Deutschland ist das Mutterland der Bildungsideologen. Die Realität interessiert nicht. Hauptsache das Kopfkino läuft
Das ist eine – späte – Fortsetzung eines Textes, den ich vor längerer Zeit schrieb, um Marco Maurers fein geschriebenes Bildungsbuch zu kritisieren – weil es total ideologisch und blind für die Realität ist. Den ersten Teil seht Ihr hier, mit den Punkten eins bis sechs; hier folgen Nummer 7 bis 12.
Siebtens ist Deutschland geradezu das Mutterland der Bildungsideologen. Martin Luther soll der erste gewesen sein, der so etwas wie eine Schulpflicht forderte. Schiller räsonierte über die ästhetische Erziehung und forderte erst eine Revolution in den Köpfen der Bürger, ehe die Verfassung für sie verändert wird. Fröbel revolutionierte im Kopf – und in der Realität. Wir merken uns: das real existierende Schule war das eine; das Denken und das Kritikastern über das Lernen und Bildung oft etwas ganz anderes. Daraus entstanden und entstehen immer noch Wunschbilder, falsche Vorstellungen und Selbsttäuschungen. Sprich: Deutschland ist das Land der scharfen, bis polemischen Bildungskritiken – die fast immer bisweilen ohne Bezug zur Realität auskommen. Darauf sollte Herr Maurer mal achtgeben.
Achtens ist der wichtigste Repräsentant des Realitäts-Fiktions-Problems Wilhelm von Humboldt. Ausgerechnet der am meisten zitierte aller Bildungsreformer ist nicht recht festzulegen. Er war Denker und Verwaltungsmann, auch mit seinen (Königsberger und Litauischen) Bildungsplänen tänzelte er auf der Grenzlinie von Wunsch und Wirklichkeit.
Neuntens war für Humboldt Bildung nicht nur die Schule, das Lernen und das objektive äußere, sondern ein höchst subjektiver Prozeß, ein Anspruch: Der ganze Mensch, er sollte all` seine Potenziale entwickeln – sich selbst verwirklichen mit Bildung durch Wissenschaft. Das ist auch ein utopisches Ziel, das nicht jeder erreicht. Aber für Humboldt war es das höhere und wichtige Ziel: die Urteilskraft des Menschen. Die praktischen Fähigkeiten waren Humboldt nicht so wichtig. Er spottete über die Realschule!
Elitäre Spitze, riesige Zonen von Bildungsarmut
Zehntens war Humboldt mehr Denker als praktischer und entschiedener Reformer, will sagen: In Preußen war real ein superselektives Schulsystem mit einer minikleinen elitären Spitze und riesigen Zonen von Bidungarmut vorzufinden. Humboldt baute genau darauf sein Wolkenkuckucksheim eines Lernprozesses, der allen (jedem!) offen stehen sollte. Bis zur Spitze, der Humboldt´schen Uni mit dem gelehrten Gespräch, sollten das alle durchlaufen, die das wollten und konnten. Nur realisierte Humboldt das nicht. Die Wirklichkeit blieb – aber Humboldts Idee von der umfassenden Persönlichkeitsbildungen sickerte tief in die Köpfe ein. Von diesem Schisma hat sich das Land nie erholt.
Elftens, auf Humboldt berufen sich beide Seiten: Entschiedene Reformer, die mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit fordern, genau wie erzkonservative Ständedenker. Sie fächern Humboldts vertikale stufenweise „Bildung für alle“ kurzerhand horizontal auf – und benutzen sie, um ein undemokratisches Schulsystem von Volksschulen mit 70 Schülern pro Klasse und humanistischen Gymnasien zu rechtfertigen. Das war damals so, als ein einziges mickriges Prozent eines Jahrgangs zum Abitur geführt worden war. Und es ist heute noch so, wenn mit Humboldt alles und jedes begründet wird, was es in der Bildung gibt: digitale Bildung, Elite-Gymnasium, Schule für alle, Inklusion, gesonderte Sprachlernklassen und und und.
Mit Humboldt wird heute alles und jedes begründet wird, was es in der Bildung gibt: digitale Bildung, Elite-Gymnasium, Schule für alle, Inklusion, gesonderte Sprachlernklassen und und und
Zwölftens ist Humboldt aber noch mit Abstand der vernünftigste unter den deutschen Bildungs-Eschatologen. Der schlimmste war Julius Langbehn, der 1890 ein Pamphlet verfasste, in dem er die Kunst als die höchste Bildung definierte. „Rembrandt als Erzieher“ heißt das Stück, und Langbehn erklärte Rembrandt zugleich als den deutschesten unter den künstlerischen Genies – obwohl der doch Holländer war. Aber egal, dem deutschen Bildungsphantasten ist das doch schnurz. Das Werk erhielt, so verquast es war, viele viele Auflagen. Die von Luther, Schiller und Humboldt kopfverdrehte Nation war allzu bereit in der Phase ihrer realen Veränderung – der wirtschaftlichen politische Expansion – einem Spinner wie Langbehn seine Phantastereien abzukaufen. Auf eine reale Verbesserung achteten die Leute nicht so. Sie wünschten und bedauerten zugleich die Expansion des Gymnasiums. Und, ehrlich gesagt, so viel anders ist das heute auch nicht.