Bildungsrepublik 2018: Drei Viertel der Berliner Grundschüler erreichen Mindeststandard beim Schreiben nicht oder nur knapp. Kultusminister wollen sich weigern, Ergebnisse herauszugeben

Dieser Text ist die Langform eines Kommentars aus dem RBB-Kulturradio 

In Orthografie waren Berlins Schüler noch nie die großen Helden. Was aber jetzt über die Rechtschreibkünste der Drittklässler bekannt wird, das klingt wie von einem anderen Stern, genauer: wie aus einer Unterwelt. 74 Prozent der Grundschüler der Hauptstadt liegen beim Schreiben unter oder knapp auf dem Mindeststandard. Die Lehrerinnen und Lehrer können die Schrift dieser Kinder nicht mehr entziffern – und wenn es denn geht, dann kommen mehr Fehler als Rechtschreibung und Grammatik zum Vorschein. Das heißt: Drei Viertel der Grundschüler können nach drei Jahren nicht das, wofür man sie in die Schule geschickt hat: Schreiben. 

Ergebnisse für Rechtschreibung bei Vergleichsarbeiten „Vera3“ (dritte Klasse) im Jahr 2017

Das Ergebnis ist so etwas wie der Pisa-Schock Nummer 2. Nur dass diesmal nicht der internationale Vergleichstest den Blick in den Abgrund frei gegeben hat, sondern die so genannte Vera-Vergleichsstudie für dritte Klassen. Das Problem des Vera-Schocks für die Kinder der Hauptstadt: Es geht ja nicht um irgendein Fach und ein x-beliebiges Alter. Die Ergebnisse stammen aus jener Disziplin, die Grundfertigkeit für jedes weitere Lernen und Arbeiten ist. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler stehen an dem Punkt ihrer Lernbiografie, wo sie das Lesen und Schreiben gut lernen – oder es danach sehr sehr mühsam nacharbeiten müssen.

Keine Möglichkeit, selbständig und sicher mit Texten umzugehen

Das Maß an Fehlleistung übertrifft alle Erwartungen. Drei Viertel der Grundschüler Berlins sind nicht schreibfähig. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund sind es gar 83 Prozent, die jenen Bereich verfehlen, der ihnen die Möglichkeit gibt, selbständig mit Texten umzugehen. Beim Lesen ist es besser, ein bisschen. Da verfehlen „nur“ 51 Prozent die Zielmarke. Aber beim Lesen gibt es wenigstens eine respektable Zahl von Kindern, die in der Spitzengruppe landen – immerhin 18 Prozent, in Orthografie sind es nur vier Prozent. Die Ergebnisse haben sich übrigens, betrachtet man die Ergebnisse in einer Zeitreihe, seit 2014 verschlechtert. Damals wurde die Kategorie Rechtschreiben bei Vera eingeführt und 72 Prozent der Drittklässler liefen unter der Hürde Mindeststandard durch oder schrammten so gerade drüber. 

Vera3 Rechtschreibung im Jahr 2014

Dieses Ergebnis hat eine katastrophische Seite, eine soziale und eine politische. Wenn die elementarste aller Kulturtechniken, das Schreiben, derart auf den Hund kommt, dann darf man fragen: was soll aus den armen Tröpfen eigentlich werden? Der Verweis, den mancher Digital-Euphoriker gibt, hilft übrigens wenig: Es bringt diesen Kindern nichts, dass sie in der Welt der Smartphones nur noch wischen und tippen müssen. Wer Worte nicht zusammen bringt, der kann später keine komplexen Texte und Aufgaben sinnvoll bearbeiten. Beim Schreibenlernen geht es auch um Automatismen. Kinder müssen Routinen entwickeln, so dass sie nicht die Buchstaben mühsam zu einem Wort zusammenbasteln, sondern die Worte und dann die Narrative zu fließen beginnen. Ein paar digital Naives meinen ja, Smartphone und iPad machten eine gebundene Handschrift überflüssig. Und vielleicht haben sie sogar Recht – auf eine fatale Weise. Es könnte ja sogar einen Zusammenhang geben: Weil die Kinder von Klein auf in Bildschirme starren und auf ihnen herumwischen, fehlt ihnen der Antrieb, richtig und lesbar schreiben zu lernen. Denn Schreiben lernen, das muss nicht weh tun. Aber Buchstaben erkennen, Buchstaben schreiben und Semantiken entwickeln, das ist ein hochkomplexer Vorgang. Der auch Mühe macht. Ich kenne keine Schreiblehrerin oder Grundschulpädagogin, die das nicht bestätigen würde.

Mehr Zeit fürs Schreiben, mehr Lehrer, mehr Erzieher

Man kann den Schreib-Gau in Berlin übrigens auch erklären. Berlins Schulen sind die einer Stadt mit hohem Anteil an Transferempfängern und Zuwanderern. Das stellt das Lernen unter schwierige Bedingungen. Den Schulen und den Lehrern sollte man das nicht ankreiden. Seit 2015 hat sich die Lage noch einmal zugespitzt – weil nach Berlin besonders viele Flüchtende gekommen sind. Die Grundschulen brauchen also jede Hilfe: mehr Zeit für Lesen und Schreiben; mehr Lehrer – und auch mehr Erzieher, die das Teilen von Lerngruppen und das gezielte Fördern von Kindern möglich machen. Die Stadtregierung muss dafür endlich entschieden gegensteuern – was sie bisher aber nicht tut.

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Und genau hier liegt der Skandal des neuerlichen Schulschocks: Der Berliner Senat nämlich weigerte sich zunächst, die Zahlen zu veröffentlichen. Der Abgeordnete Joschka Langenbrinck, ein Neuköllner Sozialdemokrat, musste erst mit einer Entscheidung des Karlsruher Verfassungsgerichts winken, ehe seine Parteifreunde in der Schulverwaltung die Ergebnisse auf seine parlamentarische Anfrage hin herausrückten. Mit anderen Worten: der Senat wollte verheimlichen, dass Berlins Drittklässler nicht schreiben können. 

Solche detaillierten, auch auf Sozialräume bezogenen Teilauswertungen sind künftig nicht mehr möglich

Der Staatssekretär für Schule Mark Rackles (SPD) zeigte in seiner launigen, pomadigen, genervten Antwort auf die Anfrage von Langenbrinck, dass die Reise der Kultusminister in ganz Deutschland in diese Richtung geht: Die Bundesländer, so schrieb er, „werden sich darauf verständigen, künftig die VERA-Daten weder für einen Ländervergleich noch für die Veröffentlichung landesinterner Vergleiche zu nutzen.“

Die Kultusminister verraten den Bürgern künftig nicht mehr, wie Schülerleistungen im Vergleich ausfallen. 

Man stelle sich vor, ein Finanzminister würde den Etat seiner Regierung nicht mehr veröffentlichen. Oder ein Arbeitsminister beschließt, Arbeitslosenzahlen zu verheimlichen. Das wäre undenkbar. So jemand würde als Minister sofort entlassen werden, weil er den Bürgern die Transparenz verweigert. Aber Berlins Staatssekretär Rackles und die Kultusminister der Länder können sich erlauben zu sagen: wir verraten Euch Bürgern einfach nicht, wie Schülerleistungen im Vergleich ausfallen! Das ist der Stand der Bildungsrepublik 2018.

Ergänzung 13. Februar 2018, 15 Uhr

PS. Die Vera-Studie war ursprünglich für Viertklässler entwickelt worden. Damit die deutschen Schulen ihre Schüler – die ja nach der vierten Klasse auf verschiedene Schulen sortiert werden – noch gezielt nachschulen können, wurde der Vera-Test in die 3. Klasse verlegt. D.h. die Ergebnisse der IQB-Studie von 2017 (Bildungstrend 2016) spiegeln den Lernstand der vierten Klasse wieder. Hier die Ergebnisse: danach sind „nur“ noch gut 50 Prozent der Viertklässler unter oder knapp auf dem Mindeststandard in Berlin, Niedersachsen und Hamburg