Der datensichere digitale Schülerausweis kommt – und er kommt doch irgendwie nicht. KMK lässt Schüler bis 2025 warten

VON CHRISTIAN FÜLLER [erschien zuerst im Tagesspiegel Background Digitalisierung]

Er ist eines der Schlüsselprojekte der Digitalisierung der Schulen. Er wäre schon im coronabedingten Fernunterricht dringender denn je nötig gewesen. Und im Digitalpakt stehen die Mittel für ihn schon bereit: der digitale Schülerausweis. Er soll es allen 11 Millionen Schülern ermöglichen, auf online verfügbare digitale Lernressourcen zuzugreifen – ohne persönliche Daten zu hinterlassen.

Mia Musterschüler könnte sich in viele Lern-Apps einloggen

Dieser Schülerausweis wäre, wenn er denn kommt, ein Zaubermittel digitaler Bildung. Denn jeder Schüler und jede Schülerin hätte ein bundesweit gültiges Pseudonym als „Single-Sign-On“, und zwar nur eines. Mit „Leon Musterschüler“ oder „Mia Musterschülerin“ könnten sie bei Bettermarks oder Sofatutor mitmachen, sich Online-Medien bei Schulbuchverlagen downloaden oder in einer LernApp serious games spielen. Und das ohne Datenschutzprobleme zu verursachen. 

Federführende Stellen der KMK durch Corona überlastet

Allein, das bereits seit 2018 in der Kultusministerkonferenz (KMK) auf den Weg gebrachte „Vermittlungsinstitut digitale Schule“ (Vidis) wird noch dreieinhalb Jahre auf sich warten lassen – mindestens. Der Grund: die federführenden Stellen der KMK sind durch den Digitalisierungsschub infolge der Coronapandemie so überlastet, dass das Projekt nicht vorankommt. Die Digitalisierung ist schneller als ihre Planer – wieder einmal. 

Das Projekt Vermittlungsinstitut hat einen spröden Namen, ist aber intelligent. Die 16 Kultusminister der Länder wollen künftig ein zentrales virtuelles Zollhäuschen betreiben, um ihre Kleinstaaterei zu überwinden. Diese Eingangspforte ins Digitale wird Schülern aus ganz Deutschland den Zugang zu allen möglichen Bildungsressourcen frei schalten – elektronisch. Will sich ein Schüler in digitalen Lernwelten umschauen, so loggt er sich dort mit seinem Pseudonym ein. Der Verlag, das Start-up oder die Webseite fragt dann beim „Vermittlungsinstitut digitale Schule“ an: Kennt Ihr Mia Musterschülerin? Ist das der Fall, sendet Vidis ein Freigabesignal – und der Lerner kann loslegen. 

Das Hauptzollamt des freien Lernens wird in München gebaut – nur sehr langsam

Macht den Weg frei für sicheres Surfen auf Lernplattformen

Die Kultusminister haben schon einen Sitz für das neue Hauptzollamt des Lernens auserkoren, es steht in München und heißt FWU. Früher war das FWU-Institut „für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht“ für Bildungsfernsehen zuständig. Jetzt soll es als zentraler digitaler Dispatcher die Nachfrager von Bildungsangeboten mit den Anbietern verknüpfen – und die unter der Kulturhoheit stets spürbaren Ländergrenzen überwinden. „Wir stehen bereit. Mit dem Vermittlungsdienst Vidis wird von uns ein zentraler Baustein der von den Ländern angestrebten Bildungsmedieninfrastruktur bereitgestellt“, sagte Michael Frost, Geschäftsführer der FWU Tagesspiegel Background Digitalisierung. Was fehlt, ist das offizielle „Los“ der KMK.

„Der große Vorteil des Vermittlungsdienstes ist, dass die Namen der nutzenden Schüler bei den Anbietern von Bildungsinhalten nicht sichtbar werden“. Thomas Jackl

Auch in Mecklenburg-Vorpommern, das die Federführung für Vidis inne hat, ist man voll des Lobes: „Der große Vorteil des Vermittlungsdienstes ist, dass die Namen der nutzenden Schüler bei den Anbietern von Bildungsinhalten nicht sichtbar werden“, sagt Thomas Jackl, Leiter der Schulentwicklung im Ministerium. „Das Instrument muss nun entwickelt und erprobt werden. Wir wollen da immerhin die Pseudonyme von elf Millionen Schülern unfallfrei mit den Anbietern vermitteln“. 

Allerdings bekommt man eine Ahnung, wie kompliziert der digitale Fortschritt ist, wenn man im Schweriner Bildungsministerium eine Anfrage zum Vermittlungsdienst stellt. Es dauert Wochen, bis sich ein Sprecher zurück meldet. Ist es soweit, lautet die Auskunft so: „Von welchem Vermittlungsdienst sprechen Sie? Was hat die KMK damit zu tun?“ Dabei haben die Kultusminister das Projekt 2018 kennengelernt, 2019 grundsätzlich abgenickt und dann in Paragraph 3 des Digitalpakts verewigt.

„Von welchem Vermittlungsdienst sprechen Sie? Was hat die KMK damit zu tun?“ Ein Sprecher

Hört man dem hohen Schweriner Beamten Jackl zu, der das Projekt für die Kultusminister vorantreibt, wird klar welche Geduldsarbeit Föderalismus ist: In frühestens 42 Monaten ist das Zollamt Vidis für alle Schüler geöffnet. Nach 31 Monaten immerhin kann das Projekt mit Schülern und Ländern getestet werden. Ab Ende 2024 sollen dann alle Schüler ihr Pseudonym bekommen, mit dem sie sicher zu Bildungsanbietern surfen können. 3,5 Jahre nachdem die Schulen wegen Corona schließen mussten. Warum dauert das so lange? Jackl: „Das müssen 16 Länder auf die Beine stellen, das heißt, ihre verschiedenen ID-Managements mit dem Vermittlungsdienst verkoppeln.“

Ich verstehe nicht, warum das so lange dauert”, sagt hingegen Peter Ganten, Sprecher des “Bundesverbandes für digitale Souveränität”. Bereits 2018, als Ganten das Projekt der KMK vorstellte, mahnten er und viele Open-Source-Unternehmen zur Eile. Der Vermittlungsdienst werde zügig benötigt, weil die Systeme für das Identitätsmanagement der Schüler in den Ländern und bei den Schulträgern aktuell entstehen würden. Damals kursierte ein Zeitplan, das den Vermittlungsdienst bis Ende 2020 möglich gemacht hätte. Nun wird es wohl bis 2025 dauern.

Vorbild Edulog in der Schweiz startet Ende 2020

Deutschland ist nicht das einzige föderale Land, das eine zentrale Vermittlungsstelle für die digitale Bildungsmakelei plant. In der Schweiz wird sie bereits errichtet, dort heißt der Dienst “Edulog”. Alle beteiligten Anbieter von Bildungsressourcen implantieren einen Zugangsbutton “Edulog” auf ihren Seiten. Meldet sich ein Schüler an, erhält er eine Freigabe, wenn Edulog ihn als Nutzer identifiziert. „Wir wissen aber nicht, wer bei uns anklopft“, sagte ein Edulog-Mitarbeiter, „wir föderieren das digitale Bildungsangebot.“ In der Schweiz ist das Bildungs-Makeln übrigens komplizierter. Da gibt es zwar nur 1,3 Millionen Schüler, aber 26 Kantone und viele autonome Schulträger. Trotzdem will die Schweiz schon Ende dieses Jahres mit dem Probebterieb des Föderierens beginnen.

Föderieren ist ein schönes Wort. Es bedeutet nichts anderes, als Ausgang aus dem selbst verschuldeten Mittelalter der Bildungskleinstaaterei zu finden.

Föderieren ist ein schönes Wort. Es bedeutet nichts anderes, als Ausgang aus dem selbst verschuldeten Mittelalter der Bildungskleinstaaterei zu finden. Im Moment herrscht er noch. In Deutschland gibt es noch unzählige Bildungsanbieter, Clouddienste und Portale, die alle eigene Zollhäuschen betreiben. Schüler müssen bei jedem Anbieter einen anderen Passierschein vorzeigen. Das bedeutet, sie müssen sich – wie einst bei Wegelagerern – entblößen und Daten hinterlassen. Höchste Zeit, dass das Vermittlungsinstitut kommt.