihm zu Füßen hängt liegt, frech durch ein manipuliertes Zitat in die Irre. Dennoch wurde er fleißig retweetet und gefavt. Bei einer Podiumsdiskussion schaltet man auf diese Weise einen Diskutanten aus – und ein Thema. Dass nicht ich in die Irre geführt hatte, sondern Martin, spielte natürlich keine Rolle. Die Martin-Lindner-Faven-Buttons wurden fleißig bedient.

Ich glaube, das ist kein Zufall, sondern die „Diskurstechnik“ der Euphoriker. Und es ist bereits Teil des Problems. Du kriegst mit dieser Spezies keinen rationalen Diskurs mehr über Chancen und Risiken des digitalen Lernens hin, weil in deren Kopf ein rosaroter Kinofilm läuft, der nicht zu stoppen ist: Digitales Lernen ist sooo guuut, hmmmm. Da hört man gar nicht mehr, was der andere sagt. 

In jeder rationalen Diskussion hätte nun ein Moderator geordnet: Du Martin, sorry, Du zitierst hier falsch. Nicht so in der Lernen2.0-Gemeinde. Da wird sofort niederkartätscht. Sogleich kommen die digitalen Jubelperser und holen ihre virtuelle Dachlatte raus. Nur so ist es zu verstehen, dass die halbe Edu-Kirchengemeinde aufjaulte, als ich mich jüngst im Cicero gewagt hatte, einfach mal die neue Säulenheilige Saskia Esken zu hinterfragen. Meines Erachtens ist Frau Esken keine „Abgeordnete“, sie ist schlicht Lobbyistin dieser Community im Bundestag. Na, das führe ich mal lieber nicht aus.

Man könnte das Thema „Netz-Diskurs über digitales Lernen“ einfach auch so fassen: „Digitale Staubsaugervertreter schwärmen über Wolkenkuckucksheim2.0“:

Stell Dir vor, es gibt Tablets in der Klasse – und der Lehrer weiß nicht, was ein „App“ isÄt, die Kids hängen in ihren BYODevices bei WhatsApp rum und das WLan funzt nicht. Der unzuständige Bundestag beschließt derweil Gamification und Hochgeschwindigkeitsnetz und übermittelt seinen „Entschließungsantrag“ danach an – die Landschildkröte Kultusministerkonferenz, einen Konsensverein von 16 zerstrittenen, zum Teil verarmten Ländern, die seit fünf Jahren unverdrossen Kreidetafeln durch Smartboards ersetzen, die keiner bedienen kann.

Das heißt dann bei MdB Saskia Esken:

In der digitalen Welt komme „der Digitalen Bildung die Aufgabe zu, die Menschen mit der Aneignung einer digitalisierten Welt zu einer souveränen Teilhabe an ihr zu ermächtigen.“

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*AC Wagner und MarkusMind haben sozusagen die Blauhelme aufgesetzt. Weil ich den Tagesspiegel-Beitrag der MdB Saskia Esken wirklich total daneben fand, und zwar bei Cicero. Für mich war das eine Mehrheits- und Erlösungsrhetorik von beinahe Orwellscher Tonlage. Und weil Martin Lindner in seiner Netzpiloten-Nische mich dafür als digitales Rauhbein bezeichnet hat, wofür ich ihn wiederum einen digitalen Staubsaugervertreter nannte. Puuh.