Heribert Prantl irrt: Das Recht auf Unschuldsvermutung gilt zunächst für die Kinder, die von Fremden nackt gefilmt werden. Und erst dann einem Abgeordneten, der Bilder dieser Jungen kauft

 

Dürfen die Strafverfolger bei einem Verdächtigen eine Razzia ausführen, wenn er „nur“ Nacktbilder von Kindern aber noch keine so genannte Kinderpornografie besitzt? Beitrag über Heribert Prantls Kritik an der Staatsanwaltschaft (vom Februar 2014). Mit zwei Aktualisierungen (aus dem August) zu dieser Kernfrage vorneweg – denn das Bundesverfassungsgericht hat den Strafverfolgern gerade Recht gegeben.

Aktualisierung I: (29/8/14) Das Bundesverfassungsgericht hat die Durchsuchung der Privaträume und auch des Computers von Sebastian Edathy in der Sache für richtig befunden. In der Form hatte Edathy vorgebracht, dass er noch Immunität genoss. Das stimmte (ganz ganz knapp), aber das hätte er vor Gericht und nicht gleich in Karlsruhe durchfechten müssen.
Wichtig ist aber vor allem, dass das Verfassungsgericht es für richtig befunden hat, bei Hausdurchsuchungen die Nähe von Posing-Bildern zu harten Missbrauch-Abbildungen (oft Kinderpornografie genannt) als Verdachtsmoment anzuerkennen. Siehe hier den Ausriss aus der Begründung des Gerichts:
Ausriss Bundesverfassungsgericht: an der Grenze - und daher verfolgungsrelevant
Ausriss Bundesverfassungsgericht: an der Grenze – und daher verfolgungsrelevant
Genau diesen Punkt hatte Heribert Prantl zu dem hier (im Februar) besprochenen Riesenaufsatz veranlasst. Prantl argumentierte in "Strafrecht ist kein Moralrecht", es sei bei Edathy eine Art moralischer Durchsuchung erfolgt, juristisch sei sie eine Katastrophe gewesen. Wenn man so will, hat das Gericht einen Präzedenzfall geschaffen, auch wenn es eine sehr knappe Begründung liefert. Karlsruhe segnet ab, Nutzer von eher soften Nacktaufnahmen durchsuchen zu lassen - weil sie in aller Regel auch Abbildungen schweren Missbrauchs konsumieren. Mal sehen, ob sich Prantl so einfach vom Bundesverfassungsgericht was sagen lässt.
Aktualisierung 2 (30/8/14): Inzwischen hat Wolfgang Janisch, der Gerichtskorrespondent der SZ, einen Kommentar geschrieben. Er verficht die gleiche Linie wie Prantl: Eine Durchsuchung durfte nicht stattfinden! Das interessante daran, neben dem Juristischen: Offenbar trauen die Großkommentatoren der SZ, Prantl und Janisch, der Investigativabteilung ihrer eigenen Zeitung nicht. Sie schreiben, wer Posing-Bilder und Nacktfilme von Kindern besitze, der müsse noch lange keine Abbildungen von sexuellem Missbrauch an Kindern nutzen. Freilich zeigte die Geschichte auch bei Edathy eben etwas anderes: er hat sich so genannte "Kinderpornografie" beschafft. Herausgefunden hat das übrigens: die Süddeutsche selbst, genauer der der berühmte Recherchepool von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Janisch ignoriert die Erkenntnisse seiner eigenen Zeitung, ja, er erwähnt sie noch nicht einmal. Er schreibt vielmehr, es bleibe dennoch ein Verdacht auf Kinderpornografie mit den "diffusen Konturen eines Herbstnebels". Da war die Formulierung eben schöner als die böse Wirklichkeit - als verschweigt man sie im Kommentar.

[Hier nun weiter mit dem Blog-Beitrag vom Februar:] Heribert Prantl hat sich zu einem großen Feuilleton aufgemacht. Strafrecht ist kein Moralrecht schreibt er und beschwört die Unschuldsvermutung, die einem Verdächtigen zuzugestehen sei. Das ist richtig, aber das ist auch schon alles. Der große Publizist der Verfassung und der Innenpolitik, er hat auch Unrecht. Die Unschuldsvermutung ist zunächst einmal jenen zuzugestehen, die teils ohne ihr Wissen, auf jeden Fall ohne ihr Einverständnis nackt gefilmt und dann ins Netz gestellt bzw. zum Kauf feilgeboten werden. Die Unschuldsvermutung steht zuallererst den unbekleidete Kindern und Jugendlichen zu, die auf den Filmen zu sehen sind, die Edathy offenbar bei einem Händler für so genannte „Kinderpornos“ bestellt und bezahlt hat.

Kinderschutz als Abstraktum

Aber diese Perspektive nimmt Prantl nicht ein. Prantl malt den Schutz des Kindes nur als Abstraktum, als institutionelles Instrument an die Wand. Die Würde des Kindes und sein Anspruch auf körperliche und seelische Unverletzbarkeit kommt als konreter Anspruch bei ihm gar nicht vor. Gegenstand des Prantl´schen Denkens ist Sebastian Edathy. Er sei durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vorverurteilt worden. Das ist eine Behauptung, die der Kommentator losgelöst von den Fakten aufstellt. Denn die Wahrheit ist eine andere: Der Bürger Edathy wurde nicht dadurch in seinen Rechten verletzt, dass man zu schnell und zu hart gegen ihn ermittelt hat, sondern viel zu langsam. Nur durch einen schnellen – und diskreten – Zugriff auf Edathys Wohnung und Computer hätte sich feststellen lassen, ob er tatsächlich auch illegale Missbrauchsabbildungen beschafft und besessen hat. Oder ob er es eben nicht hat. Es geht dabei um Abbildungen, die zeigen wie Kindern sexuelle Gewalt angetan wird. Das ist der mögliche Tatbestand, um den es geht.

Jetzt ist dieser Verdacht gegen Edathy praktisch nicht mehr auszuräumen. Weil das lange Zuwarten der Staatsanwaltschaft dafür gesorgt hat, dass ein eindeutiges Ergebnis nie zu bekommen sein wird. Keine Einstellung der Ermittlungen, kein Freispruch. Interessant ist auch ein Vergleich. Mit Edathy haben Hunderte andere Deutsche legale Abbildungen nackter Kinder auf Filmen und Fotos in Kanada bei Azov Films bestellt. Gegen viele von ihnen wurde von der Polizei längst ermittelt – ohne den Immunitäts- und Abgeordnetenbonus, den Edathy hatte. Die bohrenden Fragen richten sich ja auch zunächst einmal nicht an die Staatsanwaltschaften – denn Edathy wusste ja offensichtlich vor den Strafverfolgern, dass da was kommt; er war informiert, wie er selbst zugab. FR-Online und NDR

Nicht Staatskrise, sondern Krise der Grundrechte

Der Fall Edathy legt nicht eine Krise des Staates und der Regierung offen, wie Heribert Prantl meint. Was hier zutage tritt ist eine schwere Krise des Grundrechte – und zwar in ihrer politischen, juristischen wie medialen Wahrnehmung.

Sicherlich ist der ganze Koalitionsapparat und die Regierung in eine Vertrauenskrise geschliddert. Aber, mal ehrlich, es hatte doch eh niemand den Beteuerungen geglaubt, mit denen sich die politischen Wettbewerber Rot und Schwarz seit Wochen umgarnen. Schon beim ersten Konflikt ist die mediale Schau der vermeintlichen Großen Küsschen-Koalition enttarnt. Jetzt gilt wieder alttestamentarisches Blutrecht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nimmst Du mir den Friedrich, fordere ich den Kopf Deines Oppermanns.

Das Recht der Kinder auf die Privatheit ihres Körpers

Das also, was Prantl beweint, ist eine Pseudokrise. Die reale Krise ist die, wie man mit der Integrität von Kindern umgeht. Darüber vergiesst Prantl keine Träne. Aber genau darum geht es: um die Kinder, deren Bilder sich Edathy gekauft hat. Was ist mit ihren Persönlichkeitsrechten, ihrer Würde und, ja, ihrer Unschuldsvermutung? Schon die dauernde Verwendung des Begriffes Kinderpornografie enthält ja einen massiven Schuldvorwurf. Er suggeriert, dass die Bilder, die von 2- bis 13jährigen Jungen und Mädchen aufgenommen werden, irgendetwas mit Sex oder Lust oder Freiwilligkeit zu tun haben könnten. Nein, das letzte, was gefilmten nackten 10jährige zugestanden wird, ist das Recht an ihrem Körper. Die Produzenten filmen sie, sie stellen sie ins Netz, die Männer kaufen ihre Bilder. Schon die Verwendung des Begriffes „Kinderpornografie“ macht Kinder zu Objekten, er sexualisiert und pornografisiert jene, die dem juristisch gar nicht zustimmen können und die im übrigen nicht wissen, was es bedeutet, in den Einkaufslisten eines international agierenden Rings von Kindesmissbrauchsfilmern und -verlagen zu stehen.

Die Macht des Stärkeren, Immunität als Schutzschirm

Der so genannten Kinderpornografie liegt also nicht der Wille des Kindes zugrunde, sondern sie wird durch die Macht des Stärkeren über den Schwächeren hergestellt, die solche Aufnahmen möglich macht. Es ist sexualisierte Gewalt, die gefilmt wird. Es ist die Gewalt des – in den allermeisten Fällen – Mannes über das Kind; die Macht von Institutionen über Individuen; die Macht des Abgeordneten Edathy, der seine herausgehobene Stellung als Abgeordneter und seine Immunität nutzt; seine Macht missbraucht, um sorgsam abgeschirmt Bilder zu erwerben von Kindern, die gegen ihren erklärbaren Willen ausgezogen und für fremde Zwecke abgebildet werden.

Wieso will mich ein Fremder nackt sehen?

Es wäre interessant gewesen für Heribert Prantl, sich einmal eine Sekunde von der juristischen auf die reale, nicht abstrahierte Ebene hinunter zu begeben. Dort hätte er die Perspektive des Kindes einnehmen können: Will ich gefilmt werden? Weiss ich, was das bedeutet? Kann ich zustimmen? Wieso will mich jemand nackt sehen, den ich nicht kenne? Wieso will mir jemand 30 Minuten zusehen, wie ich mit anderen nackten Jungen im Wasser spiele, mich balge oder im Schlamm kämpfe? Will ich, dass dies öffentlich wird und ich auf unendlich in den Archiven des Web so zu sehen wird? Was macht das mit meiner Persönlichkeit und meinen Rechten als Kind und Bürger, Herr Prantl?

Nachtrag: Noch weiter und noch brutaler als die Interpretation von Heribert Prantl ist die von Monika Frommel, einer Beirätin der Humanistischen Union. „Das ist der Kern jeder Grundrechtsausübung, dass meine Intim- und Privatsphäre geachtet wird“, sagt Frau Frommel im Deutschlandradio. Sie meint aber damit nicht etwa das Recht auf Privatheit der Kinder, sondern das von Sebastian Edathy, sich diese nackten Kinder anzusehen

Nachtrag 2:

Ich hatte auf Twitter verwundert gefragt, ob Prantl eigentlich recherchiert hat. Dararaufhin haben mich Twitteratis gefragt, wie ich darauf käme. Hier die offensichtlichste Stelle. Prantl schreibt:

Die Ermittlungsbehörden argumentieren mit Erfahrungssätzen. Sie führen an, dass erfahrungsgemäß derjenige, der erlaubte Nacktfilme bestellt, auch illegale bestellt und besitzt. Allein auf diese angebliche Erfahrung wurden die Durchsuchungen gestützt.

Dazu muss man sagen: die „angebliche Erfahrung“ ist gleich doppelt empirisch belegt. Einmal durch die Ermittler, die alle sagen, da wo das eine ist, finden wir in der Regel dann auch harte Missbrauchsabbildungen. Und zweitens durch Psychiater und Pädophilieexperten wie Michael Osterheider vom Netzwerk „Kein Täter werden“.

„Wer solche Bilder intensiv nutzt und dafür Geld ausgibt, der gilt potenziell als eine pädophil orientierte Person“, sagt der Sprecher des deutschen „Präventionsprojekts Dunkelfeld“, das sich an pädophile Männer richtet. „Verhalten ist bedürfnisorientiert“, so Osterheider. „Je intensiver jemand solche Bilder als virtuelle Vorlage nutzt, desto wahrscheinlicher ist es, dass daraus auch eine reale Tat wird.“

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