Besuch beim OER-Camp in Bremen, oder: Verneigung vor einer Szene, die nicht meine ist.

Ja, ich gebe es zu. Ich arbeite in einem Verlag. Ich arbeite in einem Bildungsverlag. Vertreter der OER-Szene, wenn es die überhaupt gibt, sind Leuten wie mir nicht immer freundlich gesinnt. Das habe ich schon bei einigen Veranstaltungen gemerkt. Von den einschlägigen Blogs will ich gar nicht reden. Die Ressentiments gehen etwa in folgende Richtungen: Ich bin ein Mitglied der Content-Mafia, die an einem alten Geschäftsmodelle festhalten will, das auf der Ausbeutung von Autoren und Illustratoren basiert. Mit unserem sturen Beharren auf das Urheberrecht haben wir die Firewall gegen eine freie, demokratische Bildung errichtet. Die Digitalisierung in der Schule kommt nicht voran, weil die gegen unsere Geschäftsinteressen läuft. Die aktuellen Reformschulen setzen ohnehin auf Lernformen, für die wir nichts mehr zu bieten haben usw.

Übliche Anfeindungen

Entsprechend war ich schon auf dem Weg zum OER-Camp nach Bremen etwas nervös. Wie ich feststellen durfte, ganz zu unrecht. Doch dazu später mehr. Die üblichen Anfeindungen stecke ich noch immer nicht so einfach weg. Wer in der Bildungswelt unterwegs ist, für den ist das selten ein Job wie jeder andere. Mit den Jahren bringt man es zu Überzeugungen, wie Schule sein sollte, was für Schüler wichtig ist und was im Bildungssystem schief läuft. Womit wir uns jeden Tag beschäftigen ist bei aller Abhängigkeit vom Unternehmenserfolg immer auch mit lebensdringlichen Fragen verbunden. Die Bildungsmedien sind nicht nur ein kleiner Teil der eigenen Bildungsbiographie, sie prägen die Schule, in der die eigenen Kinder heranwachsen und die jeden darauf vorbereiten soll, in der Gesellschaft seinen Weg zu machen. Vielleicht lässt es mich deshalb nicht kalt, wenn meine Arbeit als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung gesehen wird.

Das Thema OER hatte mich lange nicht sonderlich interessiert. Dass Lehrer Materialien erstellen und weitergeben, gehört zur Schule wie der Einsatz von Bildungsmedien unter proprietärer Lizenz. Diese Materialien sind oft sehr gut und sie passen perfekt zum Unterrichtsstil und -ziel des Erstellers. Plattformen mit frei zugänglichen und veränderbaren Materialien gibt es schon lange, sie sind unter Lehrern sehr beliebt. Und das ohne die Fähigkeit sechs verschiedene CC-Lizenzen zu unterscheiden. Ich gehe davon aus, dass fast jeder Lehrer, der eine für ihn unbekannte Unterrichtseinheit vorbereitet, erst einmal bei Google schaut, was er dazu findet. Dabei landet er automatisch auf den einschlägigen Sammlungen.

Postheroischer Unterricht

Vor diesem Hintergrund war mir lange Zeit nicht klar gewesen, warum OER plötzlich etwas besonderes sein sollte, etwas von politischer wenn nicht gesamtgesellschaftlicher Tragweite. Warum ausgerechnet OER den fundamentalen Strukturwandel zu einer Art postheroischen Unterrichts in der Schule einleiten sollte, hatte mir nicht eingeleuchtet (und leuchtet mir auch heute nicht ein). Aber natürlich hatte ich wahrgenommen, dass die Verunsicherung durch den „Schultrojaner“ den Enthusiasmus in Richtung OER beflügeln musste. Ich hatte auch verstanden, dass man mit Materialien unter freier Lizenz Zugangsschwellen zu Bildungsinhalten senkt.

Doch es blieb dabei: warum Lärm um etwas, das längst fester Bestandteil der Lehrerrealität war?

Nervöse Anreise

Von dieser kritischen Frage voreingenommen und der erwähnten Nervosität fuhr ich also zur Cafeteria der Universität Bremen, dem Austragungsort des OER-Camps. Organisiert war die Tagung als Barcamp, das heißt: immer zu Beginn eines Tages stellen Teilnehmer sehr knapp vor, zu welchem Thema sie eine „Session“ anbieten wollen; die übrigen sind angehalten, ihr Interesse zu bekunden und heben sich genug Hände, wird die Veranstaltung eingeplant. In diesem Fall gelang das bemerkenswert gut: Mit atemberaubender Geschwindigkeit füllte sich die Tagesplanung, wobei mit viel Takt und Anpassungsbereitschaft die Sessions so angesetzt wurden, dass es wenig Überschneidung und genug thematische Vielfalt gab. Und wer früh zum Zug musste, der sah sein Angebot auch noch entsprechend vorgezogen. Das alles wurde von einer Teilnehmerschaft bewältigt, die – abgesehen vom Geschlecht, denn die Männer überwogen augenscheinlich – heterogener kaum hätte sein können: Es gab Vereinsfunktionäre, Behördenvertreter, Jungpolitiker, Verlagsmitarbeiter, Unternehmensberater, Bildungsforscher, Lehrerausbilder, natürlich Lehrer, Schüler und andere Professionen. Doch genaugenommen treffen es diese Zuordnungen nicht. Die Beteiligten brachten sich mit viel mehr ein als mit ihrer Berufsrolle und entsprechend unscharf wurde für mich ihr Profil. So geht es mir oft, wenn ich mit Menschen zusammentreffe, die ihr Engagement zu einer Herzensangelegenheit machen.

Freundliche Aufnahme

Besonders überrascht hat mich, wie die Vertreter meiner Zunft in diesen Kreis der Teilnehmer aufgenommen wurden. Die üblichen Ressentiments waren durchaus bekannt und entsprechend wurde regelmäßig wertschätzend anerkannt, welchen Mut unsereins doch aufbrächte, sich an einem solchen Ort blicken zu lassen. Dabei blieb es nicht. Viel mehr gab es ein ungetrübtes Interesse für unsere Arbeit. Die ging soweit, dass Vertreter zweier Schulbuchverlage gebeten wurden, gemeinsam eine Session über die Arbeitsweise der Bildungsverlage anzubieten. Ich habe nicht gezählt, aber ich glaube, dass diese Runde die am besten besuchte war. Man könnte über die sich hier entzündenden Diskussionen viel sagen. Für mich war am erfreulichsten, dass die Beteiligten den Vertretern der Verlage weitaus mehr zutrauten als ungezügeltes Profitinteresse. Ich meine, dass wir uns daher schnell auf gemeinsamen Grund wiederfanden. Auch wir brennen für bessere Bildung, für zufriedene, engagierte Lehrer und lebensfeste, selbstbewusste Schüler. Meine Kollegen von der Konkurrenz machten immer wieder stark, dass wir hierzu etwas kaum ersetzliches beitrügen; unser Bildungssystem würde kein besseres, wenn an unserer Stelle Vereine oder gar Behörden träten, die sich um die Zuteilung von Staatsgeldern bewürben um damit OER zu produzieren. Allerdings äußerte sich auch sonst kaum einer in diese Richtung. Insofern mussten sich die Kollegen dabei ertappen, vor etwas zu warnen, was ohnehin keiner wollte. Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass keiner der OERler eine Urheberrechtsreform oder Maßnahme der Politik für gut befinden konnte, die uns den Boden unter den Füßen wegzöge.

Ich bin unzufrieden darüber, dass wir auf eine immer wieder gestellte Frage keine konstruktive Antwort geben konnten: Warum bieten wir unsere Inhalte nicht unter freier Lizenz an? Dass uns das die Inhaber von Drittrechten (Bilder, Texte etc.) niemals gestatten würden, zumindest nicht unter erschwinglichen Konditionen, ist nicht der einzige Grund. Wir sehen einfach bislang noch kein so vielversprechendes Modell, dass wir unsere jetzt schon ohne große Reserven arbeitenden Strukturen aufs Spiel setzen könnten. Mir ist aber – auch wenn ich noch nie davon gehört habe, dass ein Lehrer wegen Urheberrechtsverletzungen in der Schule Sanktionen hinnehmen musste – in Bremen klar geworden:

Wir müssen sofort Lösungen finden, die es Lehrern in der digitalen Welt erlauben, ihren Unterricht so vorzubereiten, wie sie es in der analogen Welt gewohnt waren: flexibel und rechtssicher, mit voller Konzentration auf guten Unterricht.

Die Debatte um OER macht uns heute unmissverständlich darauf aufmerksam. Die Offenheit für unsere Sicht der Dinge, die Bereitschaft, sich auch in unsere Situation hineinzuversetzen, hat mir und bestimmt auch den Teilnehmern von der Konkurrenz geholfen, uns davor nicht mehr zu verschließen.

Vom Enthusiasmus begeistert

Ja ich gebe zu, dass ich mir nicht vorstellen kann, den Enthusiasmus zu teilen, den die OER-Szene für ihre Sache hat. Und ja: ich gebe zu, dass ich von der Gruppe, wie ich sie nun kennen gelernt habe, begeistert bin.

Martinez von Slavata