Und das ist auch gut so. Aber man muss versuchen, daraus einen konstruktiven Prozess zu gestalten

Philipe Wampfler hat einen Blog-Paraden-Beitrag mit einer kurzen Sentenz enden lassen:

Digitalisierung bedeutet drei Dinge für die Schule: Sie stellt sie als Institution infrage. Sie prägt die Kultur, auf die sich Schule bezieht. Sie erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen.“

Dazu kann man zunächst nur sagen: Ja, ja, ja! Aber Digitalisierung ängstigt eben auch und vor allem das bestehende Lehrpersonal. Das muss man erklären. 

1. Digitales Lernen

Digitalisierung bedeutet fürs Lernen grundsätzlich eine große Erweiterung der Möglichkeiten. Es ist mit den technischen Vorteilen, die Zugangsgeräte, soziale Vernetzung und Plattformen bieten, auf drei Arten einfacher zu arbeiten: kollaborativ, individuell und kreativ.

Dazu muss man zwei Sätze sagen, denn auch analoges Lernen ist selbstverständlich kollaborativ, individuell und kreativ – es ist ja die Eigenart von Bildung, dass sie diese Aspekte beinhaltet.

Das digitale Lernen erweitert zunächst die Möglichkeiten der Kollaboration, etwa indem Lernende auch über weite Strecken große Entfernung oder zeitversetzt ein und das selbe Dokument oder Thema bearbeiten können – und zwar fokussiert und aufeinander bezogen. Die Olympia-Lerngruppen des Magdeburger Sportgymnasiums sind seit langem ein Beispiel dafür. 

Die digitalen Tools erweitern spontan auch die Individualität des Lernens, weil sie es schnell möglich machen, den Beitrag der Lernenden an einem Gruppenprozess sichtbar werden zu lassen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen – etwa das Olympia-Songprojekt oder Sebastian Schmidts flipped classroom oder René Schepplers „Liebesgedicht“-Session mit Jugendlichen beim LernLabBerlin. Die Pubertierenden „sagen“ zu einer bestimmten, sehr persönlichen Zeile eines Liebesgedichts schneller und einfacher etwas Privates und Relevantes, wenn sie es auf eine gemeinsame Plattform „schreiben“ können, als wenn sie es im Klassenraum vor allen Mitschülern äußern. Das heißt aber nicht, dass man diese persönlichen Aspekte nicht auch analog sichtbar machen könnte.

Die digitalen Tools erweitern desgleichen die spontanen kreativen Möglichkeiten. Die Geräte machen es möglich, sehr verschiedene Bilder, Materialien und auch Bearbeitungswerkzeuge zur Verfügung zu stellen. Zum Beispiel ist Bildgenerierung, Bearbeitung und Präsentation aus der Situation heraus einfacher, weil ein Handy heute eben eine Kamera, eine Photo-Shop-Maschine und ein Bildverlag in einem ist. Allerdings: Dies hat auch mit der Beschränktheit normaler Lernräume (Schulen) zu tun. Lernateliers, die ein große Menge an analogen Materialien, Bild-Dokumenten, auch Werkzeugen etc. bereit stellen, stehen dem nicht nach. Ich meine z.B. die Lernwerkstatt der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund.

2. Digitales und Schule

Digitalisierung bedeutet für Schule in ihrem alten Format eines gemeinsamen Klassenzimmers mit feststehenden Lerninhalten und einer grundsätzlichen „top down“-Strategie des Beschulens eine Überforderung. Lisa Rosa hat das mal in einer Matrix gut aufgezeigt. 

Lisa Rosas Matrxi des alten und neuen Lernens
Lisa Rosas Matrix des alten und neuen Lernens

Lisa schreibt also der „Alten Schule“ und ihrer Art des Unterrichtens ein lineares lehrerzentriertes Vermittlungsformat zu (top down), das mit „objektiven“ Lerngegenständen arbeitet (Lehrplan) und Allgemeingültigkeit anstrebt.

Hingegen sei vernetztes digitales Lernen geprägt von einer Lernerzentrierung, bei der sich die Lernenden Material und Themen selbst aussuchen und ihre Deutung aushandeln, um daraus einen persönlichen Sinn zu ziehen.

Hier sieht man zweierlei.

Zum einen ist Lisas Portraitierung der alten Schule eine Karikatur, wenn nicht ein Zerrbild. Nicht nur reformorientierte Schulen, sondern alle Schulen haben ihr preußisch Max Webersches Linearformat aus dem 19. Jahrhundert mit den Konstanten Klassenzimmer, Lehrer, Lehrplan, Rohrstock längst abgelegt, mindestens aber abgeschwächt minimiert.

Zum anderen erkennt man bei diesem genaueren Hinsehen, dass „Unterrichten“ und „digitales Lernen“ im Grunde überhaupt nicht zusammen passen.

  • Das bedeutet: Lernen2.0 ist eben nicht alte Schule mit Internetanschluss und ein paar Tablets drin. Lernen2.0 ist etwas ganz anderes.
  • So wie Musikindustrie2.0 eben nicht Musiklabels und Plattenläden alt plus ein bisschen Web2.0 sind. Plattenläden sind tot. Viele Labels auch.
  • Die Zeitungen erleben gerade den selben Prozess. Digitaler Journalismus ist eben nicht Print mit einer online-Ausgabe, sondern etwas ganz anderes.

Deswegen ist das, was Philipe Wampfler mal eben so in drei Zeilen für die digitale Schule notiert, kein Apercu, sondern eben eine Revolution, ein Abgesang: Der online-Tsunami wird das Klassenzimmer, die eingeübten Formate des Lernens, die Lehrerbildung und, ja, die Zertifikate mit sich reißen, wahrscheinlich sogar die Schulgebäude.

Das bedeutet, wenn ich diese theoretische Überlegung mal für die Realität von Schule praktisch mache, dann gilt etwas polemisch formuliert:

„Stell Dir vor, es gibt Tablets in der Klasse – und der Lehrer weiß nicht, was ein ‚App‘ ist, die Kids hängen in ihren BYODevices bei WhatsApp rum und das WLan funzt nicht. Der unzuständige Bundestag beschließt derweil Gamification und Hochgeschwindigkeitsnetz. Er übermittelt seinen `Entschließungsantrag` danach an – die Landschildkröte Kultusministerkonferenz. Das ist ein Konsensverein von 16 zerstrittenen, zum Teil verarmten Ländern, die seit fünf Jahren unverdrossen Kreidetafeln durch Smartboards ersetzen, die aber im Schulalltag keiner bedienen kann.“

3. Der gespaltene Diskurs über das digitale Lernen

Auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit von „Schule“ und digitalem Lernen reagieren nun zwei diskursive Sphären, und zwar jeweils ganz anders:

Die einen nennen die digitale Revolutionierung beschönigend „Leitmedienwechsel“ oder „EduShift“. Sie imaginieren digitale Wolkenkuckucksheime einer glücklichen virtuellen Schule, in der alle alles erreichen können. Sie machen halt ihr DigiBlaBla – wie demnächst bei der SPD im Bundestag oder wie es Jörg Dräger in seinem Buch macht. Man spricht in einer Sprache, die kaum einer versteht, man lobt und schwärmt grundsätzlich nur – und man wischt kritische Einwände als Trollerei oder fiesen Zensurversuch beiseite. (Bei der SPD findet sich nächste Woche kein einziges kritisches Thema, geschweige denn ein kritischer Geist. Es sind dort ausschließlich Interessenvertreter und Agenten des digitalen Lernens vertreten.) Beispiele für dieses Verhalten gibt es auch aktuell, Siehe hier oder hier und hier

Analoge Trottel und digitale Euphoriker

Die anderen sagen: das digitale Lernen ist inkompatibel mit Lehrplan- und Berechtigungsschule, es wird die Lehranstalten nicht reformieren, sondern zerstören.

Oder, erneut polemisch: Die einen nennen die anderen analoge Trottel, die zu dumm sind Tablets und Apps etc zu begreifen.

Die anderen nennen die einen dafür digitale Euphoriker, die verantwortungslos sind, weil sie mit ihrem schnellen WLan, den Tablets und Titanpads Sprengladungen an der alten Schule anbringen. Die sind zwar hübsch anzusehen – aber sie werden Schule in die Luft jagen: Finanziell wie didaktisch.

Aber es hilft alles nichts. Die einen und die anderen sollten versuchen, den Zerstörungsprozess in einen Schumpeterschen Prozess des kreativen Übergangs zu gestalten. Das heißt, sofort anzufangen, den Prozess aber zu strecken und für die Akteure versteh- und operationalisierbar zu machen.

SPD im DagiBee-Modus: Freu mich, supi, knutschknutsch

Und vor allem eine andere Sprache zu sprechen und das elende, kritiklose DigiBlaBla zu beenden. Ich möchte nicht mit erwachsenen Männern wie Herrn Rüdiger Fries im „DagiBee“-Modus sprechen: Freu mich, alles toll, so cute, liebe Dich! Knutsch Knutsch. –

Was soll das? Es gibt nämlich noch andere andere. Das ist der „doofe Rest“, der weder diese Babysprache versteht noch, was das mit dem Digitalkrams eigentlich soll. Leute sind das, die das „Tablet“ als Gemüseschneidbrett oder Tablett für Sektgläser benutzen. Sie merken immerhin, dass der Tsunami in Form von 90prozentiger Handy- und Flatrate-Ausstattung der Schüler bereits seine erste kleine Schockwelle in die Schule entsandt hat. Entsprechend ängstlich reagiert Schule – mit Handyverboten und Störsendern.

800.000 Lehrer als Spaßbremsen

Aber, Hand aufs Herz, viele Akteure in und außerhalb von Schule können mit „Internet“-Denken noch nicht ganz so viel anfangen wie mancher Lehrerfortbildner und EduCamper. Denn 800.000 Lehrer sind in 33.000 Schulen damit befasst, knapp 8,5 Millionen Schüler mit Abschüssen zu versehen. Abschlüsse oder Berechtigungen, mit denen sie eine Berufsausbildung beginnen oder ein Studium aufnehmen können. Sie sind, sorry, ein ziemlich bedeutendes Fundament von Schule. Diese Abnehmerinstitutionen sind bereits vollkommen überfordert mit einer quantitativen Verschiebung der Berechtigungen auf den Stand von „60-Prozent-machen-Abi“ zurande zu kommen. Die Republik steht Kopf und plärrt „Akademisierungswahnsinn“. Da darf man doch die Frage stellen, was wohl ganz real passieren wird, wenn plötzlich virtuelle Abschlüsse wie Portfolios oder Gamification-“Diplome“ bei Handwerksmeistern, Industrie und Hochschulen auf den Tisch gelegt werden? Das heißt, man kann das „tl;dr“ von Philipe auch umformulieren:

Digitalisierung bedeutet drei Dinge für die Schule: Sie überfordert die Institution Schule und wird sie auf kurz oder lang hinwegreißen. Sie prägt die Kultur, auf die sich Schule bezieht – und mit der Schule aus vielen nachvollziehbaren Gründen nichts anfangen kann. Sie erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen – und verängstigt und verschreckt sie damit nachhaltig.“