Wieso wir digitales Lernen nicht überhöhen sollten: Es klappt nicht so einfach in den Schulen – und es führt leicht zu einer Orwell`schen Sprache

(erschien am 8. Mai im Cicero; lesen Sie zum selben Thema auch das Wochenthema das Freitag, Nr. 19, den Blog von Bob Blume und die Kolumnen bei Scoyo, u.a. Das Handy als Erziehungsplage.) Bildschirmfoto 2015-05-11 um 01.26.27

update: Inzwischen wird bei Twitter recht munter über den Text diskutiert, nun, wenn man das eine Diskussion nennen kann. Ich finde, ehrlich gesagt, das Niveau dieses 140-Zeichen-Diskurses erbärmlich. Ein Beispiel ist Martin Lindner:

In diesem Tweet will der gute Martin Lindner also wissen, wen ich mit den Digitaleuphorikern gemeint habe. Man fragt sich: Kann der Mann nicht lesen? Guckt er sich wenigstens die Kommentare am Ende an, die ja nicht so lang sind und wo der gründliche Herr Rau die selbe Euphorie beklagt? Die kann man ja kapieren. In der Überschrift steht, wer gemeint ist, im Text wird an vielen Stellen en detail gezeigt, was ich am Vorgehen und der Sprache von Frau Esken bemängele. Mir wurde im Verlauf der Debatte erzählt, Saskia Esken kenne sich sehr gut aus und besuche auch fleißig OER-Veranstaltungen. Gut, das finde ich auch toll. Nur – was hat das mit meiner Kritik an ihr zu tun? Via Twitter haben sich mehrer Leute gemeldet, um via Mikroblogging Kritik zu üben – eine zusammenhängende, halbwegs konsistente Argumentation ist nicht zu erkennen – obwohl das im Blog ja leicht möglich wäre.

Die „Kritik“ am Thema auf Twitter sah so aus:

Wie, es geht nur um Skype?!

Und: Wie gemein, das Internet gibts nicht erst seit gestern! Stampf!

Der Text beginnt hier: Erst seit 2013 ist die Abgeordnete Saskia Esken im Bundestag. Aber die Sozialdemokratin macht gleich richtig was los und hat, zusammen mit Sven Volmering von der CDU, den Antrag einer digitalen Agenda für die Schulen eingebracht. Deutschlands Schulen sollen ans schnelle Internet angeschlossen werden, mehr Computerspiele und Tabletcomputer bekommen. Es spricht manches dafür, dem 21. Jahrhundert mehr Platz in unseren Schulen zu geben, die noch ein bisschen aussehen wie im 19. Jahrhundert. Kürzlich aber hat Esken in einem Stück für den Tagesspiegel genauer ausgeführt, welche großartigen Potenziale das digitale Lernen doch habe. Der Text heißt „Humboldt und die Algorithmen“. Es soll hier nicht darum gehen, dass der arme Wilhelm von H. wieder aus seinem ehrwürdigen Grab herausgezerrt wird, um für eine Verwirklichung einer unvollendeten Bildungsreform zu werben. Diesmal muss unser aller Bildungswilli seine Gebeine für die digitale Revolution des Lernens hinhalten – und das über 200 Jahre nach seinem genialen Königsberger Schulplan.

Das ist natürlich ganz großer Käse. Aber darum geht es mir gar nicht.

Es geht, erstens, um den Ton, den Frau Esken anschlägt, und zweitens nochmal um den Ton der Abgeordneten.

Der Text der Programmiererin und Parlamentsneulings ist von einer durch und durch gütig-positiven Haltung. Seine rosa Zuversicht steht dabei in krassem Widerspruch zur Realität vieler virtueller Events – zum Beispiel dem grau-in-grau-Scheitern eines Streams und einer telematischen Bildverbindung zwischen Berlin und Köln, wie ich sie gerade bei einer Diskussion in der Digital Eatery von Microsoft in Berlin erleben durfte. Das mehrmalige Wegbrechen des Skype-Bildes aus einem netztechnisch hochprivilegierten Ort wie der Berliner Repräsentanz von Microsoft war eine Blamage für den IT-Giganten – und für Saskia Eskens utopistische Vorstellungen von technischer Machbarkeit. Das pseudo-emanzipatorische Erlösungsvokabular, das ihren Text durchzieht, müsste ihr im Halse stecken bleiben, wenn es einem führenden Internet-Haus, einer begüterten Stiftung und einer PR-Agentur nicht gelingt, einen Bildungsexperten knister- und interruptionsfrei von Köln nach Berlin zu beamen – und einen Stream für den Rest der Republik zu schalten. Wie sollte das dann eigentlich gutgehen in den Schulen, wo es keinen Administrator gibt, der das gerissene Netz wieder zusammen flickt?

Bermudadreieck von Standards, Geld, No-Know-How

Man kann aus diesem Scheitern eine Erkenntnis gewinnen. Es hat eben nicht die Abgeordnete und Netzaktivistin Esken hat Recht, wenn sie fordert, endlich die technischen und didaktischen Voraussetzungen für digitales Lernen zu schaffen. Es haben vielmehr die Kritiker recht, die sagen: Sprecht mal lieber leiser und nicht so weihevoll über Euer, ach, so dolles Netz! Denn angesichts der verschiedenen Systeme und Standards, Marktanteile und Markenstrategien kann auch bei technisch so leicht machbaren Sachen wie einem Live-Stream mal vieles schief gehen, und der Mensch, klar, ist nicht der kleinste dadaistische Faktor in diesem absurden Theater.

Der digital vervollkommnete Mensch

Der Mensch tritt bei der ehemaligen baden-württembergischen Elternrätin Esken ganz allgemein als eine durch Bildung gewisslich perfekt zu veredelnde Spezies auf. Nur die entbehrungsreiche Kreidezeit und die altbackenen Vorstellungen von Bildungsdinosaurieren hindern den Menschen an seiner End-Vollendung. Mit dem Internet, so ungefähr geht die Denkfigur Eskens, lässt sich der Mensch ultimativ aus dem überfüllten, fordistisch beengten Klassenzimmer der Paukschule befreien. Humboldt habe Bildung interpretiert als „Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen.“ Daran will Esken anknüpfen: „Wenn wir diesen Bildungsbegriff für die digitale Welt interpretieren, kommt der Digitalen Bildung, die Aufgabe zu, die Menschen mit der Aneignung einer digitalisierten Welt zu einer souveränen Teilhabe an ihr zu ermächtigen.“

In diesem Satz kommt derart oft digital vor, dass man nicht weiß, ob das Digitale nun Ausgangspunkt, Mittel oder Ziel von Bildung ist – oder vielleicht alles zugleich? Egal, Hauptsache: souverän, teilhaben, ermächtigen. So lauten die Schlüsselbegriffe von Frau Esken, und das wollen wir doch alle. Die Abgeordnete hat Adjektive und Textbausteine zu Hauf zur Hand, die keinen Zweifel mehr aufkommen lassen. Saskia Eskens Artikel ist eine Aneinanderreihung von Superlativen der Vervollkommnung des Menschen durch – Digitalisierung: „das Potenzial einer neuen Verteilung von Macht“, „emanzipatorischer Umbruch“, „optimale Bedingungen in individuellen, kreativen und kollaborativen Prozessen“ usw. usf. Ich will, anders als die MdB aus dem Schwäbischen, niemanden mit solchen teflonartigen Satzfragmenten peinigen, die im Grund nichts sagen, außer: Tablet, erlöse uns! Lernen war und ist so kompliziert, Internet hülf!

Kein Missverständnis: Ich finde die partizipativen Möglichkeiten von multimedialen Endgeräten in ihrer Verbindung mit den kollaborativen Chancen des Netzes der Vernetzung spannend, ja unverzichtbar. Ich arbeite selbstverständlich selbst damit, habe in Lehrredaktionen für Schüler gesehen, wie viel intensiver und schneller diese über Blogs zusammen arbeiten können gearbeitet werden kann, und habe nicht zuletzt mit vielen engagierten Leuten ein LernLab in der Berliner Heinrich-von-Stephan-Schule veranstaltet, um diese Möglichkeiten zu nutzen – und zugleich in der Realität zu testen. Aber wie jeder andere, der mit Menschen solche Ressourcen angewendet hat, sind mir dort auch ein paar Dinge aufgefallen, die mit der glattpolierten Werbesprache von Frau Esken nicht zu beschreiben sind, ja: die durch ihren Ton und ihre Haltung niedergebügelt werden.

Orwell´scher Unterton

Denn die Abgeordnete übersäuselt nicht nur die Probleme des Netzes – kurz: Prokrastination, Mobbing und digitaler Exhibitionismus – , sie macht zugleich explizit gegen jene Technikkritik Stimmung, die berechtigte Fragen an die schöne neue digital-soziale Welt richtet. Das bekommt dann schon fast einen Orwellschen Unterton. In der digitalen Welt Saskia Eskens ist alles so wunderbar perfekt. Dabei ist es einer Abgeordneten der 80-Prozent-Mehrheits-Fraktion des Deutschen Bundestages meines Erachtens nicht angemessen, dass sie die Opposition gegen eine vorschnelle, radikale und pauschale Einführung digitaler Lernmöglichkeiten in die Ecke von Miesepetern und Blockierern stellt.

Das „Tablet für alle“ ist keine Ermächtigung

Eine Top-Down-Initiative zur flächendeckenden Einführung von Tablets und pädagogischen Computerspielen, so genannten serious games, in Schulen ist alles – nur keine Ermächtigung des einzelnen Lerners gegen die Staumauern der Internetgiganten. Die Sprache von Saskia Esken ist also die tiefe Stimme der Mächtigen, die sie nur mit emanzipatorischer und demokratischer Kreide zarter und höher klingen lässt. Selbstverständlich wendet sich Esken gegen den Überwachungsstaat – aber sie bietet keinerlei Anhaltspunkte, wie sie dem Treiben von Facebook, Google etc. in Verbindung mit NSA, BND usw. Einhalt gebieten könnte, nein doch: „Bildung muss die Menschen befähigen, sich souverän und sicher im Netz zu bewegen“

Was will Frau Esken damit sagen? Wenn es nicht einmal der Bundesregierung gelingt, seinen eigenen BND an ungesetzlicher Daten-Spionage zu hindern, geschweige denn die NSA, wie soll da, bitteschön, der einzelne durch digitale Bildung zum Souverän seiner Daten werden? Humboldt hin oder her, so etwas möchte man, bei aller Hochachtung vor den Chancen digitalen Lernens, nicht lesen, gerade nicht in einer Zeit, die deutsche Dienste erneut als Komplizen ausländischer Spione identifiziert hat – bei der Ausspähung der eigenen Bürger und Firmen. „Das geht gar nicht.“ (Merkel)

Generation always on guckt täglich 300 Mal aufs Fon/Tablet

Selbst im digital gestützten Unterricht geschehen Dinge, die mit Ermächtigung und Souveränität nicht zu beschreiben sind, aber mit Sucht, Ablenkung und digitaler Hörigkeit. Wie anders wäre es zu verstehen, wenn in einer Tabletklasse alle Schüler (alle!) ihr Tablets abgeben müssen, weil sie sich während des Unterrichts mit einem Computerspiel abgelenkt haben? Nutzungsforscher stellen fest, dass Schüler praktisch nie richtig einschätzen können, wie viele Stunden sie tagsüber ihr Smartphone benutzt haben. Allgemein wird bereits von der Generation „always on“ gesprochen, der Generation, die nie abschalten kann, die sich täglich 300 Mal durch den Blick aufs Smartphone ablenkt. Lassen wir uns einen Moment von der Digitalisierung durch den Blick nach Südkorea ablenken. Dort werden gerade zwei Internate von Eltern regelrecht überrannt – weil sie ein entdigitalisiertes Lernen anbieten. Korea wird gerne als das digitale Musterland gefeiert.

Das ist kein Plädoyer dafür, wie Saskia Esken völlig realitätsfremd an die Wand malt, die Schulen vom Netz zu nehmen. Es ist die dringende Bitte, reflektiert und schrittweise Schulen und Schüler mit der digitalen Welt zu befreunden. Denn Schulen haben in der Tat den Auftrag, den Kindern das Lesen, Schreiben, Rechnen und den kritischen Umgang mit digitalen Geräten beizubringen. So etwas wie eine Netzverkehrserziehung für die Schüler ist an allen Schulen dringend zu verwirklichen, und es ist doch vollkommen klar, dass das nicht mit erhobenem Zeigefinger geschehen kann. Es darf aber auch nicht mit der naiven Jubelpose einer MdB geschehen, die als virtuelle Gegner jene Figuren vor Augen hat, die vor „Zwangsdigitalisierung“ und „totaler Computerisierung“ warnen. Das kann man nicht ernst nehmen.

 In der Digital Eatery stellten sich übrigens einige Schüler vor, welche zuvor die Sprache des 21. Jahrhunderts in einem Workshop kennengelernt hatten: das Programmieren. Das Steuern einer Schildkröte durch Codes habe ihnen wahnsinnig viel Spaß gemacht, grienten die 12jährigen. Zu welchem Ende diese Sprache gelernt wird, wussten sie nicht. Auch Saskia Esken kann es ihnen nicht verraten. Sie gehört zu jenen, die von oben herab das Erlernen einer Programmiersprache verordnen möchten. Eine kritische Sprache aber, mit der sich die Subjekte gegen sie überwältigende Mächte verständigen, wird von unten geschrieben und gelernt. Man erkennt sie, kurz gesagt, an einem anderen Ton.